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Titel1112

Bemerkungen

Selbstbedienung für Beamte
Unser von Beamten majorisiertes Parlament wird nach den Plänen der Bundesregierung demnächst wieder mal gut für die eigenen Leute sorgen. Die Beamtenpensionen und ebenso die Gehälter der aktiven Beamten, Soldaten und Richter sollen um 3,5 Prozent steigen, während die Rentner mit 2,18 Prozent im Westen und mit 2,26 Prozent im Osten abgespeist werden sollen. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen den im Grundgesetz verbürgten Gleichheitssatz, der ja auch für das Verhältnis von Ruhestandsbeamten zu Rentnern gelten soll. Aber der Gleichheitssatz fällt der mächtigen Lobby der Beamten immer nur dann ein, wenn sich daraus Nachteile für die Rentner ergeben. So zum Beispiel als es um die mit ungeheurem Verwaltungsaufwand eingeführte höhere Besteuerung der Renten ging. Wenn es dagegen um Krankenversorgung und Sicherheit des Arbeitsplatzes geht, die den Beamten keine Sorge bereiten, ist vom Gleichheitssatz nicht die Rede. Und ebenso wird jetzt den Rentnern zugemutet, die für sie vorgesehenen Zahlungen an einer saftigen Erhöhung der Beamtenbezüge zu messen. Wie lange wollen wir Rentner dazu eigentlich noch schweigen? Wir sind immerhin 20 Millionen.

Heinrich Hannover


Luftbuchungen
Lärmgeschädigte in Spandau und Pankow müssen weiter leiden, die Mahlower und Müggelsee-Anwohner können vorerst ruhig schlafen wie gewohnt: Bis auf weiteres wird der neue Berliner Flughafen nicht in Betrieb gehen. Das einzige, was am neuen europäischen Luftkreuz in die Höhe steigt, sind die Kosten. Großprojekte wie der »Willy-Brandt-Airport«, die Hamburger Elbphilharmonie oder Stuttgart 21 haben eines gemeinsam: Aus Baugruben werden Goldgruben, sobald jene Menge Beton vergossen ist, die den nötigen Sachzwang zum Weiter- und Fertigbau schafft. Das mußten nun auch die ahnungslosen Bruchpiloten Platzeck und Wowereit erfahren. Während der eine die Faust in der Tasche ballte, ging der andere routiniert zur Tagesordnung über. Die beiden Landesherren stehen zu ihrer Ohnmacht, sie sitzen schließlich im Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft. Das bringt zwar ein kleines Zusatzeinkommen, aber das große Geld machen andere. Für Stuttgart 21 werden übrigens noch Wetten angenommen ...
kazper


Ein rätselhaftes Signal
»Das ist ein klares Signal nach Berlin!« – so Hannelore Kraft am Abend nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl. Wem in der deutschen Hauptstadt was signalisiert wurde, hat uns die künftige Ministerpräsidentin nicht verraten. Wir sind also auf Vermutungen angewiesen, auch was die Frage betrifft, wer denn als Signalsender gelten soll. Die zahlreichen WählerInnen, die der CDU den Rücken gekehrt haben? Diejenigen, denen die SPD (wieder) vertrauenswürdig erscheint? Oder die reanimierten FDP-Fans? Sollte der SPD-Parteiführung in Berlin mitgeteilt werden, daß sie bei nächster Gelegenheit eine Person ihres Vertrauens ins Amt des Bundeskanzlers bringen könne, mit grüner Begleitung? Eine SPD-Kanzlerin wird nicht gemeint gewesen sein, denn Hannelore Kraft will bodenständig bleiben. Oder richtete sich die Botschaft an Angela Merkel, sie solle Röttgen entsorgen und sich darauf einstellen, nach der nächsten Bundestagswahl die SPD als Partnerin in die Regierung zu nehmen? Oder anders: Sollte signalisiert werden, daß die FDP auch im Bund weiter mitspielen kann, sogar in der Regierung, wenn nur der Medienliebling Christian Lindner an die Stelle des tolpatschigen Philipp Rösler tritt? Vielleicht kommen auch die WählerInnen der Piraten als Signalgeber in Betracht, etwa so: Altparteien, richtet Euch auf einen neuen Anbieter im Politmarkt ein, einen wahrscheinlich demnächst koalitionsbereiten.

