erstellt mit easyCMS
Titel1120

Bemerkungen

Gleichgültig und ignorant

Unter der Überschrift »Roma-Mahnmal in Gefahr: Gedenken bleibt auf der Strecke« berichtete die taz am 22. Mai über einen Plan der Deutschen Bahn AG, der deutlich illustriert, wie stark Gleichgültigkeit und Ignoranz noch heute das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zur Minderheit der Sinti und Roma prägen. Es geht um die neue S-Bahnstrecke, die in ein paar Jahren den Berliner Hauptbahnhof in Nord-Süd-Richtung an das S-Bahnnetz anschließen soll. Und um die Frage, wie dabei der Reichstag unterirdisch umfahren wird. Lange war die Sache unklar. »Die Lösung, die schließlich vom Bundestag, dem Land Berlin und der Deutschen Bahn AG vereinbart wurde«, so die taz, »sieht vor, dass sich der Tunnel nach der Spree-Unterquerung in zwei Arme spaltet, die westlich und östlich am Parlamentsgebäude vorbeiführen. Südlich davon laufen sie wieder zusammen. Ab hier wird das Tunnelbauwerk in offener Bauweise fortgeführt – und hier steht seit 2012 das Mahnmal für die [während der NS-Zeit ermordeten 500.000] Sinti und Roma.«

 

Der Plan ist, der taz zufolge, seit Ende Januar auf dem Tisch. Anfang März habe ein Gespräch stattgefunden, zu dem die für die Betreuung des Mahnmals zuständige Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Vertreter der Bahn AG und der zuständigen politischen Gremien eingeladen hatten. Auch die für Grünflächen zuständige Bezirksstadträtin Sabine Weißler (Grüne) sei dabei gewesen. Ihr Eindruck: »Ich habe die Vertreter der DB bei diesem Gespräch gar nicht als stur erlebt, sondern nur als völlig verblüfft.« Die hätten »einfach nicht erwartet, dass es problematisch sein könnte, wenn das Mahnmal tangiert wird«.

 

Wie die taz weiter erfuhr, sei die DB offenbar nach dem Gespräch von ihrem ursprünglichen Plan abgerückt, bei dem ein vollständiger Abbau des von dem israelischen Künstler Dani Karavan gestalteten Mahnmals erforderlich gewesen wäre. »Stattdessen würde die Baugrube nun scharf am Rand des kreisrunden Wasserbeckens in der Mitte des Denkmals vorbeiführen, Teile davon wären dann nicht mehr begehbar.« Außer der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas auch den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma über diese Planänderung zu informieren, hat die Bahn laut taz nicht für nötig befunden.

 

Für den Zentralrat ebenso wie für die Denkmal-Stiftung ist auch der neue Plan »nicht akzeptabel«. Auch eine Teilschließung des Mahnmales komme nicht in Frage. Sinti und Roma haben nicht so lange für ihren Gedenkort gekämpft, um ihn jetzt widerstandslos zerstören zu lassen.                               

 

Renate Hennecke

 

 

 

Unbeachtet: Staatsstreichdrohung

Die Meldungen im Internet rauf und runter gesucht, aber nur in der Rostocker Ostseezeitung vom 3. April stand: »Warnung vor Terroranschlägen von Polizisten und Soldaten«. Es wird mitgeteilt: Die Bundesregierung befürchte eine Zunahme rechter Gewalt im Zuge der Corona-Krise. Das Bundesinnenministerium habe den Bundestag über Planungen rechter Gruppierungen informiert, die Gunst der Stunde auszunutzen. Nach Medien-Informationen bereiten sich Mitglieder sogenannter Prepper-Gruppen (engl. to be prepared: vorbereitet sein) auf einen angeblichen Tag X vor, an dem die öffentliche Ordnung zusammenbrechen soll. In Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sollen Waffen und Munition aus Verstecken, sogenannten Safehouses, geholt worden sein.

