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Dersim  (Norman Paech)

Alljährlich am 24. April gedenken in zahlreichen Städten der Türkei, aber auch in Europa und den USA viele Menschen des Völkermordes an den Armeniern. So fanden auch in diesem Jahr Gedenkfeiern in Ankara, Istanbul, Izmir, Bursa, Bodrum und Diyarbakir statt. Aber die türkische Regierung ist immer noch nicht bereit, der Geschichte offen gegenüberzutreten und die unleugbaren Tatsachen als solche anzuerkennen. Stattdessen rügt sie US-Präsident Obama scharf für seine Worte, daß Geschichtsverleugnung das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien blockiere und eine »vollständige, offene und wahre Anerkennung der Fakten« notwendig sei. Außenminister Davutoglu beließ es dabei, diese »einseitige und falsche« Betrachtung zu verurteilen. Premierminister Erdogan hingegen ging weiter. Er verfügte den Abriß des Denkmals, das der Bildhauer Mehmet Aksoy zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern in Kars geschaffen hatte. Als würde es nicht genügen, die Wahrheit zu leugnen, nein, auch die sichtbaren Bemühungen um die Versöhnung zweier Nachbarvölker müssen noch zerstört werden.

Das sind keine guten Voraussetzungen, sich mit einem anderen Massaker in der kaum hundertjährigen Geschichte der Türkei zu befassen, das ebenfalls alle Zeichen eines Völkermordes trägt. Es geht dabei nicht nur um die Zahl der Toten, die die Bevölkerung von Dersim als Opfer ihres Aufstandes von 1937/38 zu beklagen hatte; die Zahl schwankt zwischen 30.000 und 70.000 Toten. Entscheidend sind vielmehr die Absichten, mit denen dieser letzte große Aufstand der Kurden bis zur Wiederaufnahme der Kämpfe durch die PKK 1984 niedergeschlagen wurde: Zerstörung, Deportation, Mord. Denn es ging nicht nur um die Bekämpfung eines Aufstandes, sondern um die Vernichtung einer religiösen Gruppe des kurdischen Volkes: der Alewiten.

In der Konvention von 1948, die den Völkermord als schweres völkerrechtliches Verbrechen verbietet, heißt es in Artikel 2: »In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.« Zu diesen Handlungen zählt die Konvention die »Tötung von Mitgliedern der Gruppe«, die »Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe« oder die »vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen«. Alle Umstände und Überlieferungen des Massakers in Dersim weisen eindeutig auf Genozid hin.

Zum besseren Verständnis müssen wir kurz einen Blick auf die Geschichte der Gegenwehr der Kurden gegen die gnadenlose Zwangsassimilierung im jungen türkischen Staat werfen. Aufstände der Kurden hatte es bereits im Osmanischen Reich gegeben. Einzelne kurdische Fürsten- und Scheichtümer opponierten gegen die Zentralisierungsbestrebungen der osmanischen Herrschaft, konnten sich aber auf keine gemeinsame Idee, keine Massenbewegung stützen, blieben isoliert und waren der osmanischen Streitmacht nicht gewachsen.

Anders nach der Gründung des türkischen Staates 1923, als die Hoffnung der Kurden auf einen unabhängigen Staat, wie er ihnen noch im Vertrag von Sèvres versprochen worden war, in der kemalistischen Assimilierungspolitik wieder unterging. Die osmanische Herrschaft hatte noch die vielfältigen kulturellen, sprachlichen und religiösen Gemeinschaften anerkannt. Kemal Atatürk dagegen sah seine Aufgabe in der Homogenisierung einer heterogenen Gesellschaft, um eine türkische Nation zu bilden. Dieses Projekt der Türkisierung vertrug sich nicht mit der Anerkennung unterschiedlicher kultureller und ethnischer Identitäten. Sie wurden rigoroser Zwangsassimilierung unterworfen, die mit einem vagen Konzept der westlichen Modernisierung begründet wurde, um den »Anschluß an die westliche Zivilisation«, wie es damals hieß, zu erreichen. Nicht nur, daß die kurdische Sprache abgeschafft wurde, die Große Nationalversammlung der Türkei erließ Gesetze – das Gesetz über Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, das Gesetz über die Generalinspektorate und das Umsiedlungsgesetz –, die systematische Repression und Deportationen sowie auf kurdischer Seite Rebellion und Separatismus zur Folge hatten.

