erstellt mit easyCMS
Titel0112

Bemerkungen

Et in terra?
Jetzt haben wir es wieder hinter uns – in unzähligen musikalischen und rhetorischen Varianten hat das weihnachtliche »Gloria« seinen Dienst getan, mitsamt dem Versprechen »... et in terra pax hominibus bonae voluntatis«. Zur »Leitkultur« gehört diese Sentenz, in der »westlichen Wertegemeinschaft«, von der Ostgrenze Polens bis zur Westküste der USA. Friede auf Erden? Ein trügerisches Bild, derzeit vor allem in jener Weltregion, der die Erzählung christlichen Glaubens entstammt. Unfriede, Krieg, Gewalt, Zerstörung, Androhung des nächsten Krieges – von Palästina über Syrien und den Irak bis zum Iran, flankiert nach Westen und nach Osten, von Libyen bis nach Pakistan. Es handelt sich um Länder, in denen eine andere als die christliche Religion vorherrscht. Aber »christliche« Staaten oder solche, die sich auf christliche Tradition gern berufen, haben seit Kolonialzeiten das Schicksal der Menschen in Nahost und Nordafrika bestimmt und sind auch heute die wirklichen Herren der Lage dort. Sie stützen sich dabei auf die Überlegenheit der Waffen. Niemals haben sie sich ernsthaft auf den Versuch friedlicher Konfliktlösungen eingelassen. Und des Profits wegen stopfen sie die Länder des Unfriedens voll mit Rüstungsprodukten. Offenbar hat die westlich-christliche Politik seit jeher und auch in der Gegenwart das »hominibus bonae voluntatis« eigenwillig ausgelegt, so nämlich: Am guten Willen fehlt es eben all denjenigen Menschen, die sich den Interessen der kolonialen oder neokolonialen Machtinhaber nicht unterwerfen wollen. Denen gilt also das »Pax in terra« nicht. Bei den weihnachtlichen Auftritten wäre dies anzumerken gewesen, damit Nichtchristen keinem Irrtum verfallen.

Peter Söhren

Nicht bibelfest
Heinrich August Winkler, Geschichtsoberlehrer im Fach »Verwestlichung«, bewährt auch bei der Säuberung der gewendeten Humboldt-Universität von politisch unzuverlässigen Historikern, hatte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Weihnachtsbotschaft zu verkünden: Was ist das eigentlich, das »Abendland« (US-amerikanisch erweitert), zu dem wir uns zu bekennen haben, wes Geistes Kinder sind wir Westler? Da kann der Verweis auf die jüdische und christliche Tradition selbstverständlich nicht fehlen, aber Winkler zieht einen Trennungsstrich: Das Weströmisch-Christliche hat uns Heil gebracht, sozusagen die NATO vorbereitet; das Oströmische, in den orthodox geprägten Ländern der EU immer noch weiterwirkend, ist eine historische Last. »Säkularisierung« der Politik, sagt Winkler, sei schon im Evangelium als Empfehlung enthalten, und er zitiert: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.« Ein vielgebrauchter Satz, freilich nicht ohne recht scheußliche historische Verwendungen –Martin Luther nutzte ihn, um den aufsässigen Bauern einzureden, sie würden von den Fürsten zu Recht totgeschlagen. Allerdings hat dieser Reformator den Bibelspruch wohl wider besseres Wissen so eingesetzt. Dem Abendländler Winkler hingegen ist offenbar der Kontext des Satzes in der biblischen Erzählung entgangen. Jesus von Nazareth nämlich, so wird berichtet, sollte in eine Falle gelockt werden, obrigkeitsbeflissene Religionsverwalter wollten ihn der römischen Besatzung als Aufrührer vorführen – und da bediente er sich einer polemischen Ironie, die vom Publikum verstanden wurde: Er ließ sich eine Münze geben, zeigte auf das Bild des Kaisers darauf, tat den erwähnten Spruch und brachte damit die Verfolger zum Schweigen, die anderen Zuhörer zum Lachen. Modern ausgedrückt: Theologie der Befreiung muß auf List nicht verzichten. Eine Geschichte, die querliegt zu Winklers Deutung historischer Wege von Westrom zum Atlantischen Bündnis. Der Säkularisierung traut unser Oberlehrer übrigens, was den gedanklichen Umgang mit politischen Entscheidungen angeht, doch nicht so recht: Daß die Bundesrepublik im UN-Sicherheitsrat nicht für die Intervention in Libyen gestimmt hat, nennt er einen »Sündenfall«. So wird der nordatlantische »Kaiser« zu einem göttlichen Wesen.
Marja Winken

