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Titel0112

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Theater für Kinder macht meist Vergnügen. Wenn man es gut und richtig macht, sind Kinder die besten Zuschauer, die es gibt – am liebsten mitspielende Zuschauer.

Auch im Theater an der Parkaue, das früher Theater der Freundschaft hieß. Wer mag da wohl etwas gegen Freundschaft gehabt haben? Jetzt führten sie eine Produktion »Taugenichts« auf, und der Titel kommt von der schönen Eichendorff-Geschichte »Aus dem Leben eines Taugenichts«. Als ich von einer Romantik-Saison an der Parkaue hörte, gruselte mir. Zu viel Schauerliches bietet diese Richtung der deutschen (nicht der europäischen) Literatur. Aber dieser Eichendorff ist freudig, auch von Albrecht Hirche so inszeniert, besetzt mit Denis Pöpping und Paul Maresch. Aber was sollte der Hermaphrodit? Das nenne ich Buhlen um billigen Beifall.

Außerdem griff man auf den anderen großen romantischen Erzähler zurück, auf E.T.A. Hoffmann, diesen Vorwegnehmer des skurrilen antikapitalistischen Literaturkurses. Dessen »Goldener Topf« wurde von Sascha Bunge recht bemerkenswert zu Theater gemacht, ihm folgte Hoffmanns »Sandmann«, szenisch zurechtgestutzt von Carlos Manuel.

Daß man das febrile Romantisieren unterließ – gut so! Doch das hitzige Tempo, das Gejagtsein, die gewollte Brillanz um jeden Preis – das führte zur Oberflächlichkeit – so kalt wie ein Nordwind von einer mit Müll angereicherten Sanddüne. Keine Anmut Eichendorffs, kein Witz Hoffmanns mehr! Schade!

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Ein Blick zu Grips, das nach mehr als 40 Leitungsjahren des Volker Ludwig – hier kann man mal wirklich von einer Ära sprechen – an Stefan Fischer-Fels übergeben worden ist. Tradition und Fortschritt hat er versprochen, und das heißt Gegenwart aus der Vergangenheit verstanden plus Blick in die Zukunft – Jugend will und soll hier etwas mitnehmen. Grips soll Autorenbühne bleiben – gut so, wenn das Bildlich-Szenische nicht vergessen wird. Ludwig selber steuerte »Pünktchen triff Anton« bei (nach Erich Kästner mit Musik von Wolfgang Böhmer). Und noch einmal Ludwig: »Die fabelhaften Millibillies«, eine szenische Collage von Songs aus der Werkstatt Ludwig/Heymann über 40 Jahre – ein wenig wehmütig.

An Themen haben die Gripser keinen Mangel, sie liegen auf der Straße, zum Beispiel die allmählich lebensgefährlich werdende Mieten-Hausse. Eine sozialbewußte Öffentlichkeit muß gegen die Immobilienspekulation dringend vorgehen: Freilich sind Themen noch keine Stoffe, bieten erst recht keine Fabel. Leider muß ich das auch über »Ein singender Umzug« von Franziska Steiof und Ensemble sagen. Das war leider altes Theater: Auch wenn sich Frauen in dieser Textcollage die Brustwarzen befummeln und dabei kaum sinnvolle Sätze herausbringen – moderner wird da nichts. Da ist Wichtiges verschenkt worden. Wenn man kein ordentliches Stück fertigbringt, wäre ein purer Agitationsabend noch besser gewesen. Bei Heine kann man das – wie meist bei ihm – in kürzester Form lesen: »Die guten Leute und schlechten Musikanten!« Vom Dichter in Umdrehung zitierter Satz aus Clemens Brentano »Ponce de Leon« (»Ideen. Das Buch Le Grand«, Kap. 13).

