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Titel1108

Lenka von Koerber  (Dieter Götze)

Zu den bemerkenswerten Büchern, die vor einem Menschenalter ohne bornierte Vorurteile über die junge Sowjetunion berichteten – darunter Werke von Ludwig Renn, F. C. Weiskopf und Martin Andersen Nexö –, zählt Lenka von Koerbers noch 1933 in 5000 Exemplaren im Verlag Ernst Rowohlt erschienener Bericht »Sowjetrußland kämpft gegen das Verbrechen«. Die mutige Autorin stammte aus Westpreußen, wo sie 1888 als Helene von der Leyen, Tochter eines Rittergutsbesitzers, zur Welt gekommen war. Sie studierte Malerei in Berlin, bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges lebte sie in London. Als die Weimarer Verfassung 1919 den Frauen die formale Gleichberechtigung brachte, war sie eine der ersten, die Schöffin und Geschworene wurde. In ihren Erinnerungen beschreibt sie, welch starke Eindrücke bei ihr schon in der Kindheit Strafgefangene hinterließen, die sie durchs Fenster beobachten konnte. Nun, nach dem ersten Weltkrieg, als das Elend der Bevölkerung riesige Ausmaße annahm, wollte sie nicht über das Schicksal derer richten, die meist durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu Verbrechern geworden waren, sie wollte den Strafvollzug in seiner Gesamtheit kennenlernen, um zu erfahren, ob die Strafen tatsächlich den erzieherischen Wert besaßen, den man ihnen beimaß. Sie wurde freiwillige Anstaltshelferin im Frauengefängnis Fuhlsbüttel, später in den Zuchthäusern Waldheim, Bautzen und Straubing. Hier beobachtete Lenka von Koerber die Gefangenen und arbeitete nach der Entlassung an ihrer Wiedereingliederung. In zwei Büchern berichtete sie davon: 1928 »Meine Erlebnisse unter Strafgefangenen« (mit einem Schutzumschlag von Käthe Kollwitz), 1930 »Menschen im Zuchthaus«, ein Buch, dem sie Dostojewskis Satz voranstellte: »Wir sind alle für alle an allem schuld.« Sie selbst formulierte ihre Anliegen mit den Worten: »In unseren Händen ruht die Verantwortung für unsere schwächeren Mitmenschen, wir dürfen nicht gedankenlos verurteilen, wir müssen tatkräftig helfen ...«

Allmählich jedoch, besonders 1931/32, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, mußte sie, im Glauben an die Kraft eines tätigen Humanismus aufgewachsen, erkennen, daß der Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener in die Gesellschaft, einer wirksamen Verbrechensbekämpfung überhaupt, unüberwindbare Hindernisse entgegenstanden. Da erfuhr sie von erfolgreichen Ansätzen in der Sowjetunion, Asoziale dem gesellschaftlichen Leben wieder zuzuführen. Sie beschloß, das an Ort und Stelle zu studieren. Ihre Freundin Käthe Kollwitz riet ihr, Clara Zetkins Vermittlerdienste in Anspruch zu nehmen. Lenka von Koerber schrieb später über ihren Besuch bei der greisen Revolutionärin: »Zunächst holte ich mir in Leipzig einen Empfehlungsbrief vom Bruder Clara Zetkins, der mich seit 1918 aus der gemeinsamen Arbeit in der Demokratischen Partei kannte. Wir hatten beide auf dem linken Flügel gestanden, waren 1930 ausgetreten und parteilos geblieben. Anschließend fuhr ich zu Clara Zetkin und wurde nach telefonischem Anruf sogleich empfangen. Clara Zetkin war damals schon sehr krank und lag in der Mitte ihres großen Arbeitszimmers auf einem Ruhebett, umgeben von ihrer umfangreichen Bibliothek. Sie empfing mich mit Herzlichkeit und sagte, es hätte der Empfehlung ihres Bruders nicht bedurft; sie kenne meine Veröffentlichungen und würde sich sehr dafür einsetzen, daß ich von der Sowjetunion eingeladen würde, um die Arbeit in den Erziehungsanstalten für kriminelle Jugendliche kennenzulernen ... ›Es wird langsam gehen‹, setzte sie hinzu. ›Sie müssen denken, daß Sie der erste sind, der einen solchen Antrag stellt. Das Leben in der Sowjetunion ist zur Zeit sehr schwer. Man ist dort übermenschlich in Anspruch genommen.‹«

Clara Zetkin förderte Lenka von Koerbers Vorhaben tatkräftig, wandte sich deswegen an die verantwortlichen Stellen in Moskau und klärte die organisatorischen Fragen der Reise. Anfang Juli 1932 traf Lenka von Koerber in Moskau ein. Sie weilte sieben Monate in der Sowjetunion, besuchte zahlreiche Gefangenenanstalten und erhielt so einen tiefen Einblick in die Arbeit des Strafvollzugs. Sie war beeindruckt von den Ergebnissen, die bei der Umerziehung Krimineller schon erreicht worden waren. In Moskauer Gefangenenanstalten lernte sie solche Formen der Umerziehung wie Kameradschaftsgerichte, Zirkelarbeit, kulturvolle Freizeitgestaltung kennen und überzeugte sich von ihrer Wirksamkeit. Ergebnis der ausgedehnten Reisen war das Buch, das sie noch während ihres Aufenthalts in Moskau schrieb. Besonders ausführlich berichtete sie über die erfolgreiche Umerziehung, die sie in der Kommune Boschewo und in der von Makarenko geleiteten Dzierzynski-Kommune bei Charkow kennengelernt hatte. Zusammenfassend schrieb sie: »Ich vergleiche meine eigenen Erfahrungen in Deutschland mit dem Beweismaterial Rußlands. Wiederholt habe ich in intensiver Einzelarbeit an Kriminellen erlebt, welche positiven Kräfte in ihnen stecken und daß eine richtige Einordnung und kameradschaftliche Hilfe ihre völlige Umstellung bewirken kann. Dem aufrechten Rechtsbrecher ist jede Wohltätigkeit und Barmherzigkeit um des guten Werkes willen verhaßt. Nur wenn ihm zweckmäßig geholfen wird, daß seine Umstellung wichtig und über sein eigenes Schicksal hinaus nützlich ist, kann man ihn für das neue Ziel mobilisieren. In Sowjetrußland sehe ich mit einer Selbstverständlichkeit, die ständig neue Formen sucht, verwirklicht, was ich erstrebte. Und das alles ist in einen großen Rahmen gestellt, verbunden mit dem kulturellen Auftrieb eines ganzen Landes, gestützt durch die vielen Arbeitsmöglichkeiten des Fünfjahrplans, getragen von dem Wissen um noch unerschlossene Möglichkeiten. Dabei machen Mißerfolge nicht müde und lebensfern, sondern sie spornen an zu genauerer Forschung, zu besserer Orientierung, zum ›Verbessern der Fehler‹, wie die Russen es ohne jede Schönfärberei nennen.«

Die Autorin kehrte in ein Deutschland zurück, in dem faschistischer Terror und Antibolschewismus regierten. Trotzdem erklärte sich Ernst Rowohlt bereit, ihr Buch herauszubringen – »ein erhebliches Risiko«, wie Lenka von Koerber schrieb, »aber Rowohlt wagte es«. So erschien das Werk 1933 zugleich in Deutschland, in der Sowjetunion, in London und New York. Die Nazis beschlag-nahmten es 1934 mit anderen Publikationen Lenka von Koerbers.

Nach der Befreiung vom Faschismus spielte sie im kulturellen Leben Leipzigs eine bedeutende Rolle. Sie starb 1958.