Es boomt

»Deutschland geht es gut«, wußte die Bundeskanzlerin in ihrer Ansprache zum Jahreswechsel zu berichten. Eine Aussage, die zu pauschal ist, Differenzierung ist angebracht. Gut geht es zum Beispiel der deutschen Rüstungsbranche. Im vergangenen Dezember hat die Bundesregierung die Rüstungsexportzahlen für das Jahr 2010 vorgelegt: Um 58 Prozent ist da die deutsche Ausfuhr von Waffen wertmäßig gegenüber dem Vorjahr angestiegen. Nach den USA und Rußland ist die Bundesrepublik der weltweit drittgrößte Waffenexporteur – ein stolzer Wettbewerbserfolg. Auch im Jahre 2011 wurden große Lieferungen von deutschen Rüstungsgütern geleistet und angebahnt, der Boom ist ungebrochen. Zwar klagen Rüstungsfirmen darüber, daß ihnen die Reform der Bundeswehr Inlandsaufträge reduziere, aber sie erklärten sich darüber »verhandlungsbereit«, wenn die Bundesregierung für Kompensation im Außenmarkt sorge. Die westliche »Wertegemeinschaft« (sie will ja diesem Begriff reale Inhalte verschaffen) ist mit ihren geopolitischen Aktivitäten sehr um eine Förderung der Rüstungswirtschaft bemüht. Die Leistungsfähigkeit dieser Branche in der Bundesrepublik sorgt dafür, daß deutsche Konzerne in der internationalen Konkurrenz weiterhin gut abschneiden. Also läßt sich, um den Satz der Kanzlerin zu spezifizieren, festhalten: Dem deutschen Geschäft mit dem Tod geht es gut.
P. S.

Bayern in Not
»CSU buhlt um Guttenberg« – meldete die Presse, der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer wolle den Freiherrn aus dem Fränkischen nun doch für eine »aktive, herausgehobene Rolle« in seiner Partei zurückgewinnen. Obwohl manche Äußerungen des zeitweiligen Exilanten »nicht hilfreich« gewesen seien, dürfe man nicht »nachtreten«.

Offensichtlich befindet sich die CSU im Zustand der Panik. Die Umfragewerte lassen Böses ahnen, schon vermuten Politanalysten, daß die Partei bei der nächsten Landtagswahl ihren angestammten Platz als Führerin bayerischer Geschicke verlieren werde. Aber wie kann Guttenberg den weiß-blauen Himmel wieder sonnig machen? Zweifelhaft ist, ob seine Landsleute ihn, der Gaudi wegen, mit einer Mehrheit bei dem Gang zur Stimmabgabe belohnen würden, in der Konstellation: König Seehofer bleibt, er hat ja diesen Kronprinzen. Dennoch könnte Guttenberg sehr hilfreich sein – wenn die Wahl dann für die CSU schäbig ausgeht. Er müßte, darin hat er Erfahrung, »vorerst gescheitert« ausrufen und erklären, er stünde bereit, als Anführer für den nächsten Anlauf zur Regierungsmacht, für die Wiedergeburt eines echt bayerischen Staatswesens. Und wenn daraus nichts wird, ist Guttenberg selbst nicht in Not – ein bewährter Staatsmann wird draußen in der großen Welt immer gefragt sein.
M. W.