 

»Teile der extremen Rechten haben sich auf genau solche Situationen vorbereitet und könnten mit Anschlägen aktiv werden«, sagte Linken-Innenexpertin Martina Renner. Konstantin Kuhle, innenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, betonte, immer häufiger tauche bei Rechtsextremisten die Hoffnung auf bürgerkriegsähnliche Zustände auf, in denen die verhassten etablierten Strukturen in Politik und Gesellschaft beseitigt werden sollen.

 

Nach dem Ostseezeitungs-Bericht war wieder Ruhe im Blätterwald. Während sonst alle möglichen Meldungen zur Corona-Krise in aller Breite ausgewalzt wurden, von der Not der Spielhallenbesitzer bis zum Kummer der Nachtlokalbesucher.

 

Dann allerdings, am Freitag, dem 15. Mai, fand ich eine Information im Lokalteil der Dortmunder Ruhr Nachrichten, die besagte: Das Sondereinsatzkommando (SEK) der Dortmunder Polizei habe im fernen Mecklenburg-Vorpommern, in Güstrow, auf einem Schießstand der rechtsterroristischen Gruppe »Nordkreuz« trainiert. Das habe das Landeskriminalamt jetzt bestätigt. Und weiter: Am Raub von Munition bei Bundeswehr und Polizei zum Einsatz für den Tag »X« seien auch Polizisten aus Nordrhein-Westfalen beteiligt gewesen. Gruppen wie »Nordkreuz« haben Todeslisten aufgestellt, um die darin verzeichneten Demokraten »wegzumachen«.

 

Bemerkenswert ist, dass die Meldung nur im Lokalteil der Dortmunder Zeitung stand, nicht auf der vorderen Seite, denn es wurden vom Landeskriminalamt auch Kontakte der SEK Duisburgs, Kölns und Düsseldorfs zum rechten Terrorspektrum gemeldet. Obwohl noch weitere Details – diesmal aus frontal 21 – gemeldet wurden, hüllten sich Landes- und Bundesregierung in Schweigen. Es wurde bekannt: An jenem Tag X soll die Staatsmacht übernommen und unliebsame Menschen aus dem demokratischen Spektrum hingerichtet werden. Für die ›Machtübernahme‹ braucht man Fahrzeuge, Waffen, Munition, zur Vorbereitung Listen von ›Feinden‹, für ihre Beseitigung Leichensäcke und Löschkalk. Chats belegen Details der Vorratsbeschaffung.

 

Antifaschistische Gruppen wie die VVN-BdA forderten daraufhin die sofortige Beendigung der Polizeikontakte in die rechte Szene hinein. Der Fall müsse gründlich aufgeklärt werden. Bis dahin seien alle SEK-Kräfte, die ausgerechnet ins 550 Kilometer entfernte Güstrow zum Schießstand fahren – offenbar um sich mit »Nordkreuz«-Leuten zu treffen –, aus dem Dienst zu entfernen. Die Linke Dortmund ergänzte: »Das Wirken rechtsterroristischer Kreise in Deutschland ist unerträglich, beschämend und hochgefährlich. – Ihr Zusammenwirken mit staatlichen Organen unfassbar, skandalös und eine schwere Bedrohung der Demokratie.« Es meldeten sich auch Beobachter zu Wort, die auf die nie aufgeklärte Rolle der Dortmunder Polizei bei der Nichtaufklärung der NSU-Morde hinwiesen.                           

 

Ulrich Sander

 

 

 

Kieloben in Kähnsdorf

Erstes Wochenende, an dem die Restaurants geöffnet haben. Schnell im Brandenburgischen einen Tisch reserviert, wozu Aufforderung im Internet erging. Spargel auf der Terrasse mit Blick auf den Großen Seddinsee. Schon einige Zeit her, dass wir dort saßen, wo damals Manfred Krug einkehrte. Nicht seinetwegen, sondern wegen des Beelitzer Spargels waren wir gelegentlich in der »Reuse«. Und wegen des hübschen Findlingsgartens am Ortsrand, in welchem Klamotten aus der Umgebung mit zeitgenössischer Kunst zwischendrin besichtigt werden können.

