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Titel116

Von der Aktualität des Antiquierten  (Monika Köhler)

Ich will ins Schauspielhaus, Uraufführung im Malersaal. 20 Uhr oder doch schon 19.30 Uhr? Google hilft mit der Website Popula: »Das Event ›Die Antiquiertheit des Menschen‹ wurde am 12.12.2015 unter ›Kunst & Schauspiel‹ angelegt. popula.de bietet dir einen Konfigurator, mit dem du diese Veranstaltung ganz leicht als Widget auf deiner Webseite anzeigen kannst. So zeigst du jedem, was dir gefällt … Du benötigst noch Details zur Anfahrt für die Routenplanung? Hier wirst du fündig. Zusätzlich kannst du dir die weiteren Termine in der Location Deutsches Schauspielhaus … anschauen oder alternative Veranstaltungen aus der … Umgebung raussuchen … Fehlt die Uhrzeit oder ein Bild? Ist eine falsche Location angegeben? Mach mit und vervollständige das Profil.«

»Die Antiquiertheit des Menschen« – Günther Anders schrieb seinen Klassiker der Kultur- und Technologiekritik vor sechzig Jahren. Popula hat mir alles mitgeteilt, was es inzwischen noch zur Antiquiertheit des Menschen zu sagen gibt. Nur die Uhrzeit nicht, egal, ich fahre frühzeitig los.


Doch 20 Uhr. Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Programmheft. Abgedruckt, ein Text von Günther Anders aus der »Antiquiertheit« (Teil II), in dem er sich mit Goethes »Zauberlehrling« auseinandersetzt. Das, was dort noch die Ausnahme war, ist heute alltäglich. Das Sich-Verselbständigen und -Vermehren der Apparate, die sich zu »Netzen« vereinigen. Einen Meister, der dem Einhalt gebietet, gibt es schon lange nicht mehr. Wie lässt sich das im Theater darstellen? Suse Wächter hat es in ihrer Inszenierung versucht, auch mit Hilfe von Puppen, die sie selbst geschaffen hat und die sie führt, als seien sie ein Teil von ihr.


Es ist ihr nur teilweise gelungen. Ihre künstlichen Wesen schaffen es nicht, den philosophisch-theoretischen Text plastisch werden zu lassen. Die fast greifbar lebendig scheinende Physiognomie der Gesichter lenkte mich ab vom Text. Ein skurriler Einfall, wenn eine Indianerin, ein wirklicher Mensch (Sachiko Hara), dem Karl Marx, der Puppe, erklärt: »Vor der Maschine lebten wir im Kommunismus« – der für sie das Matriarchat bedeutete. Für die Maschine steht, unübersehbar, mitten auf der Bühne eine – antiquierte – Lokomotive, die hin und wieder Dampf ablässt (Bühne und Kostüme: Janina Audick).


Noch befinden wir uns im 19. Jahrhundert, im Wilden Westen. Der moderne Mensch tritt auf, anfangs als Cowboy mit entsprechendem Hut und Pistole. Später reicht ihm ein kariertes Hemd. Ihn ergänzt manchmal eine lebensgroße Puppe, Typ alte Dame, uralt, mit Totenkopf, Kompotthütchen und zerschlissenem rosa Spitzengewand. Eine der ersten, die mit dem rasenden Ungetüm (40 Kilometer pro Stunde) im Mittleren Westen der USA zu fahren wagte. Der moderne Mensch redet viel, begeistert: »Die Zukunft ist schon eingetreten – heute ist Zukunft.« Schafe kommen und stören. Ach, es ist nur der Kinderchor »Hamburger Alsterspatzen« im Schafskostüm. Alle gleich. Für das Klonschaf »Dolly« ist es noch zu früh. Der Moderne scheucht alle weg. Die Maschine (Lok) führt ihr eigenes Leben. Die Landschaft auf dem Video-Hintergrund fliegt dahin. Da fällt, vielleicht dem Dramaturgen Christian Tschirner, Walter Benjamin ein und sein »Engel der Geschichte«, der vom Sturm des Fortschritts mitgerissen wird. Und der zusehen muss. Machtlos, wie der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Sind es diese Trümmer, die da auf dem Video als undefinierbare geometrische Figuren rasend schnell verschwinden?


