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Titel1017

Enfant perdu. Ein Brief von Schernikau  (Klaus Pankow)

Zwei Monate nach dem Fall der Berliner Mauer bekam der Leipziger Reclam Verlag Post von Ronald M. Schernikau (1960–1991). Hier der selbstbewusste verzweifelte Brief* eines »Communisten« (Ursula Püschel) und großen Dichters auf verlorenem Posten:

 

ronald m. schernikau

albert-norden-str. 241

Berlin 1153

 

lieber prof. opitz,

 

ich möchte sie fragen, ob sie DIE TAGE IN L. drucken wollen.

 

aufbau hat das buch zweimal abgelehnt, einmal kurz vor dem sturz honeckers,

einmal danach. die zweite ablehnung kam von elmar faber selbst, er wünsche

mit mir, das buch möge in der ddr erscheinen – aber nicht bei aufbau.

 

der punkt ist, drunter will ichs nicht machen, und was liegt auf der

selben ebene wie aufbau? nur noch reclam. nun könnten sie ganz mit dem

selben recht wie elmar faber mir antworten: lieber herr schernikau, sie

sind ein netter mensch, aber sie sind, nach allem was wir wissen, kein

moderner klassiker – und auf letztere hat sich reclam kapriziert.

ich weiß das schon, aber welche verlage gibt es noch? man könnte es, aus

trotz, beim militärverlag versuchen (ich spreche in vollstem ernst), und

alles andere ist nicht fein genug.

 

also, lieber prof. opitz, vielleicht fällt ihnen was ein.

 

ich grüße sie sehr

 

ronald m. schernikau

(handschriftlich): ps. die rechte für die ddr liegen bei mir.

 

Der Verlagsleiter versah das Schreiben mit der Notiz: »Koll. Pankow mit Bitte um Prüfung. 8.1.90«. Roland Opitz fiel so wenig wie mir etwas ein. Die DDR bricht doch eh zusammen. Schernikau erhielt keine offizielle Antwort.

 

Ronald M. Schernikaus Buch »DIE TAGE IN L. darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige denn mittels ihrer literatur« war 1989 im Hamburger Konkret Literatur Verlag erschienen. Ironischerweise hatte die Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten Berlin (West) die Herausgabe unterstützt, so sagt es jedenfalls das Impressum. Fast gänzlich unironisch spricht der Autor von einem »kundschafterroman«: »ein kundschafter, der die welt betreten darf, ist glücklich. leipzig ist die glücklichste zeit.« Mit dialektischer Schärfe und genauem Blick, mit unnachsichtiger Verliebtheit beschreibt Schernikau seinen Aufenthalt in der DDR, in Leipzig, während seines Studiums am Literaturinstitut Johannes R. Becher.

 

Wer gerade heute etwas über die Situation der meisten Intellektuellen zum Ende der DDR erfahren will, der soll in den Spiegel schauen, den Schernikau bereitstellt. »der junge punk, der sich im leipziger stadtpark von seinem freund die haare kürzen läßt, er muß mit diesen haaren auf seiner arbeit zurechtkommen. das muß sein punkkollege drüben nicht: er hat keine arbeit. die ddr kennt kein entrinnen.« Ronald M. Schernikau staunt und staunt über die saturierte Ignoranz der DDR-Bürger, über das alltägliche Gemeckere, über die dramatische Geschichtsvergessenheit. Aber er ist trotzdem gern im Osten, Menschen sind doch lernfähig, sie werden ihr Glück begreifen, so hofft er. Selbstverständlich ist er alles andere als naiv. Wahrscheinlich ist er der letzte DDR-Bürger.

 

Im Sommer 1989 wird Schernikau tatsächlich DDR-Bürger, emigriert aus West-Berlin nach Ost-Berlin. Postum erscheint sein Briefwechsel mit Peter Hacks unter dem Titel »Dann hätten wir noch eine Chance« (1992). Hacks ist ja ein »moderner klassiker«, auch ein Dandy, das ist Schernikau sympathisch. Sein Riesenwerk »legende« wird erst 1999 gedruckt und wartet immer noch darauf, wirklich entdeckt und erschlossen zu werden.

 

Ronald M. Schernikau hält wenige Wochen nach seinem Reclam-Brief eine Rede auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR Anfang März 1990. Das war eine Provokation, das wollte keiner hören: »Die DDR hat sich wehrlos gemacht, systematisch, mit offenen Augen ... Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen. Wer Bananen essen will, muß Neger verhungern lassen. Wer die Spaltung Europas überwinden will, muß den Westen siegen lassen.« Und: »Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, daß man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.« So spricht ein stolzer Verlierer, kein Nostalgiker. Enfant perdu.

 

* Originalbrief: Archiv Klaus Pankow