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Digitale Experimente  (Marcus Schwarzbach)

»Freiräume für Experimente« fordern Unternehmensvertreter von Bertelsmann, Beiersdorf, BMW, Bayer AG, Münchener Rück, Telekom und TUI in einem Positionspapier. »Grundvoraussetzung für die Transformation« seien »Experimentierräume im Sinne kontrollierter Veränderung«. Dazu müssen auch die Rechte der Beschäftigten beschnitten werden. »Neue, dem gesellschaftlichen Wandel angepasste Regelungen zu Höchstarbeitszeit, Mindestpausen, Ruhezeiten sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen sollten größere Freiräume zur Gestaltung der Arbeit schaffen«, so die Forderungen.

 

Unternehmensvertreter warten jedoch nicht auf Gesetzesänderungen – sondern setzen Veränderungen der Arbeitsbedingungen durch. Ein enormer Aufwand wird betrieben, um die Digitalisierung im Sinne der Unternehmen voranzubringen. Smartphones werden als Diensthandys eingesetzt, firmeninterne Kommunikationssoftware nicht mehr nur ins Intranet gestellt, sondern für das Internet freigeschaltet. Übereifrige Beschäftigte oder unter Druck gesetzte Projektmitglieder verschicken Mails, Zwischenergebnisse und Arbeitsaufträge am Wochenende oder im Urlaub. Führungskräfte drängen auf eine Erreichbarkeit »24/7«, also jederzeit. Diese bewusst erzeugten Verstöße werden dann als »Sachzwangargumente« gegen das Arbeitszeitgesetz genutzt.

 

Ein Projekt der Firma innogy mit dem Titel »Orts- und zeitunabhängiges Lernen ermöglichen« loben Kapitalvertreter im Positionspapier »Arbeit in der digitalen Transformation« besonders: »Im Selbststudium oder im Austausch mit anderen haben die Beschäftigten die Möglichkeit, flexibel zu lernen – etwa im Moment des Bedarfs, unabhängig von Ort und Zeit; dies bringt große Vorteile für sie mit sich.« Denn »mit der zunehmenden Verflechtung von Arbeit und Freizeit« (!) sollen »Möglichkeiten orts- und zeitunabhängigen Lernens« gefördert werden. Dass gerade die Verschmelzung von Arbeit und Privatleben zu krankmachenden Arbeitsbedingungen führt, wird ignoriert.

 

Experimente im Sinne der Beschäftigten sind keine geplant. »Heute gibt es neue Bilder davon, wie wir gerne arbeiten möchten: Da ist der kreative Wissensarbeiter, der am See sitzt, den Laptop auf dem Schoß«, verkündet zwar das »Weißbuch Arbeiten 4.0« der Bundesregierung. Es bleibt aber bei diesen »Bildern«. Denn konkrete Vorschläge, wie Call-Center-Telefonistinnen, Workflow-Sachbearbeiter, Programmiererinnen, Arbeiter der Industrie 4.0 oder andere Beschäftigte mehr Zeit am See verbringen können, bleiben im Weißbuch Arbeiten 4.0 aus.

 

Dabei wären auch hier »Experimente« denkbar: Weniger arbeiten – als branchenweiter »Test« hierzulande kein Thema. In Schweden dagegen testeten Unternehmen mehrere Monate die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Eine Stressstudie der Universität Stockholm, die Erfahrungen von 600 Angestellten an 33 Arbeitsplätzen mit einem Sechsstundentag auswertete, zeigt auf: Zwar verursache die Reform in staatlichen Einrichtungen zunächst höhere Kosten, habe langfristig aber eine positive Wirkung. Durch reduzierte Arbeitszeit nicht so gestresstem Personal unterliefen weniger Fehler, die Mitarbeiter seien motivierter.

 

Die Crowdworker-Aktivistin Kristy Milland hat vorgeschlagen, die Netzarbeiter sollten selbst die Produktionsmittel übernehmen und eigene Plattformen schaffen. »Nur so können wir dafür sorgen, dass nicht die herrschenden Konzerne von unserer Arbeit profitieren, sondern wir selbst.« Was wie eine ferne Utopie klingt, wird auf andere Art bereits praktiziert: Programmierer gründen Genossenschaften. »Aktuell schließen sich viele IT-Freelancer zu Genossenschaften zusammen, um dadurch die Risiken einer Selbstständigkeit oder die Abhängigkeit von einem Auftraggeber zu minimieren«, sagt Burghard Flieger von der innova eG, einer Genossenschaft, die gründungswillige Selbsthilfegenossenschaften unterstützt. »Gerade die Besten von ihren Kollegen reihten Projektverlängerung an Verlängerung und zahlen doch weiter Vermittlungsprovisionen.«

 

Hier könnten »Experimente« zur Förderung von Genossenschaften bei digitaler Arbeit wichtige Erkenntnisse bringen. Die PT-Regierung in Brasilien (PT – Partido dos Trabalhadores, deutsch: Arbeiterpartei) installierte im Ministerium für Arbeit und Beschäftigung ein Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie (SENAES/MTE), das auch Genossenschaften fördern soll. Eine verbesserte Förderung und Beratung potentieller Genossenschaftsgründer auf staatlicher Ebene könnte hierzulande dazu beitragen, dass diese Form der »Übernahme von Produktionsmitteln« aus dem Nischendasein herauskommt.

 

»Erfolgreicher Wandel kann nur partnerschaftlich gestaltet werden«, meldete die Hans-Böckler-Stiftung jüngst. In Anbetracht der aktuellen Entwicklungen wird es Zeit, eine gewerkschaftliche Strategie zur Absicherung der Beschäftigten zu entwickeln, die auf die Unternehmensstrategien reagiert.

 

 

Marcus Schwarzbach ist Autor des isw-Wirtschaftsinfo 53 »Geht uns die Arbeit aus? Wie sich die Digitalisierung auf die Beschäftigten auswirkt.« https://www.isw-muenchen.de/produkt/wirtschaftsinfo-53/