Der moderne Mensch begeistert sich erst einmal für sein neues Telefon – bei Anders noch »Telephon«. Es ist dem Menschen »überlegen«. Er meint Handy oder Smartphone oder sowas. Gab‘s da noch nicht. Wann und wo wir uns befinden – unklar. Auf jeden Fall schämt sich unser Mensch diesem Ding gegenüber. Sigmund Freud tritt auf, lebendiger als jeder Mensch, diese Puppe. Er spricht wienerisch (Suse Wächter macht das glänzend). Freud sagt: »Ihr Telephon verachtet sie.« Und: »Sie sehen sich als Ding unter Dingen.« Der moderne Mensch erkennt, dass er sich optimieren muss »in Richtung Perfektion«. Philosophieren über Vernetzung. Freud ist weg. Der moderne Mensch: »Alles, was nicht mit der Welt vernetzt ist, existiert eigentlich gar nicht.« Die Squaw: »Das Himmelreich ist die Vernetzung, jeder mit jedem.« Die Kinder, ohne Schafsmasken, erklimmen die Lok. Er: »Ich bleibe zurück, ich versage. Ergo: bin ich.« Der Kinderchor singt: »Mein Herz ist einsam«. Im Video: leere Räume. Die Maschine rattert. Spricht sie auch? Wer sagt: »Macht kaputt, was euch kaputtmacht«? Wer sagt: »Die Lokomotive ist die Revolution der Geschichte« und »den Kapitalismus beschleunigen, nicht zerstören«? Die Maschine befiehlt: »Lass uns Kinder machen – Produkte. Doch sie müssen sterben, um neue zu erzeugen, die unsterblich sind.« Stöhnen von hinten. Schafe kommen wieder. Er, der moderne Mensch, spricht zu ihnen von »Konsumartikeln«. Die Alte wiederholt das Wort, für sie unbekannt. Die Kinder beten: »Unseren täglichen Hunger gib uns heute« – immer neue Bedürfnisse müssen geweckt werden. Auch nach Waffen? Deren Herstellung kostet fast nichts, bringt aber viel Geld. (Und den Tod?) Nur hier dieser Hinweis. Kein Wort über die Bombe. Anders schrieb noch: »Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit«. Heute nicht mehr aktuell? Also antiquiert wie die Maschine, wie der Mensch. Charles Darwin erscheint als Puppe, sagt zum modernen Menschen: »Sie sind ein Depp. Sie werden hier schamlos ausgenutzt, um Kraftwerke zu bauen …, nur noch gebraucht, um Maschinen zu bedienen, aber nicht mehr lange.« Ein wenig Action: beide bewundern gegenseitig ihre Bärte. Später sitzen alle auf einem Sofa, lauschen »Maschinenmusik«. Und sinnieren über Autos. Dem modernen Menschen geht alles zu langsam.


Doch dann will er »die Zeit anhalten«. Warum legt er sich in ein MRT-Gerät? Die Gebilde auf dem Video: wie explodierend. Als er wieder aus der Röhre auftaucht, gesteht er, dass er sich so sehr auf das 21. Jahrhundert gefreut habe, alles so riesig, alles neu. Er wollte den »entsetzlichen Erinnerungsballast aus dem 20. Jahrhundert« hinter sich lassen. Jetzt nur noch Echtzeit.


Die Squaw kommt in einem hellblauen Hosenanzug, im Arm ihre Kopie, ihr völlig gleich. »Leider ist sie schon kaputt.« Sie habe keine Emotionen ihr gegenüber, nur: »Sie versuchte, schneller zu sein als ich. Jetzt nicht mehr. Nur Schrott!« Die Alte weise: »Wenn eine Maschine Mensch wird, wird sie böse.« Der Chor singt von »eurem Müll« und »lasst den Kindern ihre Meinung« und »rettet die Wale«. Alle ab. Auf dem roten Sofa hängt die Puppe Mensch, regungslos, mit starren Augen – zurückgelassen. Ein antiquiertes Stück?