Möglicherweise enthielt das Signal nach Berlin auch eine Botschaft, die gar nicht auf die Operationen der einzelnen Parteien, sondern auf das allgemeine Politikgeschäft gerichtet war. Da käme in Betracht: Es ist anzuraten, vor der Aufstellung von Spitzenkandidaten in den Chefbüros des Medienkartells nachzufragen, ob die betreffende Person dort als gut verwertbar angesehen wird. Zu beachten sind ferner beim politischen Marketing regionale Spezialitäten, unter anderem der Geschmack an Wurst- und Fleischwaren. Mit starker Vergeßlichkeit des Publikums dürfen die Politstrategen getrost rechnen, beispielsweise war dem Wahlvolk der SPD in Nordrhein-Westfalen nicht mehr in Erinnerung, daß auch Gerhard Schröder, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück gern von sozialer Gerechtigkeit gesprochen hatten. Protestparteien schaden dem Politikbetrieb nicht, solange sie den Finanzmarkt unbehelligt lassen. Daß ein großer Teil der stimmberechtigten Bevölkerung bei der Wahl stumm bleibt, ist kein Problem. Positionen werden anhand von Prozenten verteilt; problematisch würde es erst, wenn die Leute, die nicht zur Urne gehen, sich demonstrativ auf die Straßen begeben.

Versteht man unter »Berlin« das derzeit herrschende Muster von Parteien- und Parlamentspolitik, so ist von der Wahl in Nordrhein-Westfalen kein Signal ausgegangen, das dessen Nutzer dazu bringen könnte, an sich selbst zu zweifeln. Ihnen wird es so erscheinen, als könne es beim üblichen Geschäft bleiben, mit schnellerem Auswechseln verbrauchten Führungspersonals freilich. Die Ahnung, daß eine solche Rechnung nicht aufgehen kann, weil die wirtschaftliche und soziale Krise in anderen europäischen Ländern auf die Bundesrepublik zurückschlagen wird, bleibt noch im Unterbewußtsein. Verdrängung von Realität in den Köpfen der politischen Klasse – wie historische Vorgänge zeigen, ist dies ein Zeichen von Systemschwäche. Auch in »Berlin« wird sich herausstellen: Die Fundamente sind brüchig, die Fassaden täuschen.
P. S.


Kinderpiraterei
Ungewöhnlich sanft gehen die deutschen Medien mit den Aufsteigern im Parteienwesen um, der Tenor ist etwa so: Gedanklich wirr seien sie ja, die Piraten, aber eine Frischzellenkur könne dem deutschen Politiksystem nicht schaden. An originellen Ideen fehlt es den Neulingen tatsächlich nicht, so hat jetzt zum Beispiel ein Piratenlandesverband gefordert, das Wahlberechtigungsalter auf zwölf Jahre herabzusetzen. Was den Kommentatoren nicht auffiel: Da offenbart sich Marketingdenken! Denn käme es zu Kinderwahlen, hätte die neue Partei einen einzigartigen Vorteil – mit ihrem Namen können schon Zwölfjährige etwas anfangen. Allerdings regt das zur nächsten Parteibildung an: Noch weiter runter mit dem Wahlalter und dann die Micky-Maus-Partei gründen! Mit einer Realisierung ihres Vorschlages werden die Piraten wohl nicht rechnen. Was macht’s, sie sind einmal mehr in die Zeitungen gekommen, und wer von den etablierten Parteien unendlich angeödet ist, läßt sich von der Neigung zum neuen Angebot auch durch Nonsens nicht abschrecken.
Marja Winken

Euro-Truppen nach Athen?
Die Griechen, gefühlsbestimmt wie sie nun mal sind, wollen schon wieder wählen, die Aufseher der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds haben das nicht verhindern können. Und nun besteht die Gefahr, daß ein »linksradikales« Wahlbündnis an die Regierung kommt. »Radikal« bedeutet hier: Diese griechischen Linken wollen Europäer bleiben, aber die »Spar«-Auflagen für ihr Land neu verhandeln. Daß ein noch größerer Teil der Bevölkerung ihres Landes ins Elend getrieben wird, möchten sie verhindern. Deutsche PolitikerInnen und Medien sind über die griechische Unbotmäßigkeit entsetzt. Die Griechen, sagen sie, brauchen externe Anleitung, damit sie nicht »radikal« wählen. Eine letzte Mahnung sei fällig – und wenn diese von den Wählerinnen und Wählern nicht beachtet wird? In der Frankfurter Allgemeinen winkt Michael Martens, Redaktionsexperte für balkanische Krisengebiete, den Griechen mit dem Zaunpfahl: »An internationale Schutztruppen, wie sie weiter nördlich zur Stabilisierung taumelnder Staaten stationiert sind, wird man hoffentlich nicht denken müssen.« Das ist feinsinnig formuliert, es ließe sich auch so ausdrücken: Wenn die Griechen falsch wählen, wird auf der Akropolis die Euro-Fahne gehißt – von Militäreinheiten der EU, unter Beteiligung der Bundeswehr. Zum Schutze der Griechen vor sich selbst, vor demokratischen und sozialen Anwandlungen.
Peter Söhren


