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Absurditäten und Perspektiven 25 Jahre danach  (Manfred Sohn)

Am 2. Januar berichteten die Zeitungen des Madsack-Konzerns unter der Überschrift »Nur noch ein Paketdienst pro Straße?« über den Vorschlag des Betriebsrats der Deutschen Post AG, dafür zu sorgen, dass es künftig in jedem Zustellgebiet nur noch Fahrten eines einzigen Dienstleisters geben solle: »Es ist nicht mehr zeitgemäß und nicht gut für die Luft, wenn in ein und derselben Straße fünf, sechs verschiedene Paketzusteller vorfahren und ausliefern«, wird der Betriebsratsvorsitzende Thomas Koczelnik dort zitiert. In einer »konsolidierten Zustellung« sollte jeweils eine Firma die Pakete der lieben Wettbewerber übernehmen und gegen Entgelt zustellen. Die Reaktion kam umgehend: Der Wettbewerber Hermes lehnte das ab, weil es »den Wettbewerb abbremsen« würde, und außerdem seien die Auslieferungsfahrzeuge ihres Unternehmens gut gefüllt.

 

Jemand, der die letzten 25 Jahre eingefroren überdauert hätte, hätte diese Meldung entweder absurd gefunden oder vielleicht gar nicht verstanden. Denn vor einem Vierteljahrhundert war das Vorgeschlagene Normalität: Die Auslieferung von Briefen, Postkarten und Paketen war Sache der Deutschen Post, die damals noch keine AG war, und es galt das Prinzip: eine Straße – eine Zustellung.

 

Diese Zeiten sind vorbei. Die Privatisierung der Deutschen Post, die zu der Absurdität konkurrierender Auslieferungsdienste für jede Straße und jedes Dorf geführt hat, gehört zu der Serie von Niederlagen, die der Epochenniederlage des großen sozialistischen Versuchs von 1989/90 folgte.

 

Mit Beschluss des Deutschen Bundestages vom 29. April 1994 – regiert wurde das Land damals von einer Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Helmut Kohl – wurde trotz heftiger Gegenwehr vieler Gewerkschafter zum 2. Januar 1995 die Deutsche Post AG gegründet – eine Aktiengesellschaft anstelle der vorher existierenden drei öffentlichen Unternehmen der Deutschen Bundespost – Postbank, Postdienst und Telekom.

 

Gegründet wurde die Deutsche Bundespost, deren Geschichte als öffentliche Einrichtung vor 25 Jahren endete, als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichspost im Jahre 1950 – parallel zur Deutschen Post der DDR. Sie übernahm hoheitliche Aufgaben und gewährleistete mit zuletzt rund einer halben Million Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den reibungslosen Versand von Postkarten, Briefen, Paketen und Päckchen, später auch die Versorgung mit Telefonen und günstigen Finanzdienstleistungen.

 

1989 erfolgte die Eingliederung der Deutschen Post der DDR in das nunmehr wieder gesamtdeutsche Postwesen. Zu dem Zeitpunkt war der Höhepunkt der Anzahl von Filialen erreicht: Fast 30.000 gab es davon vom Rhein bis zur Oder. Die Zahl hat sich bis zum ersten Halbjahr 2019 auf knapp 13.000 mehr als halbiert, wie kürzlich eine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke ergab. Allerdings: Während die früheren Postfilialen den gesamten Umfang der Postdienstleistungen anboten, sind heute 92 Prozent der genannten Filialen nur noch sogenannte Postagenturen in Supermärkten und Läden, in denen Briefmarken gekauft und auch Einschreiben abgegeben werden können – aber viel mehr eben nicht.

 

Auch die Anzahl der Briefkästen ist seitdem im Sinkflug – jetzt sind es noch 110.000. Davon gibt es selbst in größeren Dörfern in der Regel nur noch einen, und auch die Wege in den Städten bis zum nächsten gelben Kasten haben sich deutlich verlängert. Die Zuverlässigkeit der Zustellung hat gelitten, seitdem die Leerung der Kästen vielfach nicht mehr durch Beamte oder wenigstens tariflich fest angestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschieht, sondern oftmals durch Fremdfirmen und in nicht ganz wenigen Fällen auch durch Taxifahrer, die sich so ein Zubrot verdienen.

