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Allerlei Gedenken an Tucholsky  (Kurt Pätzold)

Das Gedenken an Kurt Tucholsky anläßlich seines 75. Todestages begann lange vor dem 21. Dezember 2010. Ende November nahm die Zahl der Veranstaltungen zu. Sie fanden an so unterschiedlichen Plätzen statt wie dem Kleinen Theater in Minden, einem Weinhaus in Lüdinghausen, dem Lesesaal der Hohen Kemenate zu Karlstadt, dem Alten Rathaus zu Bebra, dem Dachstudio der Stadtbibliothek zu Dinslaken, der norwegischen Holzkirche auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf bei Berlin und vielen anderen Orten. Texte verschiedenster Genres wurden zu Gehör gebracht, gelesen, rezitiert, gesungen. In Berlin eröffnete eine Buchhandlung mit Tucholskys Namen. Unter dem Titel »Tucholsky auf Reisen« erschien ein Hörbuch, in dem man ihn durch Deutschland und nach Frankreich, England und Schweden begleiten kann. In Rheinsberg wird eine Ausstellung »Else Weil – Fragmente eines deutsch-jüdischen Lebensweges« gezeigt (s. Ossietzky 24/10, S. 930); sie stellt die 1942 in Auschwitz ermordete erste Ehefrau Tucholskys vor, die Claire Pimbusch aus »Rheinsberg – Bilderbuch für Verliebte«. In Dinslaken trug das von einer Künstlerin vorgetragene Programm übrigens das Motto »Tucholsky und seine Frauen«.

An welchen Tucholsky wurde erinnert? Erste Auskunft läßt sich gewinnen, wenn die Kennzeichnungen durchmustert werden, die ihm galten: »dieser berühmte und oft verkannte Schriftsteller, Kabarettist und Journalist« »genialer Autor«, »witziger Visionär«, »der entfremdete, einsame Entwurzelte« (Mainpost), der »Vielschreiber« (Der Westen), der »geniale Conférencier der Epoche« (Marcel Reich-Ranicki), »scharfsichtiger Geist« und »von Widersprüchen zerrissener Dichter« (Passauer Neue Presse), »humorvoll-melancholischer Pessimist« (Mindener Tageblatt), »einer der meist gelesenen politisch-satirischen Autoren«, »Humorist«, einer der »erfolgreichsten Unterhaltungskünstler in der Geschichte des deutschen Journalismus« (Die Kleine Zeitung, Graz).

Dieses in der Steiermark erscheinende Blatt informierte seine Leser darüber, daß sich dieser Tucholsky in »seiner Heimat herzlich unbeliebt« gemacht habe, und zwar wegen seiner »Attacken gegen Spießermuff, Dummheit und Obrigkeitsdenken, gegen Speichellecker und Mitläufer, gegen Justizwillkür und Nationalismus« – besonders bei den Nazis, die seine Bücher verbrannten, als sie dazu die Macht erhalten hatten. Diese Unbeliebtheit sei vor allem auch seinem Satz »Soldaten sind Mörder« zuzuschreiben. Das ist, verglichen mit den Informationen, die in deutschen Regionalzeitungen über Tucholskys politischen Standort gegeben wurden, nahezu avantgardistisch.

Deren Berichterstatter sind zumeist erst beim Anhören der Gedichte und Lieder dahintergekommen und sodann darüber erschrocken, daß die Texte »auf beinahe beängstigende Weise aktuell« seien und sich denken ließe, »der Dichter lebte unter uns und beschriebe die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse«. Auch der Reporter, der im hessischen Bebra zuhörte, fand die Texte »heute noch verblüffend aktuell«; ihr Vortrag habe mit fröhlicher Stimmung gar »Gänsehaut und tiefe (da ist sie endlich wieder, die Allerweltsvokabel) Betroffenheit« hervorgerufen.