Jauch-Effekte
Harald Schmidt – wer ist das? Günther Jauch – der weiß, wie Quote zu machen ist. Neulich erst hat er dem Publikum seine Souveränität gezeigt: Ein Störenfried der Talkshow wird von den Wachleuten unsanft aus der Fernsehszene weggezerrt. Jauch greift ein, holt den Mann zurück und stellt ihn besänftigend ruhig. Die Kommentatoren loben den Showmaster. Verschwörungstheoretisch wäre die Frage, ob es sich vielleicht um einen bestellten Zwischenfall gehandelt hat. In derselben Sendung ein weiteres Highlight: der geschäftsführende Pirat Johannes Ponader – ohne Socken, mit Sandalen, das Smartphone zur Hand, gelangweilt twitternd. Die Talkdauergäste, speziell Renate Künast, waren sichtlich genervt. Aber sie hätten Jauch dankbar sein sollen, denn ohne den Freibeuter wären die Zuschauer ins Gähnen gekommen. Allerdings hatte auch Jauch mit Ponader seine Schwierigkeiten, der verhielt sich unerwartet pomadig, und so wurde er denn ob seines anhaltenden »buddhistischen Lächelns« abgemahnt, auch Jauchs religiöse Toleranz hat offenbar ihre Grenzen.

Wie nun weiter? Der Zweitgebrauch solcher Effekte ist nicht zu empfehlen, also müssen neue Ideen her, um Aufmerksamkeit für gesellschaftspolitische Pseudodiskurse zu erzeugen. Ein Vorschlag (nicht gebührenpflichtig): Jauch läßt Arnulf Baring im Nachthemd auftreten, und Gertrud Höhler greift zur Wasserpistole, um gegen diesen Werteverlust des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu protestieren.
M. W.


Blockupy
Verbot über Verbot für Demonstranten, ein Heer von Polizisten in der Stadt, S- und U-Bahnen gesperrt, »vorsorgliche« Festnahmen und Aufenthaltsverbote, das Quartier des wichtigsten lokalen Wirtschaftszweiges nach außen abgesichert – wie schön empört hätten die deutschen Leitmedien, von Bild bis Spiegel online, das zu ihrer Titelstory machen können. Wenn es beispielsweise in Moskau stattgefunden hätte. Aber Ort der Handlung war die deutsche Bankenmetropole. Und die Adresse des Protests die Finanz- »Markt«-Diktatur, nicht etwa ein osteuropäischer Machtinhaber. Also beschränkte sich unsere völlig freie Presse, bis auf die lokale Frankfurter Rundschau, auf knappe Berichterstattung. Zwei Böller gaben etwas her für den Titel des kurzen Reports in Welt online. Hätten die Demonstranten, etwa 25.000 waren es immerhin, doch Randale gemacht, dann wäre die Bedrohung der inneren Sicherheit durch linke Gewalt wieder einmal massenmedial nachweisbar gewesen. Und jene Banker, die sich in ihre Taunusvillen zurückgezogen hatten, wären zu Ehren gekommen, als Beinaheopfer der Chaoten. Behördlicher Angriff auf das Versammlungs- und Demonstrationsrecht? Kein Thema für deutsche Berichterstattung über Deutschland. Zum Frankfurter Stadtregime, das »Staatsschutz« in erweiterter Form praktizierte, gehören auch die Grünen. So finden sich zusammen: der feste Wille, die Finanzzentren vor jeder Belästigung durch niederes Volk zu bewahren, und die Sorge, Frankfurter Fahrradwege könnten durch Demonstranten verschmutzt werden.
P. S.