 

Bis zur Privatisierung wurden die Dienste der drei Kernbereiche der Post in der Regel von Beamten mit nicht immer üppigen, aber doch auskömmlichen Löhnen oder wenigstens von tariflich fest und meist unbefristet angestelltem Personal gewährleistet. Heute sind vor allem bei den Konkurrenten der Post – Hermes eben und andere – Beamte selbstredend überhaupt nicht unterwegs, aber unbefristet angestellte und ordentlich entlohnte Menschen eher die Ausnahme als die Regel. Die Zahl der Mitarbeiter der Post Aktiengesellschaft liegt zwar weiterhin bei über einer halben Million – davon arbeiten die meisten inzwischen aber im Ausland; in Deutschland sind es weniger als eine Viertelmillion. Die Arbeit für diejenigen, die Informationen und Pakete verteilen, hat sich intensiviert und ist im Schnitt relativ zur Gesamtlohnentwicklung der arbeitenden Bevölkerung schlechter bezahlt als vor 1995.

 

Auf der Gewinnerseite der Privatisierung stehen vor allem zwei Gruppen: Das ist zum einen das obere Management, das sich erfolgreich aus dem aus ihrer Sicht zu engen Korsett der Beamtenvergütung befreien und in die lichten Höhen der Bezahlung von Vorständen von Aktiengesellschaften emporschwingen konnte. Einigen ist davon ganz schwindelig geworden – so zum Beispiel dem langjährigen Postchef Klaus Zumwinkel, der den gesamten Privatisierungsprozess seit 1990 maßgeblich orchestrierte, aber 2008 nach Vorwürfen der Steuerhinterziehung zurücktreten musste. Zum zweiten haben diejenigen profitiert, die mit ruhiger Hand die Entwicklung der Aktienkurse verfolgt und für sich gewinnträchtig verwertet haben. Ausdrücklich nicht gilt das für diejenigen, die Mitte der 90er Jahre den Verlockungen der Privatisierung gefolgt und sich mit Telekom-Aktien eingedeckt hatten – bis die T-Aktie Anfang der 2000er Jahre von 100 auf unter 10 Euro abstürzte. Absahner der dann folgenden Massenverkäufe waren diejenigen, die nun dicke Aktienpakete an der Post AG besitzen – sechs Prozent davon übrigens die Fondsgesellschaft BlackRock.

 

Wie wird es jenseits der Nostalgie über die gesamtgesellschaftlich organisierte und nicht dem Profitprinzip unterworfene Post weitergehen?

 

Der englische Marxist Nick Srnicek hat in seinem Buch »Platform Capitalism« darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus in seiner Niedergangsphase die Daten selbst (ähnlich wie das Eisenerz in seiner Aufstiegsphase) als Rohmaterial der Profitmacherei nutzt. Wer über die Maschinen zur Auswertung von Daten der Menschen eines oder gar mehrerer Kontinente verfügt, ihre Anschriften, Bedürfnisse, ihre Gewohnheiten und ihre Kaufkraft kennt, besitzt einen Schlüssel für die Realisierung von Mehrwert. Solche Rohdaten liefert aber jeder, der einen Brief oder ein Paket versendet. Das Geschäftsmodell der Firma BlackRock, die der Autor Werner Rügemer in seiner Betrachtung der »Kapitalisten des 21. Jahrhunderts« (siehe Ossietzky 3/2019) für einen der zentralen Akteure des heutigen Kapitalismus hält, beinhaltet unter anderem die maschinelle Verwertung von Informationen. In der Tat könnten die Perspektiven des Postwesens in den vor uns liegenden Restjahrzehnten des kapitalistischen Systems darin bestehen, den Transport von Briefen, E-Mails oder Päckchen als Vehikel, als eine Art Kollateral-Voraussetzung der Gewinnung von Daten zu nutzen. Der Widerspruch zwischen der Zuverlässigkeit des früher kosten- und klimagünstig gesamtgesellschaftlich organisierten Informationstransports und der Ausbeutungsfähigkeit dieser Dienstleistung würde zunehmen – aber eben auch die Profitmöglichkeiten solcher modernen Kapitalisten wie BlackRock und anderer.