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Titel1009

Wessen Krise?  (Otto Meyer)

Klang es selbstbewußt, kraftvoll oder eher wie ein Pfeifen im Walde, als am 28. März die Demonstranten in Berlin und Frankfurt am Main kundtaten: »Wir zahlen nicht für Eure Krise! Für eine solidarische Gesellschaft«? Da hatten die Regierenden längst durchgesetzt, daß die Bevölkerung insgesamt mit über 100 Milliarden Euro für den staatlichen Banken-Schutzschirm haftet. Wie hätte denn die Gesamthaftung noch von »uns« abgewendet werden können?

Unterstützung für die Proteste kam von einigen regionalen Gliederungen der Gewerkschaften, allerdings nicht vom DGB und den großen Einzelgewerkschaften. Deren Sprecher behaupteten, den Arbeitnehmern könnte das Demonstrieren zu viel werden, weil doch sowieso der 1. Mai als »Tag der Arbeit« bevorstehe. So nahmen zwar jeweils einige zehntausend Menschen an den Protesten teil, aber zu wenige, um wirksamen Druck von unten gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die abhängig beschäftigte Bevölkerung aufzubauen. »Eure Krise« erweckte zudem den Anschein, als habe man die Verursacher längst identifiziert und könne sie schnell haftbar machen und zur Übernahme der Kosten zwingen. Aber wie? Fehlanzeige.

Ähnliches geschah dann auch in den meisten Reden zum 1. Mai. Im westfälischen Münster zum Beispiel wetterte ein als Hauptredner geladener Landesbezirksleiter der IG Bau, Steine, Erden gegen die »gierigen Manager« vom Schlage eines Herrn Ackermann oder gar eines überführten Betrügers wie des ehemaligen Postchefs Zumwinkel. Mit der schnellen Schuldzuweisung an inzwischen allbekannte Buhmänner war der Beifall gesichert. Auf diese Art agitierte auch der CDU-Politiker Heiner Geißler als Hauptredner auf der Maikundgebung in Düsseldorf: Allein die »Finanzjongleure« hätten den Schlamassel verursacht, in dem »wir« heute steckten, so daß jetzt auch »unsere gesunden Betriebe«, die »erfolgreich auf den Exportmärkten« agiert hätten, in Mitleidenschaft gezogen würden und keine Kredite mehr für Investitionen bekämen. Davon, daß gerade diese »deutsche Realwirtschaft« mit den weltweit größten Exportüberschüssen für die überdehnten Kreditausweitungen in den USA oder den EU-Nachbarländern mitverantwortlich ist, hatte der Gewerkschaftsmann vermutlich noch nichts gehört. Und schon gar nichts davon, daß die enormen Gewinne aus der sogenannten Realwirtschaft, mit denen die Herren Ackerman und Co. die Kreditblasen füllten, vor allem der braven, bescheidenen deutschen Arbeiterschaft zu verdanken sind, die sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr von ihren Lohneinnahmen hat wegnehmen lassen.

Unbestimmt und kleinmütig blieb auch das diesjährige Motto zum 1. Mai: »Arbeit für alle bei fairem Lohn!« Der Mai-Aufruf gab keinerlei Hinweis auf mögliche, realistische Wege zu »Arbeit für alle«. Keine Forderung nach genereller Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, obwohl dieser Schritt wegen der gestiegenen und immer weiter steigenden Produktivität dringend notwendig ist und gewerkschaftlich erkämpft werden muß. Auch hörte man keinen Hinweis auf eine nötige Ausweitung der zusammengestrichenen Öffentlichen Dienste.

Und was wäre ein »fairer Lohn«? Im Aufruf hieß es nur: »… immer mehr Menschen verdienen trotz Vollarbeitszeit für ein menschenwürdiges Leben zu wenig.« Zaghaft wurden die Bemühungen nach Einführung von Mindestlöhnen erwähnt. Über deren Höhe war aber kaum etwas zu erfahren, nur daß jemand, der arbeite, davon sich und seine Familie ernähren können sollte. Geradezu absurd fiel dann eine Parole aus, mit der dreist auftretende SPD-Bewerber für die EU-Wahl diese DGB-Forderung interpretierten. Auf ihren T-Shirts prangte der Spruch: »Gute Arbeit für Mindestlohn«. Wie hoch denn die gegenwärtige Mindestlohnforderung seiner Partei ausfalle, fragte ich einen von ihnen. Etwas kleinlaut kam die Antwort: Er glaube »7,50 Euro«. Und dafür verlange er »gute Arbeit«? Für weniger als netto 1000 Euro, die auch noch für die Familie reichen sollen? Der Kandidat wurde verlegen: Da hätten die Wahlstrategen der Bundespartei wohl etwas leichtfertig formuliert. Er selber wußte aber auch nicht, daß der Mindestlohn zum Beispiel in Frankreich bei 8,71 Euro liegt, in Luxemburg bei 9,73 Euro, ähnlich in Holland und dort jährlich entsprechend der Preissteigerungsrate erhöht wird. Unwissenheit ist wahrscheinlich die beste Vorraussetzung, bei der SPD als Kandidat aufgestellt zu werden.