Maske runter
Wissenschaftler, die in DDR-Zeiten an Universitäten und Hochschulen lehrten oder an Akademie-Instituten forschten, haben inzwischen in stattlicher Zahl ihre Erinnerungen geschrieben. Zu den Verfassern gehören die Historiker Joachim Petzold (2000), Fritz Klein (2001), Gerhard Fuchs (2001/2007), Peter Schäfer (2007) und Jan Peters (2011), des weiteren und bislang unübertroffen der Germanist und Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei (2004), der Philosoph Alfred Kosing (2008), aber auch Naturwissenschaftler wie der Dermatologe Niels Sönnichsen (2000), der Chi-rurg Karl Friedrich Lindenau (2002), der Kernphysiker Dieter Seeliger (2010).

Diese Folge hat jüngst der Berliner Mediävist Eckhard Müller-Mertens – bereichert? Das läßt sich nicht rechtens sagen, also: vermehrt. Dem Band dürfte eine Ausnahmestellung sicher sein. Und das nicht wegen seines sich blähenden Untertitels, sondern wegen der gründlichen Demaskierung oder Selbstentlarvung. Der Autor erklärt, daß es ihm über Jahrzehnte, etwa seit der Mitte der fünfziger Jahre bis zum Ende der DDR gelungen sei, seine wahre politische Haltung zu verbergen, die durch eine sich bis zur Feindschaft steigernde Ablehnung von Staat und Gesellschaft in Ostdeutschland gekennzeichnet gewesen sei. Das gelang ihm nicht in irgendeinem Nischendasein, sondern als ein auf mehreren Bühnen agierender Bürger, nicht nur vor Generationen von Studenten und seinen engen Mitarbeitern, sondern ebenso auch in den Mitgliederversammlungen der SED, als Leiter der Fachrichtung Geschichte, als Funktionär in der Historiker-Gesellschaft, als Angehöriger der DDR-Delegationen zu Internationalen Kongressen der Historiker und als Mitglied in allerlei Räten und Kommissionen. So konnte der 1923 geborene und 1988 emeritierte Hochschullehrer die »Wende« nur als eine Befreiung empfinden. Zwei Jahrzehnte später hat er sich seiner Maske nun auch öffentlich entledigt. Ein Leser seines Buches, der Fachkollege Michael Borgolte, der 1991 von Bamberg nach Berlin an die Humboldt-Universität berufen wurde, schließt seine Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Februar 2012 mit dem Satz: »Daß er allerdings keinen Gedanken darauf verschwendet hat, was der Nachweis einer dreißigjährigen Lüge noch heute für seine Schüler und Kollegen bedeuten muß, ist erschütternd.« Das ist ein nobel gesetzter Einwand. Doch sollte die Wirkung des Buches auf die Mißachteten nicht überschätzt werden.
Kurt Pätzold

Eckhard Müller-Mertens: »Existenz zwischen den Fronten. Analytische Memoiren oder Report zur Weltanschauung und geistig-politischen Einstellung«, Leipziger Universitätsverlag, 560 Seiten, 49 €



Arbeiten bei Aldi
»Aldi – Einfach billig« heißt der Titel eines Taschenbuchs, das einen tiefen Einblick in die »Unternehmenskultur« des Discounters gibt. Der Autor Andreas Straub war nach seinem Studium Internationaler Wirtschaftslehre von 2007 bis 2011 bei Aldi Süd tätig. Nach der Kündigung brach Straub das Schweigen, das den Discounter wie eine Nebelwand umhüllt, und berichtet nun über Erlebnisse und Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag im Aldi-Süd-Konzern.

Tag für Tag stehen die Angestellten in den Supermärkten unter extrem hohem Arbeitsdruck, sind Einschüchterungen und Willkür ausgesetzt. Perfide Überwachung der Angestellten gehört zur Personalpolitik. Rigide ist auch Aldis Umgang mit seinen Lieferanten. Die Hersteller werden gegeneinander ausgespielt, um Preise zu drücken. Andreas Straubs Schilderungen geben ein erschreckendes Beispiel für die Verrohung der Arbeitswelt. In seinem Vorwort »Billig kostet!« stellt Günter Wallraff fest: »Aber auch dieser Discounter, zu dem geizgeile pelzbehangene Damen ebenso laufen wie die mit jedem Euro rechnenden Hartz-IV-Empfänger, hat reichlich viel Dreck am Stecken. Oder anders gesagt: Leider sorgt Aldi dafür, daß es seinen Beschäftigten sehr dreckig gehen kann, wenn sie dort ihr Brot verdienen müssen.«