 

Ohne Mundschutz ist das Durchqueren des Lokals nicht erlaubt. Draußen kann man die Maske – im Unterschied zum Personal – von sich werfen. Und noch vor der Bestellung auf einem Papier seine Heimatadresse und die Telefonnummer notieren. Muss eben sein. Wegen der Erreichbarkeit. Der Koch oder ein Gast kann ja Corona ...

 

Der Himmel ist blau, weiße Wolken segeln dahin, in der Voliere kreischen die Papageien. Der Blick geht aufs Wasser. Und der erschreckt nun wirklich. Der Bootssteg endet in der Luft, die Boote, die daran einst festgemacht waren und auf den Wellen tanzten, liegen nun kieloben und auf dem Trockenen. Ein Tretboot rostet vor sich hin im Schlick.

 

Der Kellner hinter der Maske, ein ziemlich junger Bursche mit Haarknoten am Hinterkopf, sagt, als er hier angefangen habe, sei er noch vom Steg in den See gesprungen. Wo ist das Wasser hin? Hat’s etwa der Golfclub auf der gegenüberliegenden Seite auf seine Wiesen regnen lassen, damit sie schön grün bleiben? Ja und nein, sagt er, die pumpen nur an die hunderttausend Kubikmeter aus dem See, hat der Club per Expertise nachweisen lassen, das seien keine zehn Prozent von der Jahresmenge, die sonst entnommen werde. Macht gerade mal 3,7 Zentimeter beim Pegel aus. Den Rest holen sich die Dürre und die menschengemachten Klimaveränderungen. Seit 2018 zieht sich der See zurück, inzwischen an die dreißig Meter. Hitze, Verdunstung, kaum Regen ...

 

Vor Jahren sah ich verstörende Bilder vom Aral-See. Früher so groß wie Bayern und der viertgrößte Binnensee der Welt, inzwischen bedeckte er nur noch die halbe Fläche. Der Pegel war um fast zwanzig Meter gesunken. Experten kommentierten, es handele sich um eine der größten menschengemachten ökologischen Katastrophen weltweit. Das war irgendwo in Mittelasien, also weit weg.

 

Nun nicht mehr.

 

Außer Corona gibt es noch andere Probleme. Weiterhin.

 

Frank Schumann

 

 

Fünfte Verlängerung

Der Protest begann Mitte Mai in dem feinsten und reichsten Viertel von Madrid, in Salamanca, benannt nach José de Salamanca y Mayol. Der Marquis, er lebte von 1811 bis 1883, war Finanzminister von Spanien und später Bürgermeister von Madrid. Der Protest beginnt allabendlich mit Topfschlagen und Rufen wie »Freiheit!« und »Sánchez, tritt zurück!« Für die Policía Nacional besteht kein Grund einzugreifen. Die katholisch-konservative Tageszeitung ABC bezeichnet die Protestierenden als »Rebellen von Salamanca«, die sich gegen die restriktiven Anordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie der Linkskoalition von Ministerpräsident Pedro Sánchez wehren. Im Salamanca-Viertel ertönt vielstimmig »Wir wollen keine Diktatur!« und »Viva España!«, das TVE1 überträgt in seiner Nachrichtensendung täglich live nach 21 Uhr.

 

Die profaschistische VOX-Partei ist vom »Salamanca-Protest« begeistert und schreibt in den sozialen Medien: »Die Spanier erheben sich gegen die Big-Brother-Regierung der Arbeitslosigkeit und des Elends.« Nur so weit ist es nicht, auch wenn der Protest nun auch in Barcelona angekommen ist. Trotz der Proteste verlängert das Parlament am 20. Mai zum fünften Mal den Ausnahmezustand – jetzt bis zum 7. Juni. Für eine Verlängerung bis zum 24. Juni fand Ministerpräsident Sánchez keine Mehrheit. Noch am Morgen des 20. Mai war es unklar, ob es überhaupt eine Verlängerung geben würde. Es stand fest, dass Partido Popular und VOX mit Nein stimmen würden. Sichern konnte sich Sánchez schließlich eine Mehrheit von 176 Ja-Stimmen: von PSOE, Unidas Podemos, Ciudadanos und Partido Nacionalista Vasco (PNV). Elf Abgeordnete enthielten sich der Stimme, 162 lehnten eine Verlängerung ab. Parteipolitisch spielen aber verschiedene Dinge eine Rolle, so auch Fragen im Zusammenhang mit Katalonien.

