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Titel120

Alles vergessen, nichts hinzugelernt?  (Ralph Dobrawa)

Es gibt Bücher, deren Neuauflage geradezu erforderlich ist. Vor allem, wenn ihre Inhalte wichtige Mahnungen zu aktuellen Entwicklungstendenzen enthalten. Zu diesen Büchern gehört der von Heinrich Hannover und Elisabeth Hannover-Drück verfasste Band »Politische Justiz 1918–1933«. Erstmals erschien er 1966 und hat dennoch an Aktualität in keiner Weise verloren. Der weithin bekannte Strafverteidiger hatte zusammen mit seiner damaligen Frau, die als Historikerin tätig war, die Entwicklung der Justiz in der Weimarer Republik untersucht. Beispielhaft stellen die Autoren eine Reihe bedeutsamer Verfahren aus jener Zeit vor und beleuchten deren politische Hintergründe. Die Spannbreite reicht von der Beschreibung der Richterschaft nach der Beseitigung des Kaiserreiches über Noskes Schießerlass vom 9. März 1919, die Folgen des Kapp-Putsches bis hin zur Darstellung einzelner ausgewählter politischer Morde, wie beispielsweise an dem damaligen Außenminister Walther Rathenau. Die gewaltsame Tötung von 15 Arbeitern in der Nähe des thüringischen Mechterstädt fällt ebenfalls in diese Ära (siehe »Die Morde von Mechterstädt«, Ossietzky 12/2016). Ein Kapitel widmen die Autoren dem Prozess gegen Hitler, der sich zusammen mit anderen wegen Hochverrats aufgrund der Vorgänge vom 9. November 1923 im Münchener Bürgerbräukeller verantworten musste und zu einer milden Strafe von fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurde, wovon er nur einen kleinen Teil verbüßen musste. Es folgt die Darstellung von Fememorden. Unter den Mördern finden sich Namen wie Rudolf Höß oder Martin Bormann, die in der Nazizeit ab 1933 Karriere machen sollten. In dem Kapitel über Landesverrat findet sich auch der Prozess gegen Carl von Ossietzky, an den erst vor kurzem in dieser Zeitschrift erinnert wurde (»Ein unerschrockener Herausgeber«, Ossietzky 18/2019).

 

Bedeutsam und markant für jene Zeit ist auch das Verfahren um den damaligen Reichsanwalt Paul Jorns, der 1919 als Kriegsgerichtsrat die Untersuchung der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht führte und deren Mörder begünstigte. Seine Rolle kam erst fast zehn Jahre später ans Tageslicht. Die in einem Artikel gegen Jorns erhobenen Vorwürfe über seine Rolle bei der Schonung der Mörder warfen zugleich auch die Fragestellung auf, inwieweit der inzwischen zum Reichsanwalt aufgestiegene Jurist überhaupt an dem höchsten deutschen Gericht, dem Reichsgericht in Leipzig, tätig sein kann. Das kratzte natürlich an Jorns Ehre, und er fühlte sich beleidigt, stellte Strafantrag gegen den Redakteur der Zeitschrift Das Tage-Buch. Doch der Prozess verlief anders als von ihm angenommen. In der Beweisaufnahme stellte sich heraus, dass die Behauptungen des Journalisten der Wahrheit entsprachen und Jorns den Mördern Vorschub geleistet hatte. Man kam nicht umhin, den Redakteur freizusprechen. Die folgenden Instanzen sahen das letztlich nicht anders, auch wenn der Redakteur nach Zurückverweisung durch das Reichsgericht letztlich zu einer geringen Strafe verurteilt wurde, wohl auch, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Jorns Karriere schadete das keineswegs – im Gegenteil. Unter den Nazis folgte er einem Ruf an den Volksgerichtshof und war dort bis zu seinem Tode 1938 tätig. An dem Ausgangsprozess gegen den Journalisten vor dem Schöffengericht in Berlin nahm auch mein langjähriger Mentor Friedrich Karl Kaul als junger Referendar neben dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, dem er zugeteilt war, teil. Ich erinnere mich gut, wie er mehrfach von dem Verfahren berichtete, in das er in der Überzeugung von der Integrität des preußischen Richters ging und in dessen Verlauf sein bis dahin ihm vermitteltes Weltbild in weiten Teilen erschüttert wurde, was ihn dazu brachte, sich für linke Entwicklungswege zu interessieren.