Die »Geiz ist Geil«-Mentalität hat zur Konsequenz, daß sich die Qualität der Waren und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten permanent verschlechtern. Kern des Aldi-Leitbilds ist die Politik niedriger Preise. Wie fatal sich das auswirkt, zeigt der rororo-Band.
Karl-H. Walloch

Andreas Straub: »Aldi – Einfach billig«, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 336 Seiten, 8,99 €



Walter Kaufmanns Lektüre
Sie weiß sich mit Genauigkeit zu erinnern. Eine einzige Begegnung genügte Christa Wolf, um in ihrer Dankesrede zum Uwe-Johnson-Preis den Mann aus Mecklenburg in all seinen Eigenarten vor Augen führen zu können. Da brauchte es nur noch wenige Erläuterungen zu seinem Werk.

»Rede, dass ich dich sehe« erlaubt eine Vielfalt von Deutungen. Diese fünf Worte kennzeichnen trefflich die Sammlung von Essays, Reden und Gesprächen Christa Wolfs. Klarheit! Und wie nachvollziehbar ihre Gedanken sind, weil fast immer eingebettet in Selbsterlebtem! Wenn sie von der Bedeutung von Thomas Manns Doktor Faustus in ihrem Leben schreibt, nimmt sie uns zugleich auch mit auf ihrer Suche nach Thomas Manns Haus im kalifornischen Santa Monica, wo er den Roman in den Jahren 1943 bis 1947 schrieb. Jede Seite dieser Sammlung offenbart Christa Wolf, man erlebt eine Frau, die sich nicht weise nennen lassen will, sondern hinter Worte wie Gelassenheit und Erfahrung zurücktritt. Ihre Äußerungen über spanische Literatur, die sie anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Madrider Universität sprach, sind von der Art, daß man augenblicklich die von ihr erwähnten Werke zur Hand nehmen möchte. »Wir phantasieren und träumen gerade das, was wir nicht leben«, zitiert sie Mario Vargas Llosa, »eben weil wir es nicht leben, aber gerne leben würden. Deshalb denken wir uns ein anderes Leben aus.« Daran ist viel Wahres! Und nachvollziehbar ist auch, was Christa Wolf über die Malerin Nuria Quevedo schreibt und wie sie für Günter Grass streitet, dessen Selbstdarstellung ein besonderes, aus der eigenen Biographie geborenes Verständnis in ihr weckt. Es zeugt von mehr als nur Verständnis, zeugt von Wesensverwandtschaft, wenn sie sich zu Ulla Berkéwicz’ Betrachtungen über Leben und Tod äußert. Im Ganzen gesehen ist dies eine Sammlung, die Christa Wolfs Nähe zu Menschen zeigt, die auch uns von Bedeutung sind – und das vor allem macht ihren Wert aus.
W. K.

Christa Wolf: »Rede, dass ich dich sehe. Essays, Reden und Gespräche«, Suhrkamp Verlag, 207 Seiten, 19,95 €



Mutter Furie
Irgendein Krieg. Eine Frau, Witwe, deren Sohn im Felde steht, erlebt die Einquartierung eines Soldaten der feindlichen Besatzungsarmee. Keiner der beiden versteht die Sprache des anderen. Tage vergehen. Gegenseitiges Mißtrauen und Ablehnung schwinden schließlich, man kommt miteinander aus, findet sogar eine persönliche Ebene. Bis dann die Barbarei mit voller Wucht zurückschlägt und dem Zusammenleben auf Zeit ein doppelt tödliches Ende bereitet.

Das Stück »Mutter Furie« beruht auf einer Übersetzung der Novelle »La Mère Sauvage« von Guy de Maupassant; dieser thematisiert darin den Krieg von 1870/71 und die Besetzung von Teilen Nordfrankreichs durch deutsche Truppen. In der Theatralisierung der neuseeländischen »Travelling Light Theatre Company« (Regie: Bronwyn Tweddle) geht dieser Bezug weitgehend verloren; auch Maupassants eigene Ratlosigkeit, ob er das grausige Ereignis als patriotische Tat oder als Einbruch vormoderner Barbarei in die zivilisierte bürgerliche Welt werten soll. In Bronwyn Tweddles Zweipersonendrama wird aus der Verzweiflungstat einer französischen Bäuerin eine zeitlose Anklage gegen die zerstörerischen Folgen von Gewalt und Krieg.