Das Wort »verblüffend« sagt etwas über die Vorkenntnisse der Schreiber, von denen sich jedoch keiner auf die empfundene Gegenwartsnähe des Gehörten weiter einlassen wollte. Mehr noch: Sie verstehen es, diese Nähe sogleich in eine beträchtliche Entfernung umzuschreiben. Eine Kostbarkeit liefert der betroffene und verblüffte Zuhörer, der aus dem Alten Rathaus in Bebra berichtete, Tucholsky habe »gegen die damals lahme Sozialdemokratie« gewütet. Da scheint mehr als eine Wissenslücke nur in deutscher Literaturgeschichte auf. Und, aufs Ganze gesehen, stellt sich wieder die von Peter Ensikat vor Jahren formulierte Frage »Von welchem Tucholsky reden wir«, die den Zusatz provoziert » ... und von welchem lieber nicht«.

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Die Lokalredaktion der Frankfurter Neuen Presse bestellte sich einen Bericht von einer Veranstaltung, zu der der Ortsverein der Sozialdemokraten im hessischen Karben eingeladen hatte. Angekündigt war ein »literarisches Dinner mit Gänsebraten und Tucholsky«. Da konnte Mut zur Selbstkritik im Spiele sein, nachdem die Partei bei der Kommunalwahl 2006 von der christdemokratischen Konkurrenz überflügelt worden war und inzwischen auch den Bürgermeisterposten verloren hatte. Sollte die Beratung mit Tucholsky da den Auftakt für Ein- oder gar Umkehr bilden?

Drei rührige Mitglieder des Ortsvereins brachten den Versammelten den Mann zunächst referierend etwas nahe. Die Vorsitzende plazierte ihn parteipolitisch und historisch so: »Lange Zeit in der SPD engagiert, vertritt er Werte, die auch wir unsere nennen.« Ganz korrekt war das nicht. Die »lange Zeit« endete 1914. Tucholsky, gegen das sozialdemokratische Ja zum Kriege protestierend, bevorzugte dann die Nähe zur neu gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Als nach nur etwa fünf Jahren ihrer Existenz ein Teil ihrer Mitglieder sich den Kommunisten zuwandte, ein anderer zur SPD zurückkehrte, wählte Tucholsky das Dritte. Er blieb ohne Mitgliedsbuch einer Arbeiterpartei.

Ein Vorstandsmitglied ergänzte: »Tucholsky hatte so seine Probleme mit der SPD« und sei später zu ihr auf Distanz gegangen. Das war auch sehr rücksichtsvoll formuliert. Immerhin wurde den Genossen gesagt, daß sich Tucholsky gegen Ende der zwanziger Jahre stärker der KPD angenähert habe, ohne deren Mitglied zu sein. Er habe sich einen »unabhängigen Standpunkt bewahrt«.

Dann wurden Werke Tucholkys, das wäre so recht auch nach des Dichters Geschmack gewesen, »im Wechsel mit Salat, Suppe und Gänsebraten serviert«, und das gegen Entrichtung von 22 Euro (ohne Getränke). Besonders zufrieden zeigte sich die Vorsitzende, hatte sie doch mit ihrem Vorstand den Genossen die Möglichkeit gegeben »auch einmal ein anderes Miteinander zu leben«. Und nicht nur ihnen, sondern auch parteilosen Freunden der Geflügelkost.

Über den literarischen Programmteil ließ sich in dem Zeitungsbericht übrigens nichts erfahren. War die Auswahl auf Tucholskys Gedicht von 1926 gefallen, das mit der Zeile »In mein Verein bin ich hineingetreten« beginnt? Oder hatte der Vorstand die »Feldfrüchte« bevorzugt, mit dem beziehungsvollen Bild vom Radieschen, das »außen rot und innen weiß« ist? Unwahrscheinlich, daß den Genossen jenes »Schnipsel« vorgetragen wurde, das Tucholsky am 19. Juli 1932 in der Weltbühne veröffentlichen ließ: »Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas – vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.« Oder wurde jener Bericht des selbständigen Gemüsehändlers Anton zu Gehör gebracht, der, zufällig in eine SPD-Wahlversammlung geraten, seinen dort schlafenden Nachbarn fragt, warum er diese Partei »wählen tut«?

Von Kurt Pätzold ist aus Anlaß des 75. Todestages Kurt Tucholskys in der edition Bodoni erschienen: »Kurt Tucholsky. Mit Lateinisch bekehrt man keine Indianer«, 64 Seiten, 9 €