 

Das Vertrauen der Bevölkerung zur Koalition von Pedro Sánchez sinkt derweil allerdings. Laut einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CIS stehen nur noch 46 Prozent der Spanier hinter der Koalition. Für eine Fortsetzung der Corona-Einschränkungen sind jedoch immerhin 60 Prozent der Befragten.

 

Seit dem 21. Mai ist es in Spanien Pflicht, dass alle über sechs Jahre alten Bürger außerhalb der eigenen vier Wände eine Maske tragen.

 

Karl-H. Walloch

 

 

Mensch, Meyer

Na, wer war es denn nun? Und wo? War es die chinesische Fledermaus? Oder das chinesische Gürteltier vom Wildtiermarkt? Oder das mysteriöse, undichte Labor in Wuhan? Oder doch Bill Gates? Wir hätten es wissen können. Hätten wir nur aufmerksam hingeschaut. Nicht alles als gut erfunden abgetan. Besser der wissenschaftlichen Recherche des Verfassers vertraut, die Erzählung auf einen möglichen Wahrheitsgehalt abgeklopft. Einen Blick auf die Metaebene geworfen. Die beiden Äste – die Bild- und die Sachebene – wie bei einer Parabel Schritt für Schritt voneinander gelöst, mit Szenarien verbunden, wie sie auch unsere Bundesregierung angestellt hat, wie sie weltweit angestellt wurden, für den Fall einer Pandemie nach der Vogel- und der Schweinegrippe. Aber wir haben ja nicht hingeschaut.

 

Es war schon eine Ironie der Geschichte, der Evolution. So wie die Menschheit aus Afrika kam, kam auch das tödliche Virus von dort:

 

»Man wusste, dass das Fieber aus Afrika gekommen war. Man wusste, dass zwei Virenstämme miteinander verschmolzen waren, einer vom Menschen, einer von der Fledermaus.«

 

Dann starben die Leute.

 

»Ein Arzt veröffentlichte einen Artikel mit einer Hypothese darüber, wie alles begonnen haben könnte …« Halt, haben wir das nicht gerade gelesen, im Fernsehen gesehen, mehrmals, die Geschichte des einsamen Rufers in der Wüste von Wuhan?

 

»Ein Mann lag irgendwo im tropischen Afrika unter einem Mangobaum. Der Mann war anfällig für Krankheiten« – ›Vorerkrankungen‹, sagt man heute –, »weil er HIV-positiv war und keine Medikamente dagegen erhielt.« So ist es nun mal in Afrika, auch jetzt noch. Aber lesen wir weiter: »Im Blut des Mannes befand sich bereits ein Coronavirus. Das war nichts Außergewöhnliches; Coronaviren kamen relativ häufig vor. In der Zeit vor dem Fieber kannte man mindestens vier Typen, die Grippe- und Erkältungssymptome bei Menschen auslösten.«

 

Coronaviren lebten auch in Tieren. »In dem Mangobaum saß eine Fledermaus mit einer anderen Art Coronavirus im Blut … Sie hatte Durchfall und schiss dem Mann unter dem Mangobaum ins Gesicht, in die Augen, die Nase oder den Mund. So gelangte das zweite Coronavirus ins Blut des Mannes.«

 

Virenstämme vermischten sich, vermehrten sich in der Luftröhre. Ein neues Coronavirus wurde geboren. Der Mann lebte in einer armen Gegend. Beengt. Rasch steckte er andere an. Das Virus mutierte, verbreitete sich weiter, durch die Luft, steckte einen Verwandten an, der am Flughafen arbeitete, der hustete einen Reisenden an. So kam das Virus in die Welt.