Zwischen 1925 und 1938 kam es zu mehreren Aufständen, die dazu führten, daß das von Loyalität geprägte Zusammenleben der beiden Völker im Osmanischen Reich zerbrach. Das, was wir heute die kurdische Frage nennen, entstand in diesen Jahren. Man kann von einem neuen kurdischen Zeitalter sprechen, welches auf den Trümmern der osmanischen Identität eine neue kurdische Freiheit gründete. Azadi (Freiheit) war der Name der Geheimorganisation, die den Widerstand gegen die kemalistische Assimilierung organisieren sollte. Der erste große Aufstand von 1925 scheiterte an seiner regionalen Begrenzung und mangelnden Vorbereitung. Der zweite zog sich über die Jahre 1927 bis 1930 hin, wiederum koordiniert von einer von Exilkurden gegründeten Organisation mit dem aufschlußreichen Namen Xoybun (Unabhängigkeit). Diese Organisation konnte zum ersten Mal die Idee der Einheit aller kurdischen Gruppierungen mit dem Ziel eines unabhängigen Staates verbinden und dem türkischen Unterdrückungs- und Kontrollapparat entgegensetzen. Auch dieser Aufstand kostete viele Opfer und endete mit der Flucht oder Hinrichtung seiner Führung. Ihm folgte die sukzessive Kontrolle der übrigen kurdischen Regionen durch planmäßige Vertreibung und Assimilierung.

Nur ein Gebiet widerstand: die Region um die Stadt Dersim, die fast ausschließlich von alewitischen Kurden bewohnt war. Sie war auch die einzige, die einen autonomen Status innerhalb der Grenzen der Türkei eingefordert hatte. Um diese letzte Festung der Kurden zu erobern, erließ die Große Nationalversammlung im Dezember 1935 das Gesetz über die Verwaltung von Tunceli, mit dem nicht nur der Name Dersim untergehen sollte. Schon 1931 sagte der Oberbefehlshaber der Armee, Feldmarschall Fevci Çamak: »Vorerst soll Dersim wie eine Kolonie betrachtet werden, unter der türkischen Oberhoheit soll das Dersimtum vernichtet und danach dem türkischen Rechtswesen unterworfen werden.«

Wie ernst es der türkischen Führung mit der Kolonisierung, ja Vernichtung dieser alewitisch-kurdischen Enklave war, zeigt die Rede Kemal Atatürks zur Eröffnung des Parlaments im Jahre 1936: »Wenn es etwas Wichtiges in unseren inneren Angelegenheiten gibt, dann ist es nur die Dersim-Angelegenheit. Um diese Narbe, diesen furchtbaren Eiter in unserem Innern, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen, egal was es koste, und die Regierung muß mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet werden, damit sie dringend erforderliche Entscheidungen treffen kann.«

In den Provinzen Dersim, Elazig und Bingöl wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, obwohl es noch keine Anzeichen für einen Aufstand gab. Dieser entwickelte sich erst, als die Schikanen, Erniedrigungen, Zerstörungen und Vertreibungen derart zunahmen, daß es nur einer tödlichen Konfrontation mit der Polizei bedurfte, um in kürzester Zeit mehr als 80.000 Kämpfer (nach kurdischen Angaben) zu rekrutieren, um sich gegen die erdrückende Herrschaft zur Wehr zu setzen. Die Gegenoffensive der türkischen Armee folgte unmittelbar, nachdem der Ministerrat unter Beteiligung von Kemal Atatürk am 4. Mai 1937 beschlossen hatte. »Diesmal ist das aufständische Volk aus diesem Gebiet zu sammeln und in ein anderes Gebiet zu deportieren. Während dieser Zusammenlegungsaktion sind einerseits alle Waffen dort zu sammeln, andererseits die dort Festgenommenen mit der gleichen Intensität zu deportieren …. Achtung: Wenn man sich nur mit Angriffsaktionen begnügen würde, würden die Aufstandsquellen für immer dort weiter existieren. Aus diesem Grunde sind alle, die eine Waffe benutzt haben und benutzen, an Ort und Stelle bis zum Schluß in eine Lage zu bringen, daß sie keinen Schaden mehr anrichten können, die Dörfer sind gänzlich zu vernichten und ihre Einwohner zu deportieren.« Seitdem wird dieser Tag in der kurdischen Geschichte als der Beginn des Dersim-Genozids bezeichnet.