Das Stück wurde im Auftrag der Studio-Bühne Essen von der eigens angereisten Regisseurin fürs Theater adaptiert (Übersetzung: Ulrike Hofmann) und erlebte kürzlich in Essen seine Uraufführung. Mit einfachen Mitteln gestaltet Tweddle auf der Bühne eine düstere und beklemmende Atmosphäre voller Ratlosigkeit, Hunger und Gewalt, aber auch Lichtpunkte, die eine positive Auflösung des von außen aufgezwungenen Konflikts möglich erscheinen lassen. Stephan Rumphorst gibt hervorragend den durch das Grauen der Schützengräben traumatisierten Besatzer, Kerstin Plewa-Brodam die zunächst völlig hilflose, von Armut und Hoffnungslosigkeit gezeichnete Frau. Das Gastspiel im Kulturhaus Spandau Ende April hinterließ ein aufgewühltes und zutiefst gespaltenes Publikum. Ein furioses pazifistisches Werk.
Gerd Bedszent

Nächste Aufführung: 2. Juni, 20 Uhr, Studio-Bühne Essen, www.studio-buehne-essen.de



Ein Leben mit Stahl
Erstaunlich, was aus sprödem Stahl entstehen kann. Oft imponieren die Größe und die Kraft der Plastiken, dann wieder das Feine, Filigrane, Sensible, das manchmal vom Wind oder durch Berührung bewegt werden kann. Zwischen fünf Zentimetern und fünfzehn Metern messen die von Achim Kühn geschaffenen Metallplastiken. Die Kühns arbeiten inzwischen in der dritten Generation mit Metall. Der Vater, Fritz Kühn, ist vielen bekannt durch den Brunnen am Strausberger Platz in Berlin und das A-Portal der Stadtbibliothek.

Jetzt aber kann man die Arbeiten des Sohnes Achim Kühn im Hotel »Residenz am Motzener See« bewundern. Die Ausstellung im Innenraum ist bis Ende August geöffnet, die Arbeiten im Garten des Hotels sind bis Ende des Jahres zu sehen. »Die Arbeit mit dem Material Stahl erfordert zwei Seelen«, beschreibt der Künstler sein Wirken, »eine, die ordnet, nach Regelmäßigkeit verlangt, Exaktheit und Klarheit zum Inhalt hat; und die andere, die nach Ursprünglichkeit, dem Dynamischen, auch dem Chaotischen sucht.« Kühns Plastiken »Mondkuß«, »Räumliche Transparenz« oder die Serie »Aus der Ferne – in die Ferne« und der »Spannungsbogen« sind faszinierend, und das Ausstellungsumfeld – die Natur – steigert das Erlebnis noch.

Seit 1995 betreut Achim Kühn in seinem Atelier Meisterschüler aus Japan und Absolventen der Universität Tokyo. Über hundert architekturbezogene Werke haben Vater und Sohn Kühn seit 1967 geschaffen. Nach 1989 zerstörten Eigentümerwechsel, Gleichgültigkeit, Unkenntnis und ungezügeltes Besitzstreben viele der zuvor mit Auszeichnungen dekorierten Kunstwerke; manche wurden auch gestohlen. Der bisher bekannte Verlust – allein in der Familie Kühn – beträgt 56 Werke und Werkgruppen. Aktuell ist Achim Kühns einzigartige Metallgestaltung in der katholischen Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig bedroht. Diese moderne Kirche wird nicht mehr genutzt und soll abgerissen werden. Sie wäre aber gut zu nutzen für Ausstellungen, Begegnungen und – das wird diskutiert – als Urnenbegräbnisstätte in der Art eines Camposanto. Ob das angenommen wird? Ob da jemand hilft, den Abriß (oder »Rückbau«?) zu verhindern und Achim Kühns Werk zu erhalten? Wie wäre es mit dem freiheitlichen Pfarrer Joachim Gauck?
Maria Michel