 

Ich mache Schluss. Es ist ja nur ein Spannungsroman: »Fever«, 2016 auf Afrikaans unter dem Titel »Koors« erschienen, auf Deutsch in der Übersetzung von Stefanie Schäfer im Aufbau Verlag. Von Deon Meyer.                                    

 

K. N.

 

 

Denkmal sorgt für Unmut

Auch nach 100 Jahren bewegt der Friedensvertrag von Trianon noch die Gemüter in Ungarn. Regierungschef Viktor Orbán hatte es nach seinem Wahlsieg 2010 eilig, einen »Gedenktag für Trianon« zu schaffen: den 4. Juni. In diesem Jahr wird – sofern nichts dazwischenkommt – pünktlich zum Jahrestag ein 16-Millionen-Euro-Denkmal eingeweiht, an zentraler Stelle in Budapest hinter dem Parlament. Es handelt sich um eine schräg unter die Erde führende Rampe, genannt trianoni árok (Trianon-Graben). In die seitlichen Mauern sind eingraviert die Namen aller Städte aus den abgetrennten Gebieten, die Ungarn seinerzeit verlor, mehrere tausend Namen. Das sorgt für Ärger mit den Nachbarstaaten Slowakei, Ukraine, Rumänien, Serbien und Kroatien, die ihren eigenen Nationalismus pflegen.

 

Es war der Zusammenbruch des Habsburger Vielvölkerstaates im Herbst 1918, der – wie Gerd Bedszent kürzlich an dieser Stelle schrieb (Ossietzky 8/2020) – »ähnlich wie im russischen Zarenreich eine Reihe sich ausschließender Nationalismen [hervorbrachte]« mit der Folge: »Die sich neu konstituierenden Staaten gerieten einander … in die Haare. Ungarn musste gravierende Gebietsverluste hinnehmen.« Als Kriegsverlierer hatte Ungarn im Ergebnis des Trianoner Diktatfriedens mehr als zwei Drittel seines Territoriums abzutreten. Allein Siebenbürgen, das ans Königreich Rumänien angeschlossen wurde, war flächenmäßig größer als das ganze verbliebene Rest-Ungarn. Die Nationalflagge wurde in Budapest ab dem 4. Juni 1920 für achtzehn Jahre auf Halbmast gesetzt, und es wurde der Vers skandiert: »Rumpf-Ungarn ist gar kein Land, ganz Ungarn das Himmelreich.« Das Streben nach Vertrags-Revision setzte sofort ein, und die Propaganda wucherte. Mit den Umrissen des alten, historischen Ungarlandes wurden nicht nur Schulbücher versehen, sondern auch Rasierspiegel, Aschenbecher, Zigarrenetuis und Reißzwecken gefertigt; Medaillons mit Erdpröbchen aus den abgetretenen Gebieten wurden feilgeboten.

 

Keine der politischen Parteien in Ungarn, von der rechtsextremen Rassenschutzpartei bis zur Linken, wollte sich mit Trianon und seinen teilweise recht willkürlichen boshaften Regelungen abfinden. Anders als der Grenz-Revisionismus in Frankreich nach 1871 mit seinem Motto bezüglich Elsass-Lothringen »Nie davon reden, immer daran denken« war das Prinzip in Ungarn: »Immer daran denken und oft davon reden.«

 

Die drei Nachbarstaaten im Norden, Osten und Süden sahen sich vom ungarischen Revanchismus natürlich bedroht und schlossen sich zum Bündnis der Kleinen Entente zusammen. Diese war aber zur Zeit des Münchner Abkommens 1938 schon nicht mehr handlungsfähig; mit der Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik begann eine schrittweise Gebietsvermehrung Ungarns – wenn auch nur für circa sieben Jahre. Bei den nach 1945 wieder hergestellten Grenzen von Trianon ist es bis heute geblieben. Angesichts des mit und durch Orbán wachsenden Nationalismus erinnert man sich heuer wehmütig der Zeiten der ungarischen Volksrepublik, als kein Grenz-Revisionist an die Öffentlichkeit gehen durfte, wofür gute Gründe sprachen.                         

