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Seuche, Macht und Kapitalismus (II)  (Stefan Bollinger)

Linke im Dilemma

Die Welt steckt in einer tiefen Krise. Sie betrifft Regierungen und Gesellschaften, jeden Einzelnen. Der Kampf gegen ein Virus scheint alle gleich zu machen, lässt vermeintlich soziale Spaltungen, ökonomische Krisenprozesse und militärische Konflikte in den Hintergrund treten. In der Praxis gibt es diese Gleichheit vor dem Virus nicht, es kann alle krank machen oder töten, aber die mit den goldenen Löffeln, dem stabilen Internet-Anschluss und dem zur Not erkauften Platz bei der Krankenversorgung sind besser dran als jene, die auch schon vor der Krise darben mussten. Selbst im reichen Deutschland stellt sich die Frage, was Bezieher von Kurzarbeitergeld oder gerade noch geförderte »Selbständige« gestalten können. Die Diskrepanz zwischen den eilfertig erstellten Fernsehreportagen über geglücktes Homeoffice und Homeschooling und der Realität der einfachen Angestellten oder Zeitarbeiterinnen, die kein Homeoffice und Bezüge haben oder deren Möglichkeiten zum Beschulen der Kinder begrenzt sind, lässt neue Konflikte erwarten.

 

Es gibt viele Stellungnahmen, die von einer Krise der Gesellschaft sprechen, die die Chance für einen Neuanfang eröffnen könnte. Dem schließen sich nicht wenige Linke an, die mit dem Versagen eines kaputtgesparten Gesundheitssystems in vielen Ländern, mit den Folgen einer abhängig machenden Globalisierung nun endgültig den Neoliberalismus scheitern sehen. In der Krise wird das Marktversagen eines gewinnorientierten Gesundheitssystems sichtbar, zeigen sich die Folgen der Globalisierung in einer eng verzahnten, abhängigen Welt.

 

Sicher wird es nach der Krise reale und kosmetische Veränderungen geben. Vom Profitprinzip aber mögen sich weder Staat noch staatstragende Intellektuelle und erst recht nicht die Eigner von Industrie und Gesundheitswesen trennen. Auch wenn jetzt der Staat eingreift, manche schon sozialistische Morgenluft wittern, ohne eine Gegenmacht, ohne Massen auf den Straßen und einen geistigen Neuanfang wird sich nichts bewegen. Und dafür sind die Chancen gering.

 

Aber auch Linke werden grundsätzlichere Fragen zu beantworten haben, die nach dem Scheitern des Realsozialismus für viele immer noch oder wieder auf der Tagesordnung stehen. Politisch haben linke Politiker jenseits Chinas, Kubas gegenwärtig keine tragende Rolle. In einigen Ländern tragen sozialdemokratisch geprägte Regierungen die (Mit-)Verantwortung sowohl an der neoliberalen Misere wie an den aktuellen Notmaßnahmen – in Italien, Spanien, in der Bundesrepublik.

 

 

Theoretische Grundfragestellung

Welche Rolle soll der Staat spielen, wo darf und muss er Grenzen auch für Freiheitsrechte setzen können, um in komplexen Lagen agieren zu können? Das haben wir in unserer mehr oder minder vehementen Kritik am Staatssozialismus verlernt. Darf der Staat ins Wirtschaften, ins Privatleben eingreifen, muss er es? Das mögen demokratische Sozialisten und erst recht Individualisten mit anarchistischem Grundverständnis nicht unbedingt. Die Erfahrungen mit Sozialdemokratie und Parteikommunismus würden dagegen sprechen. Das Problem besteht aber darin, ob basisdemokratische oder überhaupt demokratische Strukturen auch autoritäre »Ausrutscher« des Staates kontrollieren und nach erledigter Aufgabe wieder einfangen können. Das hieße aber basisdemokratische Strukturen, soziale Bewegungen, Selbstverwaltungselemente so zu entwickeln, dass sie mit den parlamentarisch-demokratischen Strukturen verzahnt sind und selbst in Ausnahmesituationen lenkend eingreifen können. Zwischen Staatsfetischismus und Staatsablehnung müsste eine Balance gefunden werden.

