erstellt mit easyCMS
Titel2420

Stahlarbeiter wollen Verfassung anwenden  (Ulrich Sander)

Die Entwicklung bei Thyssenkrupp ist dramatisch. In kurzer Zeit wurden 3600 von rund 30.000 Arbeitsplätzen vernichtet, jetzt kündigte der Konzern 5000 Entlassungen an. Insgesamt sollen 11.000 Stellen gestrichen werden. Das britische Unternehmen Liberty Steel würde gern die Stahlsparte der Thyssenkrupp AG übernehmen. Doch dagegen regt sich Widerstand – mit nicht alltäglichen Forderungen: Die IG Metall plädiert für die Beteiligung des Staates an der Stahlindustrie als Schlüsselindustrie. Und auch die SPD im nordrhein-westfälischen Landtag deutet in der Novemberausgabe der Zeitschrift Landtag intern etwas in dieser Richtung an.

 

Fast vergessene Zitate aus der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen werden als Argumente genutzt; dort wurden die Lehren aus Krieg und Faschismus gezogen. In Artikel 27 heißt es: »Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden.« Schlüsselindustrien haben diese besondere Bedeutung. Auf der Grundlage des Artikels könnten Betriebe wie Thyssenkrupp oder Rheinmetall vergesellschaftet und damit ihr mörderisches Wirken, zum Beispiel als Rüstungsbetrieb, aber auch als Klimakiller, beendet werden.

 

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), Landesvereinigung Nordrhein-Westfalen, schrieb der IG Metall: »Eure Forderung nach ›Staatseinstieg‹ zur Rettung der Standorte der Thyssenkrupp AG findet unsere volle Unterstützung.« Verwiesen wird auch auf die antifaschistische VVN-BdA-Programmatik: »Gegen Erwerbslosigkeit, kommunale Verschuldung, Bildungsnotstand und Begünstigung des Bankkapitals muss die Landesverfassung Richtschnur sein.« In der Landesverfassung von 1950, verabschiedet in einer Volksabstimmung, heißt es: »Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen. Der Schutz seiner Arbeitskraft hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes. Jedermann hat ein Recht auf Arbeit. Der Lohn muss der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familie decken. Für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung besteht Anspruch auf gleichen Lohn, das gilt auch für Frauen und Jugendliche.« (Artikel 24)

 

Stimmen aus der IG Metall besagen: »Wer einen Staatseinstieg ausschließt, handelt unverantwortlich.« (Jürgen Kerner, Aufsichtsratsmitglied für die IG Metall bei Thyssenkrupp). Kirstin Zeidler, Dortmunder Betriebsratsvorsitzende des Konzerns, erklärte: »Wir brauchen den Einstieg des Staates für die Umstellung auf eine umweltfreundliche, CO2-neutrale Stahlproduktion.«

 

Die Umweltthematik ist relevant, denn sechs Prozent der CO2-Produktion in Deutschland gehen auf die Stahlproduktion zurück. Deshalb solle eine Wasserstoff-Produktion aufgebaut werden, sagt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Doch die ist noch nicht anwendbar und würde die CO2-Produktion vergrößern, denn die ist erheblich bei der Schaffung von Wasserstoff. Notwendig ist eine »grüne« Stahlproduktion, bei der weniger Kohle und mehr erneuerbare Energie eingesetzt wird. Dies wird auch von Umweltbewegungen wie Fridays for Future gefordert.

 

Lange gehört die VVN-BdA zu den wenigen politischen Akteuren, die sich auf die verfassungsmäßigen Grundlagen in der tagespolitischen Auseinandersetzung beriefen. Im Jahr 2000 gab es einen bemerkenswerten Briefwechsel in Sachen Landesverfassung. Als die nordrhein-westfälische VVN-BdA die Landesregierung aufforderte, die Landesverfassung gegen die IG-Farben-Nachfolger AG ins Spiel zu bringen, da ließ sie der grüne Minister Michael Vesper wissen: Der Absatz des Artikels, der der Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht gewidmet ist, habe »nur noch deklamatorische Bedeutung«, denn diese Verhütung sei bundesgesetzlich geregelt. Dies, obwohl die Landesverfassung erst 1950 in einer Volksabstimmung beschlossen wurde, ein Jahr nach der Schaffung des Grundgesetzes. Und auch das Grundgesetz sieht die Möglichkeit der »Sozialisierung« (Überschrift des Artikels 15) vor: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz … in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.«

 

Nun erinnern die Gewerkschaften an die Landesverfassung und das Grundgesetz – und dies nicht nur aus »deklamatorischen« Gründen.

 

Siehe auch »Programmatische Eckpunkte« der VVN-BdA NRW: https://nrw-archiv.vvn-bda.de/bilder/progr_eckpunkte_2017.pdf.