Spendenmuffel?
Große Konzerne und Finanzdienstleister, so berichtet die Frankfurter Rundschau, haben den staatstragenden Parteien, insbesondere der bisher großzügig bedachten CDU/CSU und der FDP, die Geldzuflüsse verknappt. Was kann der Grund dieser Spendenmuffelei sein? Ein Mangel an Dienstfertigkeit der Parteipolitiker für Wünsche der führenden Unternehmen ist nicht zu beklagen. Auch leiden die geizig sich zeigenden Sponsoren, die genannt wurden, nicht an knappen Kassen. Folglich müssen veränderte Einschätzungen des Politikbetriebs im Spiel sein. Braucht man unter den gegenwärtigen Bedingungen noch einen so aufwendigen meinungspflegenden Auftritt der Parteien, um kapitalfromme Politik zu sichern? Und garantieren diese nicht schon die Karrierepläne des parteipolitischen Spitzenpersonals, das nach Abschied aus dem Amte in der privaten Wirtschaft einen gutdotierten Platz finden will und deshalb vorsorgende Einsicht in deren Interessen übt? Oder will man in den Chefetagen der Unternehmen lieber noch mehr Geld in überparteiliche Agenturen zur ideologischen Pflege der »Marktwirtschaft« geben? Vielleicht wurden die Parteispenden auch nur im allgemeinen deutschen Tariftrend gekürzt – die Bundesrepublik ist ja auf dem Wege zum Niedriglohnland.
A. K.

Geschichtsforschung, abgewickelt
Der Verfasser, von Haus aus Philosoph und Historiker, 1981 gemaßregelt und aus der SED ausgeschlossen, seit den 1980er Jahren ein wesentlicher Vertreter der Faschismus- und Weltkriegsforschung, nach 1990 zudem Professor an der Universität Zielona Góra (Polen), hat nach langjähriger Beschäftigung mit dem Thema den ersten Band seiner Untersuchung über »Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR« vorgelegt. Ihr Gegenstand ist die Forschung in jenen historischen Disziplinen, die dem Rat für Geschichtswissenschaft bei dessen 1969 erfolgter Gründung zugeordnet wurden, also unter Ausschluß solcher Disziplinen wie der Geschichte des Rechts, der Literatur, der Mathematik und so weiter, aber unter Einschluß der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Alten Geschichte und Archäologie. Geschichtspolitik und Geschichtspropaganda werden nicht gesondert als solche behandelt, ebensowenig Geschichtsunterricht und museale Geschichtspräsentation.

Der hier zu besprechende erste Band enthält fünf Kapitel. Das erste stellt ausführlich die historischen Institute und ihre Forschungsfelder sowie die übergeordneten Leitungsgremien vor. Ebenso ausführlich werden im fünften Kapitel Evaluierung, Auflösung und Abwicklung sowie (gegebenenfalls) Neuausrichtung dieser Institutionen dokumentiert. Beide Kapitel zeichnen sich durch einen ungeheuer reichhaltigen und akribisch aufgearbeiteten Materialfundus aus, an dem niemand, der am wissenschaftlichen Befund interessiert ist, wird vorbeigehen können. Allerdings ist die Lektüre dieser Kapitel noch etwas beeinträchtigt, weil die dazugehörigen und die Ergebnisse zusammenfassenden Tabellen und Übersichten erst in Band II erscheinen werden.

Die Kapitel 2, 3 und 4 fallen zwar wesentlich kürzer aus, sind aber nicht minder wichtig. Das zweite diskutiert die in der Geschichtswissenschaft der DDR wirkenden politischen Regulationsmechanismen. Ihm schließt sich folgerichtig das dritte an, in dem die Reaktionen der Forscherinnen und Forscher auf die im Herbst 1989 einsetzenden Entwicklungen in der DDR dokumentiert werden, während das vierte für denselben Zeitraum die Wandlungen der altbundesdeutschen Zunft im Verhältnis zur DDR-Historiographie darstellt. Diese Kapitel hätten als Motto das dictum Goethes verdient: Klüger werden wir auf unsren Universitäten, aber nicht besser.

Die Darstellung zeichnet sich durch dreierlei aus: Materialreichtum; klare und unmißverständliche, streitbare und demzufolge auch bestreitbare Positionen des Verfassers sowie den wohltuenden Verzicht auf moralisierende Epitheta und Wertungen. Zu dem Band gehören Vorwort und Einleitung sowie ein Nachwort, in dem die Folgen für den Stand der Geschichtswissenschaft in Deutschland umrissen werden. Zu den letzteren zitiert der Verfasser Martin Sabrow, den übermäßiger Zuneigung zur DDR gewiß unverdächtigen Direktor des Instituts für Zeithistorische Forschungen Potsdam; er sah kürzlich in der gegenwärtigen Geschichtspolitik nicht nur eine »staatliche Fürsorge, die seit jeher Hilfe und Bedrohung zugleich bedeutet«, sondern auch »ein ganzes Netz von Formelkompromissen ..., die in ähnlichen Aushandlungsprozessen zwischen Politik und Wissenschaften entstanden wie weiland historische Grundlagenwerke in der DDR«.

