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Titel112013

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen (nach Goethes »Vorspiel auf dem Theater«). Viel war es wirklich, doch eher zum Magenverderben, was beim Berliner »100-Grad-Marathon-Festival des freien Theaters« auf die Bühne gebracht wurde. Gelegentlich hörte ich Zuschauerstimmen, das Urteil reichte bis zum beliebten Kraftwort »Scheiße«. Wenigstens zwei Titel seien genannt: »Zusammenstoß« von Jakob Weiss – es geht etwas um Weltuntergang und ist sogar ein bißchen politisch. Eine andere Produktion gab selbst das beste Urteil über eine faule Sache: »Nö«. Deutlicher als Selbsthinrichtung geht nicht!

Weil es so nahe ist, schlüpfte ich ins Ballhaus Ost, wo belgische Performer »in vitro« einen »Song of Songs«, nämlich das biblische »Lied der Lieder« über die Liebe vom König Salomo halbwegs schräg mit dem Chor Archaica, Elektronik und oft krachigem Schlagwerk auf die Bühne und ins gequälte Ohr brachten. Immerhin: Die Kraft dieses Urgedichts ist so groß, daß nicht einmal solche Hervorbringungen imstande waren, es zuschanden zu machen.

57.600 Minuten soll das Festival gedauert haben, und etwa eine halbe Million Glas Bier soll dabei getrunken worden sein. Welch ein Festspielrekord!

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Das Performance-Kollektiv »Signa« bietet Dante und zwar im Berliner »Club Inferno«. Des Florentiners Hölle ist zwar auch kein schöner Platz, aber weder Saustall noch Bordell. In der Darstellung der Performer erscheint sie als ein von Beatrix Godeux zusammengeflicktes Casino, allerdings ein ordinäres. Hier wird der Eros, auch der freieste, zur Sauerei, da wird wieder einmal gepißt, geleckt, gepeitscht, läppisches Puzzle gespielt und das halbnackt – das Kotzen soll offenbar dem Zuschauer überlassen werden, Langeweile obendrein. Daß Dante ein Dichter hochpolitischer Natur von Weltrang war, einer, der ein Zeitalter wie das ausgehende Mittelalter besichtigte und darstellte, so etwas wie Renaissance aufleuchten ließ, so widersprüchlich auch immer, kann hier nicht einmal erahnt werden. Peter Weiss hat eine Dante-Adaption (»Divina-Commedia«-Plan) schon einmal wesentlich besser gekonnt; herausgekommen ist kein aktualisierter Dante, sondern »Die Ermittlung«, jenes ausufernde Werk über den Auschwitz-Prozeß, darstellend eine Hölle des 20. Jahrhunderts ohne Paradies, uraufgeführt 1965 auf 14 Bühnen beider deutscher Staaten. Um so ärgerlicher jenes Opus der »Signa«-Marke. Nicht, daß es keine solcher Verfallserscheinungen gäbe – nach dieser aber nur. Da fehlen gesellschaftlicher Blick wie eben auch Können. Ein Unglück, daß der männliche Hauptdarsteller auch noch Arthur Köstler heißt – welch Glück, daß dies der Revolutionär und Revolutionskritiker Arthur Koestler, der sich in mehr als einem Buchstaben unterschied, nicht mehr erfahren muß.
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Das kleine Theater im Palais hat sich auch wieder einmal gemeldet – diesmal mit Molières letztem Stück »Der eingebildete Kranke«. Auch hier wieder ein Unglück – kurze Zeit nach der Aufführung zeigte der Sender Arte den grandiosen, inzwischen mehr als 30 Jahre alten Film »Molière« von Ariane Mnouchkine mit dem wunderbaren Philippe Caubère, der den Kranken spielte – und da wurden Maßstäbe gesetzt. Die Aufführung im Palais sah halt recht klein bis kläglich aus. Seit Benno Bessons trefflichen Molière-Inszenierungen hab ich hierzulande nichts Vergleichbares mehr gesichtet.
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Von Molière führte mich der Weg zu Marx, der sich im Heimathafen Neukölln lesen ließ, von Rolf Becker. Schön, daß der so etwas Passendes gefunden hat, passend besonders jetzt; das Vorgetragene zeigt, wie recht der Charlie mit seiner Kapitalismus-Analyse hatte. Variationen sind zulässig: »Ein Gespenst geht um auf dem Erdball, das Gespenst der Krise.« Ich hole mir die vergilbte und zerlesene Ausgabe von 1946. Was ich da zunächst überfliege, läßt mich langsamer lesen, genauer, denn das stimmt in so vielem noch und paßt aufs Heute. Rolf Becker hat das genau herausgearbeitet und pointiert gelesen.

Um gleich dort zu bleiben, ohne daß der Ort zu meinem Heimathafen werden könnte: Er scheint recht revolutionär zu sein wie international – immerhin brachte der Marokkaner Jaouad Essounani in seiner Reihe »Lila Risiko Schachmatt« (Was das auch immer heißen mag) gleich zwei Stücke heraus: »Hassan Leklichee« und »Hadda«. Beide Stücke – von Lydia Ziemke inszeniert – beziehen ihre Themen und Fabeln aus dem marokkanischen Stoffkreis des letzten halben Jahrhunderts, aus der Welt des sich allmählich auflösenden Königtums, der dortigen Demokratiebewegung, auch einer Jugendbewegung. Die Heldin Hadda und der Held Hassan haben ihre aufbegehrenden Impulse anfangs aus ihnen angetanen sexuellen Gewaltakten gewonnen, sie weiterentwickelt; nun geht es um »mehr Würde, mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie« als Kampfruf gegen »Gott, König, Vaterland«, zugleich eine Gegenbewegung gegen Islamisten und Salafisten. Essounanis Theater hat durchaus methodische Anleihen eines psychisch wie physisch betonten Theaters von Stanislawski bis Artaud übernommen, freilich mächtig vergröbert. Im Grunde wie anderes in diesem Zusammenhang politisches Theater!