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Kubas kleine Revolution  (Rainer Schultz)

Neun Jahre später als geplant hielt die Kommunistische Partei Kubas (PCC) ihren VI. Kongreß ab. Nichts weniger als eine Generalüberholung des wirtschaftlichen Modells stand auf dem Programm. »Dieses Modell funktioniert ja nicht einmal mehr für uns«, soll Fidel Castro im Sommer 2010 dem US-amerikanischen Journalisten Jeffrey Goldberg auf die Frage geantwortet haben, ob Kuba immer noch gedenke, seinen Sozialismus in andere Länder »zu exportieren«. Später bestritt der máximo lider diese Aussage. Der inzwischen 84-jährige war seit einer schweren Darmblutung 2006 nicht mehr aktiv an den Regierungsgeschäften beteiligt. Sein fünf Jahre jüngerer Bruder Raul wurde nun auch formal zum Ersten Sekretär der PCC gewählt. Der ehemalige Verteidigungsminister und jetzige Vorsitzende des Staats- und Ministerrats ging mit seiner Partei schwer ins Gericht. Er verurteilte das Festhalten an alten Dogmen, sinnentleerten Ritualen und Parolen, oberflächliche und unkritische Debatten, sowohl in der Partei als auch in den Staatsmedien. Er rief die 1000 Delegierten zu strenger Selbstkritik und Neufindung der Partei auf; sie habe sich aus den Regierungsgeschäften zurückzuziehen und auf die eigentliche Rolle der politischen und ideologischen Führung zu besinnen. Die Partei dürfe nicht dekretieren, sie besitze auch keine Vollstreckungsgewalt, sondern habe durch moralische Autorität und Diskussionen mit der Bevölkerung zu überzeugen.

Breite Diskussionen waren dem Parteitag schon vorausgegangen. Drei Monate lang wurden Leitsätze für die anstehenden Reformen debattiert, die im November veröffentlicht worden waren. In 163.000 Versammlungen brachten nach offizieller Statistik fast neun Millionen Kubaner ihre Meinungen zum Ausdruck. Daraufhin wurden fast 30 Prozent der 312 Leitsätze geändert. Zwei wurden neu aufgenommen, einer davon betrifft die Erleichterung von Reisen ins Ausland. Ein Teil (beispielsweise über die stärkere finanzielle Autonomie der Gemeinden) wird in konkrete Gesetze gegossen, über andere Teile (wie die Förderung von Frauen und Afro-Kubanern) soll in Folgeversammlungen am Arbeitsplatz diskutiert werden, vor allem darüber, wie diese Beschlüsse am besten umzusetzen sind. Das Zentralkomitee der PCC hat seinen Frauenanteil bereits von 13 auf 42 Prozent, den Anteil der Afro-Kubaner von zehn auf 31 Prozent erhöht; 59 von 115 Mitgliedern wurden abgewählt. Das Politbüro hingegen wurde nur um drei jüngere Politiker ergänzt, das Durchschnittsalter bleibt bei 67 Jahren.