Was nun aber die Abwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft als Gesamtprozeß angeht, so hätte dem Verfasser ein Blick auf die analogen Vorgänge in Osteuropa gezeigt, daß die durch den »Anschluß« obsolet gewordenen Ansätze zu einer geschichtswissenschaftlichen Erneuerung in der DDR vermutlich über kurz oder lang zu ähnlichen Resultaten wie dort geführt hätten. In allen staatssozialistischen Ländern hatte die Partei ihre »führende Rolle« bis zum Schluß in Anspruch genommen und das System folgerichtig in den Abgrund »geführt«. Diejenigen Historiker aber, die angesichts »jäher politischer Wendungen« schon früher ihre Wendigkeit unter Beweis gestellt hatten, vollzogen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre eigene Wende und wandten sich einer vaterländisch-nationalistisch dominierten Geschichtsschreibung zu. Den meisten DDR-Historikern jedoch hat die Abwicklung eine analoge Wende verwehrt.
Thomas Kuczynski

Werner Röhr: »Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR. Band 1: Analyse einer Zerstörung«, Edition Organon, 504 Seiten, 30 €

Linker Querdenker
Der Slawist Ralf Schröder (1927–2001) war ein von seiner Arbeit und von sozialistischen Zielen Besessener, er glühte nicht nur, er brannte. Als fast noch Jugendlichem brachte ihm das sieben Jahre Haft in Bautzen und den Vorwurf »Trotzkist« ein. Umso klarer wurde sein Bekenntnis zur »anderen sowjetischen Literatur«, zur »Literatur aus der Tiefe«. Babel, Bulgakow, Trifonow, Aitmatow, Samjatin, Tendrjakow, aber auch Ehrenburg und Gorki waren für ihn Entdeckungen und Quellen für ein politisches Denken über einen Sozialismus ohne Stalinismus und Hierarchien. Auch Marx und Goethe gehörten zu den Ratgebern. Nach seiner Haft engagierte sich Schröder im Verlag Volk und Welt, wo er »seine« Autoren herausgeben und mit beeindruckenden Vor- oder Nachworten dem DDR-Leser ans Herz legen konnte. Mancher Text der sowjetischen Schriftsteller erschien dank Schröder früher in der DDR als in der Sowjetunion. Er wurde eine Instanz. Die gesellschaftliche Wende – dabei auch die »konterrevolutionäre Vergottung« und danach die »konterrevolutionäre Demontage« seines geliebten Autors Bulgakow – erlebte Schröder voller Wut und Trauer. Seine Zeitbetrachtungen sind bissig und klug.
Ein Jahr vor seinem Tod begann er, einen Roman zu schreiben: Er hatte geträumt, Gorki stehe an seinem Bett. Sein Lebenscredo, der »Roman mit der russischen und sowjetischen Literatur« blieb leider unvollendet. Nun ist dieses Fragment ebenso nachzulesen wie die im Computer festgehaltenen Gedanken zum Weltgeschehen. Der Sohn Michael Leetz hat alles gesammelt und strukturiert. Eine Fundgrube!
Christel Berger

Ralf Schröder: »Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans«, hg. u. mit Anmerkungen versehen von Michael Leetz, Edition Schwarzdruck, 624 Seiten, 35 €