 

Christian Stappenbeck

 

 

 

Zeitungs- und Italienliebe

Klaus Jäger, ein Autor, der jetzt auch schon das sechzigste Lebensjahr ankratzt, hat allerlei hinter sich gebracht: eine Zeitlang bei der Armee und fast dreißig Jahre als Lokalredakteur in Apolda, in denen er nebenbei fünf Krimis schrieb. Seit einem guten Jahr lässt er freischaffend aus seiner »Schreibstube« (klaus-jaeger.info) hören und hat soeben einen beeindruckenden Roman von fast 500 Seiten vorgelegt.

 

Held Laurenz Stadler ist fester Italien-Korrespondent für eine große Münchner Zeitung. In Rom kann er leben und leben lassen – doch sein Medienkonzern will sparen und beruft ihn zurück in die Zentrale als »Blattmacher«. Das sind jene Sitz-Redakteure, die nicht das Leben in Reportagen einfangen, sondern mit knackigen Überschriften Leser – und gutes Geld – anlocken sollen.

 

Zuvor macht Stadler im Land seiner Sehnsucht Urlaub, bleibt auf der Insel Procida im Golf von Neapel hängen, lernt dort eine späte Liebe, Carlotta, die Titelfigur, kennen – dreißig Jahre jünger als er – und löst nebenbei ein Grundgeheimnis seines Lebens: Stadler wuchs vaterlos und oft gemieden in einem Allgäuer Dorf auf.

 

Fesselnd und scheinbar leicht wird von italienischen Sitten erzählt – sowohl Held wie Jäger beherrschen die Sprache und streuen gern und gekonnt Begriffe und Sätze ein. Dass das Prädikat »Spannend erzählt« hier stimmt, hat gewiss mit Jägers Krimi-Lehrzeit zu tun. Manchmal schrammt der Autor knapp an einer Peinlichkeit vorbei – das ist wohl so, wenn alter, weißer Mann glutäugige Signorina mit aller Körperlichkeit liebt. Doch des Autors Ironie und ein fast immer anwesender Humor helfen darüber hinweg.

 

Wer die Unterschiede von Deutschtum und dolce vita erleben will – dieses Buch breitet sie großzügig aus. Und wer die Hirnrissigkeiten heutiger Medienpolitik in Wort und Phrase lesen will: Die wütend-satirischen Traktate Stadlers wider das Konzernunwesen sprechen Kennern aus dem Herzen.

 

Dass auf der Insel Procida alte Kapitäne ihre Lebensgeschichten zu Büchern in winzigen Auflagen machen, ist eine erfrischende Nebenhandlung, die dicht an der Realität spielt. Denn diese Tatsache war die Keimzelle des Romans für Jäger. So verrät er’s im Nachwort.

 

Matthias Biskupek

 

 

Klaus Jäger: »Carlotta oder Die Lösung aller Probleme«, Roman, Verlag Tasten & Typen, 480 Seiten, 16,80 €

 

 

Tanz den SuperGAU

Der GAU in Tschernobyl inspirierte Wolfgang Ehmke zu seinem Buch »Tanz den Super-GAU«. Das ist jetzt in einer überarbeiteten Version neu erschienen – und nach wie vor top-aktuell.

 

Der Staatspräsident ist genervt. Ständig protestieren die Staatsfeinde gegen die Atomkraft – am geplanten Endlager in Überall oder am Atomkraftwerk in Anderswo. Aber die Propagandamaschine läuft. Polizisten mischen sich inkognito unter die Demonstrierenden und sorgen für Gewalteskalationen. Ein Journalist der ZEITUNG, also die mit den fetten Buchstaben, sorgt dafür, dass die Demonstranten pauschal als Chaoten diffamiert werden. Schließlich soll in Anderswo doch noch ein zweiter Kraftwerksblock gebaut werden.