An die Lokalpresse
»Die ganze Welt lachte« übertitelte der Berliner Kurier vom 7. Mai eine Nachricht über den »Weltlachtag«, der am Vortag weltweit begangen worden war. Ab 14 Uhr sei hier in Berlin auf dem Tempelhofer Feld »wie an vielen Orten der Welt drei Minuten lang gelacht« worden, berichtete das Blatt. Eine gute Initiative! Offensichtlich hatte sich das Event aber doch noch nicht genügend herumgesprochen, denn als ich justament zu dieser Zeit unter der Brücke am S-Bahnhof Frankfurter Allee durchkam, saßen die Obdachlosen mit den üblichen zerknitterten Gesichtern herum. Ihre Hunde schienen allerdings etwas fröhlicher zu sein als üblich. Auch Ex-Präsident Nicolas Sarkozy oder Wissenschaftsministerin Annette Schavan werden zur Zeit ihre Mühe damit haben, kräftig abzulachen. Ebenso Elefantenjägerkönig Juan Carlos, der von einer spanischen Ortschaft zur »Persona non grata« erklärt worden ist, oder der Wirt einer Friedrichshainer Szenekneipe, in der am »Weltlachtag« ein Gast umgebracht wurde. Von den Hungerleidern auf dem afrikanischen Kontinent wollen wir mal gar nicht erst reden. Wie man sieht, ist alles relativ, auch das Lachen! Daran muß eben hart gearbeitet werden! Irgendjemand hat zwar mal gesagt: »Humor ist, wenn man trotzdem lacht!« Aber das Lachen fällt keinem automatisch aus dem Hals! – Sebastian Fröhlich (46), Umschüler, 87760 Lachen-Speyerdorf
*
Die Bild am Sonntag vom 6. Mai empfiehlt schon jetzt Vorbuchungen für die große Tomatenschlacht »Tomatina« am 29. August zu Sonderkonditionen. »Da schwimmt die Hauptstraße im spanischen Bunal in roter Matsche«, verspricht der Ratgeber des meinungsbildenden Blattes verheißungsvoll. Da auch preiswerte Doppelzimmer angeboten werden, frage ich hiermit bei der Redaktion an, ob man für seine Zielperson mitbuchen kann und ob diese dann von einer eventuellen Bundestagssitzung freigestellt wird. – Karlheinz Kraftschik (53), Programmierer, 01683 Wunsch-witz
Wolfgang Helfritsch


Press-Kohl
Ein alter Bekannter von mir, der Lokal- und Kneipenreporter Rüdiger Mahrenkorn-Suhl hatte mir schon vor geraumer Zeit den »Hotelführer Berlin« aus dem Berliner Jaron Verlag geschenkt. Rüdiger gehört zu den Leuten, die immer alles »gut meinen«. Er fürchtet, ich könne eines Tages meine Miete nicht mehr bezahlen. Ich habe noch nie Miete bezahlt, weil ich seit Menschengedenken glücklich und gut versorgt bei meiner treuen Freundin Hannelore lebe, die ebenso lange in einer stets sauber gefegten und gut beheizten Straße im bürgerlichen Charlottenburg wohnt (mit Fahrstuhl und Balkon).

Sollte ich dieses Heim (aus welchen Gründen auch immer) für wenige oder mehrere Tage verlassen müssen, so begäbe ich mich unverzüglich in das »Hotel zur Bleiche«, welches der erwähnte Hotelführer, seine Autorin und sein Verleger Jaron im Kapitel »Potsdam und Berliner Umland« aufführen.

Das Hotel zur Bleiche befindet sich in der Bleichestraße 16, und die existiert laut Jaron in »03096 Burg/Spreewald«. Hätten Sie das erraten?

Der Spreewald beginnt nämlich direkt im Umland von Berlin, südlich vom S-Bahnhof Treptower Park. Dort heißt er Plänterwald.
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Ein von mir sehr geschätztes Buch-Versandhaus empfiehlt im neuen Katalog »Ausgewählte Werke der Edition Suhrkamp«; Herr Unseld persönlich empfahl: »Hier werden keine Bücher publiziert, sondern Autoren ... mit Werken von Christa Wolf, Jürgen Habermas, H. M. Enzensberger, Peter Sloterdijk u.v.a. Autoren mit leichten Lagerschäden«, zu denen Enzensberger & Sloterdijk wohl neigen. Immerhin mehr als 3.000 Seiten mit leichten Lagerschäden. Und als nächsten Knüller: »Der Kanon. Die deutsche Literatur – Dramen 8 Bände. Hg. Marcel Reich-Ranicki – die deutschen Dramen mit tragischen und komischen Figuren bevölkert ... Unsterblich sind sie allemal, und warum das so ist, dafür steht diese Auswahl von Marcel Reich-Ranicki [ebenfalls unsterblich; F. M.], 4.400 Seiten, Paperback.«

Man hätte sich’s denken können: Literatur = Papier.

Felix Mantel