Farewell Karratsch im BE
Franz Josef Degenhardt, roter Barde und Liedermacher, der auch Romane schrieb, sieben an der Zahl, die sämtlich schön und preiswert im Berliner Kulturmaschinenverlag neu herauskommen werden, starb, noch ehe das Geburtstagskonzert zu seinem Achtzigsten stattfinden konnte. Und so wurde am 19. Dezember ein Farewell im Berliner Ensemble daraus – das »Farewell Karratsch«, ausgerichtet von Freunden. Ein Fest, das eine große Degenhardt-Gefolgschaft, die das Haus füllte, vier Stunden lang in seinem Bann hielt. Degenhardt war stets präsent. Ein ausdrucksstarkes Porträt von ihm strahlte von der Leinwand in den Zuschauerraum, und seine Stimme erklang am Schluß des Abends, klar und scharf, der Text so scharf wie die Stimme. Seine Freunde hatten mit Herz und Verstand ihr Bestes gegeben, und mochten auch Konstantin Wecker und Hannes Wader für die Veranstaltung als Zugpferde fungiert haben, so waren sie doch darauf bedacht, Teil des Ganzen zu sein, Freunde unter Freunden. Und blieben ganz sie selbst. Einen schöneren Ausklang als mit Hannes Waders Lied für Franz Josef Degenhardt hätte der Abend nicht bieten können: Die Zuhörer fühlten sich in eine Zukunft versetzt, wo die beiden im Schatten eines mächtigen Kirschbaums sitzen, erzählend, roten Wein trinkend und frohe Lieder singend, bewegende Lieder, wie all die, die an diesen Abend im BE vorgetragen wurden, die Degenhardt-Lieder wie auch jüngst entstandene – von Barbara Thalheim verfaßte und dargebotene, von Wiglaf Droste, Götz Widmann, der Dota Kehr und den Degenhardt-Söhnen, Kai und Jan. Auch Joana mit ihrem Chanson von »Gretna Green« fehlte nicht, noch Frank Viehweg mit seinem grundehrlichen »Hier, wo ich lebe!« Und herzerfrischend war es, ja geradezu urkomisch, Daniel Kahn zu erleben, diesen jiddisch-jüdischen Bänkelsänger aus Detroit mit seinem »The Good Old Bad Old Days«, ein Lied voll satirischer Anspielungen – gestern noch war Kahn in Moskau, heute zurück in Berlin, der Stadt, die es ihm angetan hat und wo er seit sieben Jahren lebt – lang genug, um den Sinn für einen wie Franz Josef Degenhardt zu entwickeln, und natürlich auch für die Künstler, mit denen zusammen er hier auftrat, nicht zuletzt auch für Konstantin Wecker und Prinz Chaos II., die den Abend moderierten.
Walter Kaufmann


Die Welt der Vorstellungen
Vor 25 Jahren, am 29. Dezember 1986, starb einer der bedeutendsten russischen Filmregisseure des 20. Jahrhunderts: Andrej Tarkowskij. Kollegen in vielen Teilen der Welt ließen sich von seiner Poesie und filmischen Vorstellungskraft anregen. Ingmar Bergman, seinerseits ein gefeierter Erneuerer des europäischen Kinos, bekannte voller Bewunderung, Tarkowskij habe sich völlig frei in einem Raum bewegt, in den er, Bergman, nur für kurze Momente habe hineinschlüpfen können.

Andrej Tarkowskij wurde 1932 als Sohn des populären russischen Dichters Arsenij Tarkowskij geboren, studierte in den 1950er Jahren an der Moskauer Filmhochschule und gewann gleich mit seinem Debüt »Iwans Kindheit« den Goldenen Löwen bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig. Das Drama, in dem eindrucksvoll der Weg eines Kindes inmitten der Gewalt des Zweiten Weltkriegs nachgezeichnet wird, war noch weitgehend in einer traditionellen filmischen Dramaturgie erzählt, enthielt aber bereits die außergewöhnlich starken, oft traumähnlichen Bilder, für die Tarkowskij später berühmt wurde.

Doch schon mit seinem zweiten Film, der auf der Biographie eines russischen Ikonenmalers des 15. Jahrhunderts beruht, geriet er in heftigen Konflikt mit der sowjetischen Filmzensur. Dies wurde zur Kontinuität seines Schaffens in den 1970er Jahren, der Ära Breschnew. Egal, ob in dem erwähnten opulenten historischen Werk (»Andrej Rubljow«), dem darauf folgenden Science-Fiction-Film »Solaris« oder dem sich jedem Genre entziehenden »Spiegel« – immer witterten die staatlichen Filmfunktionäre in Tarkowskijs Werken subversives Gedankengut, zögerten die Veröffentlichung hinaus und beschränkten den Vertrieb. Für die Zensoren war das oft ein Spagat, denn auf der anderen Seite wollte man sich mit dem preisgekrönten Regisseur international auch schmücken.

