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Über das Aufbäumen der Vernunft in Europa  (Winfried Wolk)

Europa atmet auf! Der geheimnisvoll aus dem Dunkeln erschienene parteilose Retter schlug, nur von einer »Bewegung« getragen, eindrucksvoll Populismus und Nationalismus zurück. »Frankreich hat Macron gewonnen«, »Er wird die Republik verteidigen«, »Er ist das letzte Aufbäumen der Vernunft«, so jubelte Spiegel online einen Tag nach der Frankreichwahl gleich in mehreren Artikeln. Allerdings ist der so Gepriesene durchaus nicht das unbeschriebene, weiße Blatt, als das ihn unsere »unabhängigen« Medien stets gern verkauften, seit er als Kandidat im Wahlkampf auftauchte. Bereits mit 27 Jahren bekleidete er den Posten des Finanzdirektors bei der Inspection des Finances, einer einflussreichen Abteilung des Finanzministeriums. Danach arbeitete Macron in einer wirtschaftsliberalen Denkfabrik, dem Pariser Institut Montaigne. Später machte er sich bei der Pariser Investmentbank Rothschild & Cie einen Namen, als er im Jahre 2012 einen der größten Deals des Jahres arrangierte, die Übernahme der Säuglingsnahrungssparte des US-Pharmakonzerns Pfizer durch den Nahrungsmittelkonzern Nestlé im Umfang von 11,9 Milliarden US-Dollar.

 

Als Hollande die Präsidentschaftswahl gewann, kam Macron durch Empfehlung seines Gönners Jacques Attali, einst Berater Mitterands und Strippenzieher in der französischen Politik, auf den Posten des Präsidentenberaters für Wirtschafts- und Finanzpolitik. 2014 stieg er zum Minister für Wirtschaft, Industrie und Digitales auf. Mit Steuererleichterungen für Unternehmen und diversen anderen Entscheidungen verfolgte er eine unternehmerfreundliche Politik. Er liberalisierte den Fernbusverkehr, weichte die Vorschriften für Kollektiventlassungen auf und trieb die Privatisierung der regionalen Flughäfen voran. Le Monde diplomatique stellte am 9. März 2017 fest: »Emmanuel Macron, der als der neue Mann ohne Vergangenheit und ohne Beziehungen posiert, verkörpert mit seiner Person und mit seiner Umgebung das kompakte Aufgebot der Staatsaristokratie (Abteilung Finanzministerium) und der Hochfinanz, kurz, das System schlechthin.« Und das Manager Magazin nennt am 24. April die »Milliardäre, die Macron bejubeln«. Und vielleicht auch finanzieren? Allerdings wurde der neoliberale Macron im Wahlkampf stets als »linksliberal« verkauft. Mit dem genialen, kleinen Tausch der Vorsilbe schuf er sich ein neues, positives Image, was die politikmüden Wähler gewinnen sollte.

 

Eine Wahl ist heutzutage nichts anderes als eine ganz normale Verkaufsveranstaltung. Das Produkt, das man dem Kunden zum Kauf ans Herz legen möchte, muss überzeugend aufgehübscht werden. Dafür braucht man vor allem einprägsame Bilder, die man selbstverständlich auch mit verbalen Mitteln malen kann. Seltener spielen die wirklichen Eigenschaften oder Ingredienzien eine Rolle. Allerdings gilt es, bei Wahlen nicht nur die Vorzüge des Angepriesenen überzeugend darzustellen, sondern auch die anderen Kandidaten mit allen Mitteln »unwählbar« zu machen, wenn der Systemerhalt gefährdet scheint und damit das notwendige Wachstum der Unternehmergewinne.

 

Das französische Establishment befürchtete, dass die Franzosen das alte Spiel nicht mehr mitspielen würden. Hollande und die etablierten Parteien hatten zugelassen, dass die sozialen Spannungen unerträglich anwachsen konnten. Deshalb mussten jetzt die ganz großen, unangreifbaren Werte beschworen werden. Europa ist solch ein Top-Wert. In flotter Argumentation vermischte man verbal das Konstrukt EU mit dem gesamten Kontinent, womit sofort jeder Kritiker an dieser Organisation und ihren auf der Hand liegenden Defiziten zum Europafeind gemacht werden kann. Immerhin steht die EU für das größte, was es gibt: die Freiheit! Nach Artikel 28 des EWG-Vertrages ist es nicht nur eine Freiheit, es sind sogar deren vier: der freie Verkehr von Waren, der freie Verkehr von Kapital, von Dienstleistungen und Arbeitskräften. Leider stehen eine Angleichung des Sozial- und Lebensstandards in den Mitgliedsländern oder gar gemeinsame Richtlinien in der Steuerpolitik nicht unbedingt auf der Agenda. Die global agierenden Großkonzerne, die in einigen wenigen hoch entwickelten Industriestaaten ihren Sitz haben, brauchen das auch nicht. Ihnen genügt, wenn ihre Billigexporte, die die Produktionskapazitäten anderer Länder vernichten, von den anderen Staaten nicht behindert werden, wenn die Gewinne ungeschmälert zurückfließen und es möglich ist, Arbeitskräfte und Dienstleistungen billig europaweit einzukaufen. Sie sind die eigentlich Mächtigen in der EU und haben kein Interesse, dass dieses für sie so vorteilhafte Konstrukt verändert wird. Deshalb war es gerade in der französischen Schicksalswahl wichtig, den Wählern den »richtigen« Kandidaten zu präsentieren. Der junge, smarte, eloquente Macron, rechtzeitig aus seiner politischen Funktion und seiner Parteibindung gelöst und erfolgreich umfirmiert, war dieser Richtige, den man nun als völlig unabhängigen, linksliberalen und somit für jedermann wählbar gemachten Retter Europas präsentieren konnte. Und tatsächlich, der Deal hat funktioniert. Die alten Eliten jubeln, das »weiter so« scheint gesichert. Ist nun die Welt wieder in Ordnung? Wird der jüngste französische Präsident aller Zeiten, wie ihn die Medien jetzt gerade und immerzu mystisch verklären, die massiven Probleme in Frankreich und in der EU lösen? Oder vertagt sich die schwelende Krise nur bis zur nächsten Wahl oder dem möglichen großen Knall?