Die deutschen Gewerkschaften haben nun im Rahmen der »European Days of Action« des Europäischen Gewerkschaftsbunds für eine Großdemonstration in Berlin am 16. Mai mobilisiert. Der Slogan verspricht mehr Kampfeslaune: »Die Krise bekämpfen. Für einen Sozialpakt für Europa! Die Verursacher müssen zahlen.«

Aber hier tun sie wieder so, als kennten sie die Verursacher. Das eigene Versagen durch jahrelange Zurückhaltung in der Tarifpolitik bleibt tabu. So aber wird die Hauptursache für die sich weiter ausbreitende kapitalistische Systemkrise ausgeblendet. Denn solange die Produktivitätssteigerungen, zwischenzeitlich noch verstärkt mit erzwungener Mehrarbeit, nicht für die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller sowie für einen verträglichen Umgang mit den Naturressourcen genutzt werden, sondern einseitig dem Kapital zufließen, muß es systemimmanent zu Überakkumulations-Krisen mit Absatzstockungen, Betriebsschließungen und finanziellen Turbulenzen kommen.

Der DGB verlangt ein »erweitertes Konjunkturprogramm«, damit auch die Arbeitnehmer etwas bekommen. Und wer soll es bezahlen? Die »Europäische Zentralbank« wird benannt, die »nicht nur zu Preisstabilität« verpflichtet sein sollte. Aha, eine schleichende Inflation würde demnach vom DGB akzeptiert; schon Keynes hatte vorgeschlagen, etwas höhere Löhne mit anschließenden Preissteigerungen zuzulassen; die Beschäftigen würden so schnell nichts merken und schön in Kauflaune bleiben; dagegen würden höhere Steuern oder gar staatliche Preiskontrollen die Unternehmerseite nur unnötig verstimmen, empfahl Keynes.

Immerhin fordert der DGB eine »gerechte Verteilung des Reichtums«. Aber was wäre »gerecht«, und wer soll verteilen? Die hierzulande Regierenden haben auf eine Besteuerung der großen Vermögen verzichtet, und jetzt planen CDU/CSU und SPD sogar eine weitere Senkung der Erbschaftssteuern noch vor der Wahl. Der DGB läßt das unerwähnt. In seinem Mai-Aufruf findet sich auch kein Wort über die Besteuerung der Kapitaleinkünfte, die von der großen Koalition gerade vor einigen Monaten auf 25 Prozent gesenkt worden ist.

Von ihren Kollegen in Frankreich, Italien oder Griechenland könnten unsere DGB-Gewerkschaften lernen, daß Forderungen präzise und nicht halbherzig ausfallen dürfen, wenn man sie anschließend mit Kampfkraft und in Solidarität durchsetzen will. Kämpferische internationale Solidarität, heute zumindest auf EU-Ebene, wird dabei insbesondere auch von den Gewerkschaften Deutschlands, in der größten Industrienation, erwartet. Ängstlich darauf bedacht zu sein, dass die Kapitalseite durch gutgemeinte Appelle wieder gnädig gestimmt werde, wird nur weiter in Krise und Verelendung führen – global, und heute auch wieder lokal, hier bei uns. Wohlverhalten bringt keinen Stich, sog. Co-Management mit dem nationalen Kapital erst recht nicht. Es käme darauf ab, den Widerstand gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf die abhängig Beschäftigten und ihre Angehörigen zu bündeln. Dabei darf das Eigentum der großen Kapitalinhaber nicht heilig und unantastbar bleiben; es »verpflichtet«, wie es im Grundgesetz der BRD (Art. 14, Abs.2) heißt: »Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«.

Der zeitweilige Klassenkompromiss ist seit langem von der Kapitalseite aufgekündigt worden, auch mit Hilfe der Regierenden. Hier endlich eine Politik im Interesse der Mehrheit zu erstreiten, kann wohl nur mit massenhaften Arbeitskämpfen Erfolg haben. Auch die Durchsetzung des Rechtes auf politischen Streik bis hin zum Generalstreik, was unsere Nachbarn sich längst erstritten haben, hätte heute auf der Agenda der deutschen Gewerkschaften ganz oben zu stehen.