Die größte Herausforderung ist es, die Denkblockaden und Mentalitäten zu ändern, die sich über Jahrzehnte herausgebildet haben, so der neue Erste Sekretär. Von dem begonnenen Umbau werden nicht alle Kubaner profitieren. Einige werden gewohnte Privilegien und Einfluß verlieren. Allein die Reduktion von Parteigremien und -funktionen wird Folgen für die etwa 800.000 Mitglieder haben. Vor allem aber wird die notwendige Effizienzsteigerung im Produktionsbereich das Leben vieler Menschen verändern. Angekündigt sind der Ab- und Umbau von 1,5 Millionen Arbeitsplätzen im nächsten Jahrfünft. In einem Land, daß 50 Jahre formale Vollbeschäftigung gewohnt war, bedeuten diese Maßnahmen eine kleine Revolution. Kommissionen mit Vertretern aus den Gewerkschaften, dem Leiter der jeweils betroffenen Einrichtung und gewählten Vertretern der Beschäftigten sollen auf Grundlage der Qualifikationen und der Produktivität der einzelnen Kollegen entscheiden, wer entbehrlich ist. Damit kam man bisher nicht weit. Man stieß auf Probleme und Widerstände, die den Prozeß verlangsamten. Kubanische Zeitungen berichteten von Unregelmäßigkeiten, Verfahrensfehlern, Unkenntnis der genauen Regelungen, Beschwerden der Betroffenen. Offiziell heißt es, daß niemand vom Staat einfach vor die Tür gesetzt wird. Zumeist werden auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten (derzeit vor allem im Baubereich), die jedoch nicht immer den Qualifikationen oder Interessen der Betroffenen entsprechen. In Ergänzung dazu wird seit dem letzten Herbst ein Privatsektor ausgebaut, der 178 Tätigkeiten umfaßt, die nun legal ausgeübt werden können: vor allem kleine Dienstleistungen, die der Staat nicht (mehr) in der Lage ist zu erbringen, wie Transport, Lebensmittelverarbeitung, Handwerk. Noch sind fast 85 Prozent der Menschen direkt beim Staat beschäftigt. Die Begrenzung auf 178 Berufe, vor allem aber die sehr hohen Steuern, die teilweise im voraus zu zahlen sind, werden häufig kritisiert. Einige kubanischen Jungunternehmer sind bereits wieder aus dem Geschäft, zumal die Konkurrenz nun stark zugenommen hat und viele junge Selbständige nicht über die notwendigen Erfahrungen und/oder Geldmengen für längere Durststrecken verfügen.

Eduardo Ramos berichtet, wie seit der neuen Lizenzvergabe im Oktober 2010 nun 100 statt bisher 50 Fahrer wie er in den alten US-Karossen die Pendler von der Vorstadt San José nach Havanna fahren. »Dadurch habe ich weniger Fahrgäste und mehr Streß,« erzählt der 50-jährige gelernte Elektriker. Vicente Gómez hingegen hat sich vor kurzem als Handwerker selbständig gemacht und kann nun Aufträge legal annehmen, um anderen beim Häuserbau zu helfen. Er zahlt bisher 70 Pesos Steuern pro Monat. Neben der Legalisierung der Arbeit auf eigene Rechnung, einer Effizienzsteigerung der nationalen Wirtschaft, der Dezentralisierung und Entbürokratisierung des Staates erfährt vor allem auch die Landwirtschaft öffentliche Aufmerksamkeit. Nach der Verteuerung der Lebensmittel durch die Weltwirtschaftskrise machte der Regierungschef der Inselrepublik, die fast 70 Prozent ihrer Lebensmittel importiert, den größten Teil derzeit von den USA, die Sicherung der Ernährung zu einer Frage der nationalen Sicherheit. Mit dem Gesetz 259 ist seit Ende 2008 wieder die Verpachtung von ungenutztem Land bis zu 14 Hektar an Privatpersonen möglich. Mehr als 130.00 Kubaner haben seitdem Land erhalten. Auch in Deutschland lebende Kubaner, wie die in Berlin promovierende Maily Casanova, beteiligen sich an dem Aufbau einer privaten und kooperativen Landwirtschaft. Sie will mit ihrem Ersparten der Familie helfen, eine Schweinezucht einzurichten.

Die Klassiker des Marxismus, insbesondere Lenin, hätten davon gesprochen, daß in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft der Staat als Repräsentant des Volkes »Eigentum an den grundlegenden Produktionsmitteln« haben würde, zitiert Raul Castro in einer Parlamentsrede. »Wir haben dieses Prinzip verabsolutiert.« Nun werde dem Markt in Ergänzung zum planenden Staat eine größere ökonomische Rolle zugestanden. Angesichts der auch in Kuba gewachsenen Ungleichheit – die urbane Armut wird von der kubanischen Soziologin Mayra Espina auf mindestens 15 Prozent geschätzt – müsse eine Konzentration des Reichtums verhindern werden, sagte Castro und versicherte: »Wir wollen den Sozialismus nicht abschaffen, sondern verbessern.«