 

Das Autorenpaar Hannover zeigt in seinem Buch weiterhin auf, dass es auch während der Weimarer Republik bereits Justiz gegen Kommunisten gab und die Gesinnung zum Gegenstand rechtlicher Bewertung wurde. Wen wundert es da, dass auch Literatur und Kunst die Gerichte beschäftigten, wenn die Urheber sich durch ihre Werke kritisch mit dem damaligen Zeitgeist auseinandersetzten.

 

Widerspruch gegen die bestehende Ordnung wurde auch in der Weimarer Republik nicht geduldet und entschieden bekämpft, wenn nötig auch mit den Mitteln des Strafrechts. Mordeten reaktionäre Kreise und waren die Opfer einer kommunistischen Gesinnung oder linken Einstellung auch nur verdächtig, hatten die Mörder gute Aussichten, nicht bestraft zu werden oder mit Bagatellstrafen und höchst eigentümlichen Begründungen davonzukommen. So schuf die Justiz in der vorfaschistischen Phase Voraussetzungen, auf die die Nazi-Justiz ab 1933 nur noch verschärft aufzubauen brauchte. Die Buchautoren belegen, dass die Weimarer Zeit keineswegs von so viel Liberalität geprägt war, wie erst unlängst anlässlich des 100. Jahrestages dieser Republik behauptet wurde. Mancher der tätigen Juristen empfahl sich durch seine Vorgehensweise für eine nahtlose Übernahme in die faschistische Justiz und wurde nicht selten auch dort erneut zum Handlanger bei der Schaffung von Unrecht und der Vertuschung politisch motivierter strafbarer Handlungen. Der Einfluss des politischen Zeitgeistes auf die juristischen Entscheidungen ist deutlich ablesbar. Der aktuellen Buchausgabe ist eine Rezension des früheren hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer vorangestellt, die aus dem Jahr 1967 stammt. Er formulierte: »Zu den beliebten Lebenslügen unserer deutschen Umwelt gehört die Annahme, der nazistische Unrechtsstaat habe anno 1933 begonnen. Das Autorenteam Hannover weiß und beweist, dass der Nationalsozialismus nicht über Nacht gekommen ist, übrigens auch nicht über Nacht wieder verschwand.« Bauer erweitert auch den bekannten Spruch »Der Kaiser ging, die Generäle blieben« um den Zusatz, dass das auch für die Beamten und Richter galt. Kaul brachte es in seinem Schlussvortrag im Auschwitz-Prozess 1965 auf den Punkt: »Deswegen ist es erforderlich, klarzustellen, dass nicht erst am 30. Januar 1933, dem Tage, an dem der Nationalsozialismus in die Macht geschoben wurde, der Mord zur Staatsdoktrin in Deutschland erhoben wurde! Die Anfänge hierfür liegen weit früher: Es waren die Schüsse, die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg meuchelten, die Schüsse, denen die aus bitterer Erfahrung zu Kriegsgegnern gewordenen Kapitänleutnant Paasche und Hauptmann Baerfeld zum Opfer fielen, denen die Staatsmänner Erzberger und Rathenau erlagen … Diese Schüsse waren es, die den Auftakt bildeten für jenen schauerlichen Zug von Toten und Gemordeten, … der weiterging Jahre und Jahre und von dem wir heute wissen, dass er geradewegs in Auschwitz endete.«

 

 

Heinrich Hannover/Elisabeth Hannover-Drück: »Politische Justiz 1918–1933«, Metropol Verlag, 368 Seiten, 22 €