 

Staat heißt Macht, zwingt drängend zu der Frage, in wessen Interesse der Staat agiert, selbst wenn er wie derzeit aus Sorge um sozialen Unfrieden und soziale Unruhen sich massiv sozial engagiert. In den letzten Jahren haben Verschiebungen in den politischen Spektren, das Erstarken bürgerlich-kritischer Kräfte in Gestalt ökologischer Parteien, gelegentlich auch linkssozialistischer Bewegungen, aber vor allem das Anwachsen rechter, nationalistischer, teilweise offen rassistischer und faschistoider Kräfte nahegelegt, von einer »Krise der Demokratie« und einer zunehmenden Lenkungsunfähigkeit, einem »Kontrollverlust« des Staates und der Herrschenden zu sprechen. Sehen wir einmal davon ab, dass eine solche Herangehensweise, ein Schwächen der Staatslenkung, politischen Willensbildung und -umsetzung auf demokratischer Basis möglicherweise ein machtpolitisches Kalkül sein kann, um die Hilflosigkeit des Staates oder der Wirtschaft gegenüber zwingenden ökonomischen, ökologischen oder sozialen Herausforderungen zu suggerieren. In der aktuellen Existenzkrise erweisen sich genau dieser Staat, die Wirtschaftseliten, Intellektuelle über Nacht als entscheidungsfähig (was nicht bedeutet, dass jede der Entscheidungen stimmig sein muss), sind in der Lage, staatlich zu lenken und zu gestalten – von Gesetzen bis zu Finanzspritzen – und die Repressionsorgane in Aktion zu bringen, vor allem aber die mediale Ideologieproduktion über Nacht auf diese neue Situation einzuschwören. Streit schimmert dann auf, wenn es darum geht, wie schnell wieder nach Profit gehechelt werden kann.

 

Der Staat ist also auch heute noch ein wichtiges Macht- und Gestaltungsmittel, wenn man die Macht hat, was offenkundig aber nicht die demokratische Wahlentscheidung allein bedingt, sondern die Verankerung der Macht – in der Wirtschaft, in den Medien oder als Anspruch für Linke – in einer aktiven Gesellschaft und breiten sozialen Bewegungen.

 

 

Grundprinzipien der Profitmaximierung aufdecken

Das Vergeben von Etiketten macht sich in Theorie und praktischer Politik immer gut. Seit einigen Jahrzehnten reden wir gern vom Neoliberalismus, sehen in ihm eine Verkörperung von Friedmans oder Thatchers egoistischem, profitfixiertem und staatsfeindlichem Kapitalismus. Nun erweisen sich dieser Kapitalismus und sein Staat erneut – nach der Wirtschaftskrise 2007/08 – als potent, mittels massiver Eingriffe wesentliche Wirtschaftsakteure zu stützen, sich gar zeitweilig und erforderlichenfalls an ihnen zu beteiligen, also sie zu verstaatlichen. Der Staat ist bereit, mittels massiver Geldausschüttungen soziale Risiken für einen großen Teil der Gesellschaftsmitglieder abzufedern. Offenkundig haben wir übersehen, dass Kapitalismus stets gewinnorientiert handelt, er aber in Gestalt seiner Kapitalisten, Manager, Intellektuellen, der politischen Klasse hochflexibel sein kann, dass er ideologische Konzepte über Nacht über Bord zu werfen vermag. Für ihn gilt Macht und Profit zuerst, egal wie. Aber das könnte für alternative Politik eine Chance sein, bedeutet aber auch eine Herausforderung, hinter den jeweiligen ideologischen Floskeln die Grundprinzipien kapitalistischer Profitmaximierung zu erkennen und die Konsequenzen für das individuelle, oft individualistische Verhalten, den Egoismus zu benennen und zu bekämpfen.

 

 

Internationale und nationale Ebene beachten

Der ungeliebte Nationalstaat hat in Zeiten der Globalisierung, des entgrenzten Kapitalismus nicht ausgedient. Der nationale Rahmen (ungeachtet möglicher multiethnischer innerer Strukturen) ist der Ort der sozialen Kämpfe, der Verteidigung sozialer und demokratischer Rechte, aber eben auch des Einigelns in Zeiten der Bedrohung. Die internationalistische Alternative bleibt notwendig und zwingend, schließt heute etwa das gemeinsame Ringen um Auswege aus der anstehenden Wirtschaftskrise ein. Aber dessen ungeachtet handeln Regierungen und Eliten trotz aller EU-Schwüre national, nicht nur die faschistoiden, nationalistischen Kräfte. Und Linke werden wieder lernen müssen, die internationalistische Ebene nicht gegen eine nationale ausspielen zu lassen, egal, ob ihnen dies gefällt oder nicht.