Tarkowskij, der in seine Filme regelmäßig die Gedichte seines Vaters einbaute, war jedoch an philosophischen und moralischen Fragen wesentlich stärker interessiert als an Herrschafts- und Karrierestreben. Als sein Hauptwerk gilt der Drei-Stunden-Film »Stalker« aus dem Jahr 1979, der Menschen auf der Suche beschreibt, allein in einer feindlichen, vergifteten und mit Zäunen abgesperrten Umwelt, der sogenannten Zone (die später manche als prophetische Vorwegnahme der Zone rund um Tschernobyl betrachteten). Wie auch immer, Tarkowskij griff den herrschenden Geist der Zeit auf, durchleuchtete ihn, verglich ihn mit den eigenen Maßstäben und verwandelte ihn in reduzierte Geschichten und Bilder, die sich dem Betrachter nachhaltig einprägen.

Sein Moralismus war dabei immer auch religiös gefärbt, was in der atheistischen Sowjetzeit zusätzlichen Sprengstoff bedeutete. Anfang der 1980er Jahre reiste er nach Italien, wo er das in Teilen autobiographische Drama »Nostalghia« drehte – mit Ingmar Bergmans Lieblingsschauspieler Erland Josephson in einer Hauptrolle. Tarkowskij blieb danach im Exil. Seiner Familie aber wurde die Ausreise aus der Sowjetunion verweigert. Nachdem er in Schweden schließlich seinen siebten Film »Opfer« gedreht hatte, starb er im Dezember 1986 mit nur 54 Jahren in einem Pariser Krankenhaus an Krebs.

Auch heute noch lesenswert und aufschlußreich sind seine Tagebücher, die unter dem selbstgewählten Titel »Martyrolog« nach seinem Tod in zwei Bänden erschienen. Sie sind nur noch antiquarisch erhältlich. Die Tagebücher zeigen einen Menschen, der versucht, zwischen Alltäglichem, wie Hausrenovierung, Ersatzteilbesorgung und Kampf mit der Bürokratie, seinen Lebensweg geradlinig zu gehen. Und dem dabei sieben wunderbare Filme gelungen sind.

In seinem (einzigen) filmtheoretischen Buch »Die versiegelte Zeit« schreibt Tarkowskij: »Das Wesen der Sache liegt darin, daß wir in einer Welt der Vorstellungen leben, die wir selber schaffen. Wir hängen von deren Unvollkommenheiten ab, aber wir könnten natürlich auch von ihren Vorzügen und Werten abhängen.«
Paul Schreyer

An die Lokalpresse
Wie oft ist in den letzten Jahren über die Post gemeckert worden, und das nicht zu unrecht: Überlastete Briefträger sammelten Sendungen in ihren Hauskellern, und die flitzenden grünen Konkurrenten der gelben Postzusteller gefährden durch ihre akrobatischen Fahrradkünste die Fußgänger. Viele Postfilialen sind aus Kostengründen geschlossen und in Supermärkte, Bäckereifilialen, Frisörläden oder Bestattungsinstitute überführt worden, was den Vorteil hat, daß man mehrere Erfordernisse gleichzeitig erledigen kann: Weihnachtspäckchen aufgeben, gebackenes Naschwerk erwerben oder einen geschmackvollen Sarg für verblichene Verwandte auswählen.

Eine vorweihnachtliche Überraschung bereitete mir der Kundenservice der Deutschen Post im Advent. In einem Jahresabschnitt, der nach christlicher Überlieferung die Geburt des Erlösers androht, flatterte mir ein offizielles Schreiben ins Haus, das einen Entschuldigungsbrief und eine lang ersehnte Ansichtskarte enthielt, die gute Freunde im zeitigen Frühjahr im tschechischen Kurort Franzensbad aufgegeben hatten. »Sehr geehrter Kunde«, heißt es in dem demütig formulierten Schreiben, »leider können wir Ihnen die beigefügte Sendung erst heute zustellen. Die für Sie bestimmte Sendung wurde während der Bestellung entwendet und nun aufgefunden ... Wenn Sie uns künftig wieder Ihr Vertrauen schenken, freuen wir uns ... Ihr Kundenservice BRIEF.« Ebenso formulierte Schreiben enthielten einige Tage später meinen monatlichen Kontenauszug und mein »Mega-Los« der Fernseh-Aktion »Ein Platz an der Sonne« mit vorgedruckter Los-Nummer.