Als außerordentlich empfand ich die Bearbeitung von Hermann Hesses Roman »Demian« in der Inszenierung von Daniela Löffner. Damit gab die neue Leitung die konzeptionelle Linie vor: den Widerspruch zwischen Ausgeschlossensein und Integration, Dazugehören. In dieser Richtung soll es weitergehen – und weiterhin auf Literatur-Ebene – Grips-gewohnt! Wir berichten darüber.
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In der Vagantenbühne an der Kantstraße in Charlottenburg gab es »Tingel-Tangel« von Friedrich Hollaender (1896–1976). Fünf Könner – Boris Freytag, Katharina Höft, Katharina Koch, Ben Zimmermann und der Leiter des Ensembles, James Edward Lyons, stellen Berliner dar und damit auf eigene Weise Berlin: zunächst einiges von Halb- und Unterwelt mit Absinth-Flasche, von üblen Banken-Machenschaften, sozialen Problemen wie Erwerbslosigkeit, Politgangstertum und Nationalismen bis zum Rand des Faschismus: »An allem sind die Juden schuld«, gesungen nach des Juden Bizets »Habanera« aus der »Carmen« – und die kalten Schauer laufen über den Rücken. Und schon kamen die Exilanten mit ihren Koffern – Hollaender wußte, wovon und worüber er dachte und schrieb, und das Ensemble auch. Auch des Autors damaligen Pianisten Ferdinand von Seebach wird gedacht – am Klavier. Das war politisches Kabarett, ja politisches Theater!
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Ich spaziere weiter im Westen, ins einst berühmte Schloßpark-Theater, Dependance beziehungsweise Kammerspiele des im Zuge des allmählichen Kulturabbaus längst geschlossenen Schiller-Theaters, in dem zur Zeit die zu sanierende Staatsoper im Exil ist: Repräsentanz für die Oberschicht soll nämlich bleiben – bei solchen Preisen bleiben die andern von unten, ja fast die Mitte sowieso draußen. Was tut sich nun im Steglitzer Schloßpark? Man spielte ein dürftiges US-amerikanisches Stück von Jeff Baron »Besuch bei Mr. Green« (1996). Es geht um ein jüdisches Thema, und es spielt ein großer alter Schauspieler, Michael Degen; inszeniert haben Philipp Tiedemann und Stephan von Wedel, Musik von Jörg Gollasch, aufgeführt anläßlich der Jüdischen Kulturtage. Die kleine, aber wichtige Geschichte: Mr. Ross hat Mr. Green in einen Verkehrsunfall verwickelt und muß ihn nach höchst richterlichem Urteil ein halbes Jahr versorgen. Es gibt Gespräche, es kommt viel heraus, beide sind im Grunde nicht koscher. Der Junge ist schwul, was sich der Alte nicht recht vorstellen kann: Ein Jude schwul?!? Aber der Alte ist auch kein reiner Humanist, eher mit Vorurteilen behaftet: Er verstieß seine Tochter, weil sie einen Nichtjuden geheiratet hatte.

Das ist eigentlich ein konfliktiver Stoff, herausgekommen ist eher ein Schwank. Daß es ein halbwegs bemerkenswerter Theaterabend geworden ist, der auch eine Botschaft über die Rampe bringt, ist der Darstellungskunst, den Schauspielern zu verdanken, Steffen Schröder und vor allem Michael Degen. So wichtig dramatische Texte sind – richtiges Theater machen Schauspieler. Hier agierte ein wirklich großer.