 

 

Gegenmacht formieren

Das größte Problem bleibt die theoretische, politische und organisatorische Formierung von Gegenmacht unter den aktuellen wie auch allen anderen Bedingungen. Ironisch könnte man meinen, dass die demokratische Linke es nicht für nötig erachten musste, sich auf die Illegalität vorzubereiten. Aber ebenso wenig, wie der Staat sich auf den nicht ganz unwahrscheinlichen, aber nun doch eingetretenen Fall einer tiefgreifenden Krise eingestellt hat, sind auch die Parteien und zivilgesellschaftlichen Strukturen jetzt und auf absehbare Zeit nicht nur im parlamentarischen Bereich weitgehend stillgelegt. Wie schon im letzten Jahrzehnt (Musterbeispiel die Revolutionen des »Arabischen Frühlings« und manche Farbrevolution) wird auf moderne Kommunikationstechnik gesetzt. Chatten, Videokonferenzen und das Produzieren von spannenden, in der Regel auch komplexen (und nicht unbedingt verständlichen) Texten ersetzt nicht die politische oder gewerkschaftliche Organisation, das Zusammenwirken, das gemeinsame Entwickeln und Aneignen von theoretischen oder historischen Positionen und Wissen, vor allem nicht das gemeinsame Erleben und die gemeinsame Erfahrung des Kämpfens – mit Niederlagen und Siegen, Festen und Trauermomenten. Den klassischen Kampfparteien der Arbeiterbewegung ist kein gleichwertiger Ersatz gefolgt. Für die sozialen und politischen Kämpfe in der anstehenden Wirtschaftskrise fehlt das geistige und organisatorische Rüstzeug. Das Simulieren von Politik in den heutigen Parteien, in vielen zivilgesellschaftlichen Strukturen kann es nicht ersetzen, ist in der Regel auf den Augenblick ausgerichtet oder führt zur Symbiose mit dem bestehenden politischen und parlamentarischen System.

 

Wir wissen heute noch nicht, wie die aktuelle Krise als medizinische und soziale Herausforderung gemeistert werden kann, geschweige denn, wie lange sie dauern wird. Sicher aber ist eine tiefe, ebenfalls weltweite ökonomische Krise mit politischen Konsequenzen. Möglicherweise kann Deutschland auf Grund seiner starken realen Wirtschaftskraft sich auf Kosten der Schwächeren sanieren. Die Bereitschaft zu solidarischem Verhalten zwischen den Staaten, selbst in der EU, ist schwach ausgeprägt und von Egoismen geprägt, in denen sich der Stärkere eher durchzusetzen vermag.

 

Die internen Kosten der Corona-Bekämpfung und der ökonomischen wie sozialen Stabilisierung werden aber auch die Bundesbürger zu bezahlen haben. Und es gehört wenig Prophetie dazu, dass die Zeche eher die zahlen werden, die nicht die großen Kapitalvermögen ihr Eigen nennen. Verteilungskämpfe, das Ringen um sichere Arbeitsplätze werden kommen, auch wenn die Bereitschaft angesichts existentieller Bedrohungen und einer gebetsmühlenartigen Wiederholung des nationalen Zusammenhalts und der Besserstellung gegenüber den anderen Ländern eine Rolle spielen und die Kampfbereitschaft verringern werden. Die traditionellen Hochburgen der Noch-Arbeiterbewegung, also die Automobil-Industrie, werden angesichts der dort hausgemachten Probleme nicht die Vorreiter der Kämpfe sein. Der Druck jenseits der Grenzen auf Deutschland wird zunehmen, wohl auch der Migrationsdruck. Nationalistische Auswege werden wieder Konjunktur haben.

 

Die Linke muss sich warm anziehen, sich organisieren und den Ernst der Lage erfassen, sonst wird sie ihren Untergang weiter begleiten dürfen, wenn sie nicht Schlimmeres erlebt.