Ich bedanke mich sehr für dieses Schreiben, das mich zum Jahresende in gute Hoffnung versetzt. Habe ich doch schon wegen der Nahverkehrskatastrophen einen Monat freifahren können, erwarte ich doch schon wegen der unrechtmäßigen Verteuerung des Leitungswassers einen zählerfreien Nutzungszeitraum! Und die Deutsche Post könnte die mir entstandenen Unannehmlichkeiten dadurch wiedergutmachen, indem sie beispielsweise für abhandengekommene Zahlungsaufforderungen und Mahnungen einsteht. Das würde mich mehr überzeugen als etwa eine zeitbegrenzte unfrankierte Beförderung meiner Weihnachtspost. Aber: Wer haftet, wenn mein geklautes und dadurch nicht termingerecht ausgeliefertes »Mega-Los« ein Treffer geworden wäre? – Roderich Rohrmoser (63), Kämmerer i.R., 84389 Postmünster
*
Daß sich Boulevard-Journalisten auf alle Sensationen stürzen, die den Absatz ihrer Blätter und ihre Popularität fördern, ist nichts Neues. Ein Verbrechen kann nicht blutig und abscheulich genug sein, und von »regelrechten Hinrichtungen« (übliches Presse-Zitat) schwärmen die Zeitungen geradezu. Aber jetzt haben sich die Unterhaltungskünstler etwas Neues ausgedacht: Sie fressen sich vor laufender Kamera gegenseitig auf. So geschehen zwischen dem letzten Adventssonntag und der »Heiligen Nacht«, als zwei Moderatoren chirurgisch aus ihren Hinterteilen entnommene Appetithäppchen vor den Zuschauern würzten, brieten und gegenseitig vor laufender Kamera vernaschten. Da sie klugerweise sparsam mit ihrem körpereigenen Schaschlik umgingen, ist davon auszugehen, daß ein langfristiger Entnahme- und Verzehrplan besteht, der – wie etwa die Reihe »Rote Rosen« – eine Serie begründen wird, die sich unter Berücksichtigung der medizinischen Fortschritte in der Ersatzteil-Transplantation jahrzehntelang auf dem Sendeplan hält, wenn die Gourmets ihren Appetit zügeln und sich auf Mini-Portionen beschränken. Liege ich da richtig, oder male ich da nur den Teufel an die Wand? – Balthasar Schlecker (62), Verkoster, 79856 Hinterzarten
*
Endlich! Wie die Presse berichtete, wurde am Vorabend des dritten Advent der Wettbewerb um das Weitwerfen von Weihnachtsbäumen wieder aufgenommen, und zwar in der brandenburgischen Oberförsterei Gadow. Es wurde auch höchste Zeit, denn die Weltbestmarke von 17,50 Metern aus dem Jahre 2008 gehörte endlich überboten! Außerdem werden durch den Wettbewerb mehrere Fliegen – nein, Zecken – mit einem Wurf geschlagen: Durch den milden Herbst erfreuen sich die Borreliose und Meningitis übertragenden Blutsauger nämlich bester Gesundheit. Die Unholde genießen an den gastlichen Koniferen beste Überlebensbedingungen und warten nur darauf, als böse Festtagsüberraschungen in friedfertige Wohnungen eingeschleppt zu werden. Davor hat das Fernsehen mehrmals deutlich gewarnt. Dem kann nun durch das weite Werfen und kräftige Aufstucken der Hallelujah-Stauden Einhalt geboten werden, denn die Schmarotzer sind solchen physischen und psychischen Anforderungen auf die Dauer nicht gewachsen, fallen vom Stamm und brechen sich das Genick. Der Handel empfiehlt deshalb, nur solche Bäume zu erwerben, die nachweislich als Wurfgeräte im Einsatz waren beziehungsweise nur solche Verkaufsplätze zuzulassen, die über eine geeignete Schleuderstrecke verfügen. Ich freue mich sehr darüber, daß sich der Handel so um die Gesundheit der Kunden sorgt! – Ladislaus Lamprecht (47), Baumschüler, 29413 Holzhausen
Wolfgang Helfritsch

Press-Kohl
Eines Abends wurde das Fernsehpublikum von der Nachricht überrascht: »Mit Johannes Paul II. besuchte damals zum ersten Male ein Papst die Hauptstadt Berlin.« Also noch ein Papst. Man dachte: Einer genügt doch. Wer aber war damals der Kollege von Johannes Paul II.? Reich-Ranicki konnte es nicht sein; der war doch bloß Literatur-Papst.
Felix Mantel