Deutlicher kann man das Ziel der Operationen gegen Dersim nicht beschreiben, es lautete: Vernichtung der Rafizi, der »Rotköpfe«, womit die Alewiten gemeint waren. Etliche überlieferte Erinnerungen von Militärs, die an dem Feldzug teilgenommen haben, sprechen ungeschminkt von dem Auftrag, der ihnen die Vernichtung befahl. Diese wurde mit aller Konsequenz und Grausamkeit durchgeführt. Frauen, Kinder und alte Menschen, die sich in Höhlen versteckt hatten, wurden ausgeräuchert und durch Giftgas getötet. Kinder wurden enthauptet, schwangere Frauen mit Schwertern ermordet. Der kriegerische Mob muß derartige Angst verbreitet haben, daß sich Frauen die Felsen hinuntergestürzt haben sollen, um nicht in die Hände der türkischen Soldaten zu fallen. Zahlreiche Dörfer wurden durch Bombenhagel und Artillerie in Schutt und Asche gelegt.

Anfang 1938 war auch dieser Aufstand niedergeschlagen. Der Völkermord brachte die Kurden für Jahrzehnte zum Schweigen, sie wurden aus den Geschichtsbüchern getilgt, ihre Sprache verbannt, ihre Identität geleugnet.
Wenn wir heute dieser schrecklichen Ereignisse gedenken, müssen wir erkennen, daß sich viel verändert hat. Der Kampf der Kurden ist seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder aufgelebt. Er hat dazu geführt, daß die Identität des kurdischen Volkes und das Bewußtsein seiner eigenen Geschichte in den Massen verankert ist und immer mehr auch von der türkischen Gesellschaft anerkannt wird. Allerdings wird noch etliche Zeit verstreichen und die türkische Gesellschaft sich erheblich verändern müssen, um den Kurden muslimischen, alewitischen oder anderen Glaubens den Platz einzuräumen, der ihnen ein gleichberechtigtes und diskriminierungsfreies Leben garantiert.

Emine Ülker Tarhan, die Präsidentin des Berufsverbandes der Richter und Staatsanwälte, die im März dieses Jahres von ihrem Amt als Oberste Richterin in Ankara zurücktrat, hat jüngst in einer Rede in Frankfurt am Main auf den desolaten demokratischen Zustand ihres Landes aufmerksam gemacht. Dabei sagte sie auch folgendes: »Religionsfreiheit genießen bei uns nur die sunnitischen Muslime. Unser Ministerpräsident behauptet, die Mehrheit der Richter an den obersten Gerichten seien Alewiten. Sie sind ihm wegen ihrer laizistischen Weltsicht ein Dorn im Auge. Bei der jüngsten Wahl des Obersten Gerichtshofs ist der Anteil der Alewiten fast auf null gesunken.« Sie malte ein finsteres Bild der Republik: »Das derzeitige Klima in der Türkei gleicht den Verhältnissen in George Orwells Buch ›1984‹. Denn das Vorgehen unserer Regierung unterscheidet sich nicht im Geringsten davon, wie Big Brother in seinem Angstimperium die Gedankenpolizei in Gang setzt, um Gedanken zu zerstören. Der Polizeistaat steht nicht nur vor unserer Tür, er hämmert mit dem Rammbock dagegen« (zitiert nach FAZ vom 8. April 2011).

Daß die Alewiten nunmehr eines der schwärzesten Kapitel ihrer Geschichte gedenken können, bedeutet aber, daß sie trotz allem überlebt haben. Wenn heute von den 119.298 Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 33.568 aus der Türkei stammen, so verweist das nicht nur auf den beklagenswerten Zustand der Menschenrechte in der Türkei, sondern auch auf den Widerstand, der sich dagegen regt. Gedenken, sich erinnern, nicht vergessen und dies öffentlich bekennen, ist Widerstand – allerdings nur ein Teil des Widerstandes, der notwendig ist, die Verhältnisse zu ändern.

Norman Paech sprach am 7. Mai in Hamburg auf einer Gedenkveranstaltung der Alewiten.