Noch einmal zog es mich in dieses Haus, zu »Alexandra« von Michael Kunze. Ich wurde auf diese Frau, nun Titelheldin, die eigentlich Doris hieß, bevor sie sich den Künstlernamen Alexandra gab, vor mehr als 40 Jahren aufmerksam, als ich das Gedicht »Mein Freund, der Baum« zum ersten Mal in der Wochenzeitung Sonntag las. Es war eines ihrer Lieder, doch kannte ich noch keine Melodie. Alexandra hat ein kurzes Leben in allen denkbaren politischen Konstellationen gelebt, nicht als Politikerin, aber als Künstlerin und vor allem als Frau und ging vermutlich 1969 freiwillig in den Tod, offiziell ein Autounfall. Sie hatte eine Anzahl von Liedern geschrieben, komponiert und gesungen – ein kleines Erbe heutzutage. Das Lied vom Baum wurde eine Öko-Hymne. Nun erinnert ein mäßiges Stück an diese Künstlerin. Ihre Stimme kann man auf wenigen Aufnahmen hören – der Klang einer Diva des Chansons. Das wollte sie werden, eine Joan Baez oder Juliette Gréco. Die Manager brauchten aber eine Schlagersängerin, was sie nicht wollte. Nun gab die Schauspielerin Jasmin Wagner ihr ihre ebenfalls kräftig-rauchige und resonanzfähige Stimme, und siehe, besser höre – sie paßte und war gut. Wagners Leben hat gewisse Ähnlichkeit – auch erst eine Schlagersängerin und inzwischen – nun 31 Jahr alt – Schauspielerin und Songsängerin. Sie hatte Wirkung, trotz mäßiger Regie (Adelheid Müther) und schäbiger Ausstattung. Hier hätte gute Licht- und Tonregie genügt. Auf die Laufbahn dieser Frau mit fast französischem Charme und Brechtscher Songkraft nach Art der Gisela May bin ich gespannt-neugierig.
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Meine Gänge durch die Prärie der Gruppen in Richtung der Theaterfestungen streifen manchmal das Tanzfest. So sei kurz darauf verwiesen, daß es im Sommer wieder das Festival »Tanz im August« gab, an dem 22 Produktionen aus 13 Ländern gezeigt worden sind, unter anderen mit Könnern wie Lucinda Childs, Guilherme Botelho, Emanuel Gat, Susanne Linke und Renate Graziadei. Besonders genannt sei Christoph Winkler mit seiner Trilogie »Böse Körper«. Und zwar deshalb, weil dieser Werkfolge auch Literatur zugrunde liegt, etwa Lautréamont, und ein schwarzer Tänzer vom Range eines U Gin Boateng diese Vorgabe interpretiert – Bilder des Bösen. Und auch Anne Teresa De Keersmaeker war wieder da, gleich mit drei Produktionen: »Rosa danst Rosas!, »Elena’s Arias« und »Bartok-Mikrokosmos«. Und ein letztes Mal die »Merce-Cunningham Dance Company« nach seinem Tod, bevor sie nach seinem testamentarischen Willen aufgelöst wird.
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Genug von den vereinzelten Nebengängen des Sommers! Zurück in die aktuelle Saison zu »Lorca. Bernarda. Fragen«. So nennt Bearbeiter, Regisseur und Ausstatter Peter Wittig seine Inszenierung von »Bernarda Albas Haus« durch das Simon Dach Projekttheater Wittig & Steinhäuser GbR im Probenraum der Berliner Schauspielschule für Theater und Film »Reduta«, einer polnischen Bühne gleichen Namens mit eigener Methode und der Tradition verpflichtet. Der Spielraum ist im theaterforum kreuzberg. »Das Theater, das immer überdauert hat, ist das der Dichter ... Und je größer der Dichter, desto besser war das Theater.« So Garcia Lorca (1898–1935) im Jahre 1935, ein Jahr vor Beginn des konterrevolutionären Aufstandes durch Franco und seiner Ermordung durch dessen falangistische Täter. Den ästhetisch so wahren Satz des Dichters sollten sich Regisseure merken. Wittig hat ihn zitiert, doch wohl auch nicht ganz verinnerlicht. Von Aischylos über Shakespeare und auch die so wichtigen Spanier bis Schiller, Puschkin, Brecht u.a. hat er gestimmt und stimmt er vor allem dann, wenn Regisseure ihn in Ehrfurcht und mit Sorgfalt an theaterästhetisch eigenen Mitteln an- und aufnehmen. »Bernarda« ist ein nahezu fehlerloses und insofern klassisches Stück. Der Originaltitel hat den Untertitel »Frauentragödie in spanischen Dörfern« – er ist folgerichtig weggelassen, als der Regisseur Frauentragödien überhaupt spielen ließ, mit manchmal etwas komischen Zügen.

Er bearbeitete, indem er auf acht Personen reduzierte und Texte hinzufügte, von Lorca selbst sowie von Rafael Alberti und Pablo Neruda, also auf Augenhöhe. Das Ganze blieb halbwegs stimmig, nötig war es nicht. Acht engagierte Schauspielerinnen füllten den Innenraum mit rhythmisch diszipliniertem Spiel und konzentrierten szenischen Abläufen – das Kollektiv war gefragt und formierte sich zwischen Fragen (Muß es so sein, dieses Leben?) und Anklagen – gegen Faschismus und Krieg. Wir Zuschauer saßen auf den aufsteigenden Seitenbänken. Eine Figur (Maria Josefa) entwickelt sich politisch aktiv nach links. Das abweichend vom Stücktext und also neu zu zeigen, gelang Gina Pietsch. Allzu viel Raum zu individuellem Gestalten konnte es im Ganzen nicht geben, daher seien nur noch Beate Maria Schulz als Bernarda und Sarah Graf als Adela genannt. Wir sahen insgesamt politisches Theater, also notwendiges Theater. Schade, daß solche Arbeit nur so kurz gezeigt und dadurch von so wenigen Zeitgenossen gesehen werden kann! Ein Glück, daß dieses Stück mehrfach verfilmt worden ist und Aribert Reimann eine Oper komponiert hat.