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Titel1015

Drachengrummeln  (Manfred Sohn)

Es gibt Hoffnungen, die einen wenigstens in Deutschland anscheinend alle politischen Lager. Dazu gehört die Hoffnung auf China. Für die einen liegen dort ganz handfeste Interessen: Auf der Bilanzpressekonferenz von Volkswagen (VW) wies Mitte März der Vertriebsvorstand Christian Klingler darauf hin, daß von den großen Hoffnungen in die BRICs-Länder (Brasilien, Rußland, Indien, China) angesichts der schlechten ökonomischen Entwicklung in den anderen ehemaligen Hoffnungsregionen nur noch das »C« übriggeblieben sei. 3,7 Millionen und damit ein Drittel aller vom Konzern produzierten Autos hat VW im Jahr 2014 dort verkauft.


Gleichzeitig wird die Volksrepublik regelmäßig herangezogen, wenn es um die Perspektiven des Kapitalismus weltweit geht. Zwar seien die Stagnationserscheinungen in den alten Hochburgen des Systems, so lautet das Argument, zugestanden – aber der Kapitalismus in China beginne sich ja erst zu entwickeln, und so öffneten sich dort auch für die alten Stammländer des Kapitals neue Absatz- und Entwickelungsperspektiven.


Angesichts dessen erhielt die Ankündigung des chinesischen Volkskongresses im März dieses Jahres, die Wachstumsziele auf 6,5 bis 7 Prozent zu reduzieren, einen hohen Nachrichtenwert auch in den hiesigen Medien. Ein genauerer Blick und weitere Meldungen legen die Empfehlung nahe, daß die eine oder andere Hoffnung nicht allzu hoch fliegen sollte, um sich selbst vor zu großen Absturzfolgen zu schützen.


Peking versucht gegenwärtig, so zeigt das ökonomische Zahlenwerk, mit einer ganzen Serie von Maßnahmen wenigstens das oben genannte reduzierte Wachstum zu halten. Die staatlichen Ausgaben sollen um knapp elf Prozent steigen – damit wird das staatliche Defizit wachsen in der Hoffnung, so kreditfinanzierte Impulse in der nichtstaatlichen Wirtschaft zu generieren. Die Schulden Chinas – Staat, Unternehmen, Banken und Haushalte zusammengerechnet –, die im Jahre 2000 noch bescheidene 2,1 Billionen Dollar betrugen, haben sich aber unter anderem durch die Konjunkturprogramme im Gefolge des Kriseneinbruchs 2008 auf 28,2 Billionen Dollar mehr als verzehnfacht.


Die chinesische Politik der Exportorientierung und der massiven Investitionen in die heimische Infrastruktur hat Kapazitäten aufgebaut, die verzweifelt Absatzmärkte suchen – »viele Schlüsselbranchen«, berichtete das Handelsblatt am 3. März, »leiden … darunter, schon zu viele Fabriken gebaut zu haben. Hochöfen, Zementwerke, Werften, Glashersteller – alle könnten mit vorhandenen Maschinen und Personal mehr als doppelt so viel ausstoßen. Kein Wunder, daß keiner mehr investiert.« Die New York Times wies am 11. März darauf hin, daß im Bereich der Stahlindustrie tausende von Stahlarbeitern entlassen worden seien, weil ihre Werke ihren Ausstoß zurückfahren oder sogar schließen mußten. Die, die nicht aufgeben, drücken ihre Produkte zu Niedrigpreisen auf den Weltmarkt: »China verschiffte die Rekordzahl von 100 Millionen Tonnen Stahl in den letzten zwölf Monaten bis Ende Februar – 55 Prozent mehr als die zwölf Monate vorher.« Diese verzweifelte Offensive ist einer der Hauptgründe für die schrumpfenden Margen, unter denen auch die europäische Stahlindustrie gegenwärtig leidet.


Die Verbissenheit, mit der die großen kapitalistischen Zentren der Welt, zu denen China mittlerweile gehört, miteinander um Absatzmärkte konkurrieren, nimmt zu. Nicht nur die EU greift dabei zum Mittel der Flutung der Geldmärkte mit dem Ziel, die eigene Währung zu verbilligen und so die heimische Exportindustrie zu entlasten. Auch China senkt seit Mitte 2014 kontinuierlich die Leitzinsen und pumpt Liquidität in die Märkte. »Auf den Märkten ist ein unausgesprochener Währungskrieg ausgebrochen«, zitiert das Handelsblatt David Woo von der Bank of America Merrill Lynch. Da der Export Chinas im ersten Quartal 2015 gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent eingebrochen ist und laut Handelsblatt vom 14. April dafür die Wechselkursveränderungen eine der Hauptursachen seien, muß sich dieser Krieg verschärfen.


China unterliegt denselben Mechanismen wie jedes andere Volk, das sich den Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Systems unterwirft. Um billiger als der Konkurrent zu produzieren, muß die Volksrepublik, wenn sie nicht ewig darben will, menschliche Arbeitskräfte durch Technik, also – in der Sprache von Karl Marx – lebendige Arbeit durch tote ersetzen. China versucht das, wie jüngst die Cebit-Messe in Hannover zeigte, mir großer Energie. 600 Unternehmer aus China haben ausgestellt, der dortige Informationstechnologie-Markt ist mittlerweile der zweitgrößte der Welt, und das für diesen Sektor prognostizierte Wachstum liegt mit knapp neun Prozent deutlich über dem Gesamtwachstum der chinesischen Wirtschaft. Also wird sich die Rationalisierung auch in China beschleunigen. Das Herausdrängen wenig qualifizierter Arbeitskräfte wird aber jetzt schon durch die Einstellung neuer, qualifizierterer Arbeitskräfte nicht kompensiert. Im Dezember 2014 berichtete die Wirtschaftswoche, daß im Jahre 2014 7,3 Millionen Chinesen ihr Hochschulstudium abgeschlossen hätten – vor 15 Jahren waren es noch eine Million. Dreißig Prozent von ihnen sind arbeitslos, und damit weist China eine verblüffende Parallele zu Spanien auf, wo die Arbeitslosigkeit ebenfalls gerade unter hochqualifizierten Jugendlichen vergleichbare Zahlendimensionen angenommen hat.


Die Mittelschicht, die sich bei der nachholenden Modernisierung, die in China an ihre Grenzen stößt, herausbilden sollte, entsteht zwar – aber eben, wie die Wirtschaftswoche leider zu Recht formulierte, »intelligent, hart arbeitend, aber unterbezahlt. Sie zählt … zur Unterschicht.« So kann man das Wegsacken der vielbeschworenen Mittelschicht in den Keller des kapitalistischen Systems auch formulieren.


Vor unseren Augen entfaltet sich ein weltweiter Wirtschafts- und Handelskrieg, getrieben vom »prozessierenden Widerspruch« (Marx) des Kapitalismus, der zu immer größeren Schwierigkeiten führt, die im eigenen Land herausrationalisierten Arbeitskräfte weiter zu »beschäftigen«. Alle in diesem System befangenen Volkswirtschaften versuchen folgerichtig, ihre Produkte zu immer niedrigeren Preisen in andere Länder zu exportieren. China, lange Zeit Hoffnung, als Entlastungsraum der USA und Europas in diesem Prozeß zur Verfügung zu stehen, schaltet systemlogisch grummelnd immer mehr auf Angriff um – gegenwärtig beschränkt noch auf das Feld der Ökonomie.