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Titel1009

Gruß an den Roten Barden  (Walter Kaufmann)

Neulich erwähnte ich in Ossietzky den Dokumentarfilm »The Power of Song«, den Jim Brown anläßlich Pete Seegers 90. Geburtstags gedreht hat. Aber eine kurze Erwähnung genügt nicht. Der Film schickte mich auf eine innere Weltreise. Ich sah mich als jungen Mann von Melbourne nach Sydney zum Fest der Eureka Youth League trampen, an die tausend Kilometer in Wind und Wetter, und immer an der Küste entlang, vorbei an Port Phillips Bay bis hin nach Wonthaggi, wo ich bei einer Bergarbeiterfamilie unterkam, und am Morgen weiter bis Bairnsdale am Tasmansee und von dort in einem Plymouth, den ein rauhbeiniger Unternehmer fuhr, der sich Jack nennen ließ und eine Mary als Begleiterin hatte, die irgendwie verzweifelt war. Die beiden brachten mich bis Bateman’s Bay am Pazifik, von wo es, gemessen an australischen Entfernungen, nicht mehr weit bis Sydney war. Dort fand ich mich auf einer großen Wiese mit schattigen Eukalyptusbäumen ein, und schon von fern schallte mir der Song »If I had a hammer« entgegen. Es war ein Fest der Jugend, ja, ein Fest mit Losungen und Fahnen, ein Fest des politischen Liedes. Ob ich in den Nächten zwischen Freitag und Montag zusammengerechnte mehr als zehn Stunden schlief, ist fraglich. Sicher ist, daß mich drei verwegene Typen in einem klapprigen Ford zurück nach Melbourne fuhren, was fünf Tage dauerte, wegen der Pannen, aber auch der trampenden Mädchen wegen, mit denen die drei den Ford zu oft überfrachteten … Pete Seeger war auch mit dabei: Die Lieder, die er zum Banjo und zur Gitarre gesungen hatte, waren in unseren Köpfen. Jahre später, 1955, auf der »Neptunia«, die uns von Sydney nach Genua brachte, war das wieder so, denn einer in der Gruppe besaß ein songbook mit Liedern von Pete Seeger. Er konnte Noten lesen und sang los, und wir sangen mit, übten lange, bis wir glaubten, bei den Weltjugendfestspielen in Warschau bestehen zu können: »Where Have All The Flowers Gone …«

Zweimal erlebte ich den Sänger im Berliner Osten, hörte ihn live – diese Kraft in der Stimme, die Überzeugungskraft, und wie virtuos er Gitarre und Banjo zum Klingen brachte: »Turn, Turn Turn …« Und Jahre später im Central Park, New York, da war die Menge um ihn so dicht, meine Entfernung zu ihm so weit, ich sah ihn wie durch ein umgekehrtes Fernrohr, hoch und schlank und hager hinterm Mikrophon. Doch hörte ich ihn gut über die Lautsprecher: das Lied vom Hammer und das von den Blumen und wieder »Turn, Turn, Turn«. Das war das dritte und letzte Mal, dass ich ihn live erlebte, aber im übertragenen Sinn war er noch oft zugegen. Nach dem Mord an Martin Luther King beim »Poor Peoples March« von Memphis, Tennessee bis Washington D.C. schallten seine Lieder durch die Lautsprecher über die Köpfe der Menge bis hin zum Weißen Haus. Joan Baez sang und Phil Ochs, und bis heute habe ich Joans helle, glasklare Stimme im Ohr und Ochs’ stählerne zur Gitarre.

Und wo noch war Pete Seeger dabei? In San Franciscos Berkeley-Universität, als Studenten zu Tausenden gegen den Vietnam Krieg auf die Straße gingen, auch Judy Bates, die junge Hebamme, die mir damals viel bedeutete und die mir für meine noch kleine Tochter Deborah ein Cookie Monster mit auf den Weg nach Berlin gab, eine blaue Handpuppe mit riesigem Mund – Judy Bates, die wir dann zur Klinik in Fremont bringen mußten, weil sie vom Polizeiknüppel blutiggeschlagen war ...

Wo noch? In Los Angeles nach Angela Davis’ Freispruch und später wohl auch im Madison Square Garden New York, und in Montevideo damals, wo Delia Murillo und ich an der Kundgebung der Künstler für Kuba teilnahmen und uns das Lied »Guantamera« noch in den Ohren klang, als wir im Strom der Demonstranten durch Pueblo Victoria zogen und am Ende vor einer Wolke beißendem Tränengas in eine Seitengasse flohen, wo wir in einem Hauseingang Schutz suchten – »Guantamera«, ein Lied so ganz im Sinne eines Pete Seeger …

So laß Dir also Glück und Gesundheit wünschen. Und daß Du hundert wirst und, möge es sich so fügen, noch etliche Jahre älter: ungebrochen und mit neuen Liedern!