 

Dann melden erste Quellen in Nordland, dass es in Rotland einen großen Atomunfall gegeben habe. Schnell werden die Experten einberufen, darunter Professor Remm von der Grenzwertekommission, Dr. Scheuer von der Kraftwerksunion, Dr. Unrath (Chemische Industrie) und nicht zu vergessen, immer dabei, des Staatspräsidenten Freund Martin Esser von der ZEITUNG. Alle sind sich einig: »In Rotland wird es einige Tausend Tote geben. Bei uns geht es glimpflicher ab ... Problematisch sind Milch und Milchprodukte und alle Blattpflanzen, vor allem nach dem ersten Regen ... Ich schlage die Sprachregelung ›Keine Gefahr – vorbeugende Maßnahmen‹ vor, ergänzte Remm seinen Vortrag. Ich will hier nicht weiter ins Detail gehen, aber zwei Dinge sind klar: Erstens, wir können der Gefahr nicht ausweichen, deshalb ist sie keine. Und zweitens, wir sind besorgt und sorgen für einige Verhaltensmaßregelungen.«

 

Noch bevor die Bevölkerung davon erfährt, treffen sich kurze Zeit später einige der Honoratioren wieder im Supermarkt und kämpfen um die letzten Paletten H-Milch. Währenddessen läuft die gezielte Kampagne der ZEITUNG an. Erst mal Angst machen und nach ein paar Tagen feststellen, dass es gar nicht so schlimm ist. Blöderweise tritt dann nach einem Unfall aber auch noch am eigenen Atomkraftwerk in Anderswo radioaktive Strahlung aus – und lässt sich nur mit großen Mühen als Teil der rotländischen Atomwolke ausgeben.

 

Die Demonstrationen machen härtere Maßnahmen notwendig. Ganz zufällig fällt während der Fußball-Weltmeisterschaft im ganzen Land kurzfristig der Strom aus, und quasi direkt im Anschluss verkündet der Staatspräsident, dass sich das in Zukunft nur mit dem Bau des zweiten Kern-Reaktorblocks vermeiden lasse. Geht doch. Aber dass sich angesichts der Unfähigkeit einiger Akteure überhaupt noch Ordnung aufrechterhalten lässt, ist teilweise wohl eher dem Zufall geschuldet.

 

Das liest sich gut und flott. Wer 1986 schon alt genug war, wird die Umstände wiedererkennen. Wer heute alt und aufmerksam genug ist, wird einige Vorgehensweisen wiedererkennen.

 

Egal, um was für eine Katastrophe es geht. Die Darstellung der Figuren und der Hintergründe ist so grotesk, dass sie schon wieder lustig ist, und auch in der gegenwärtigen Zeit ist »Tanz den Super-GAU« eine gute Lektüre.

 

 

Jürgen Kramer

 

Wolfgang Ehmke: »Tanz den Super-GAU«, überarbeitete Neuauflage, Verlagsgesellschaft Köhring, 120 Seiten, 8,90 €. Vor einem Jahr erschien bereits Ehmkes Beziehungsroman »Der Kastor kommt!«, Verlagsgesellschaft Köhring 131 Seiten, 8,90 €. Bezug über: buero@bi-luechow-dannenberg.de

 

 

 

Wir hatten einen an der Nudel!

Man will es einfach nicht glauben, aber wer vor wenigen Wochen im Supermarktregal noch eine Packung Nudeln vorfand, war ein regelrechter Glückspilz. Die haltbaren Teigwaren waren der absolute Renner, nur noch übertroffen von Toilettenpapier, Suppendosen und Trockenhefe. Mit der Corona-Krise explodierte die Nachfrage geradezu. Bandnudeln, Spirelli, Penne und Co. gingen sprichwörtlich weg wie warme Semmeln. Es hätte wohl niemanden gewundert, wenn einzelne Spaghetti bei eBay horrende Preise erzielt hätten.

 

Verärgert standen wir vor leergefegten Regalen und fragten uns: Wer zum Geier hat nur die ganzen Nudeln gekauft? Die Lagerkapazitäten in deutschen Haushalten schienen unendlich zu sein. Selbst eingefleischte Ernährungs-Gurus konnten dem teigigen Dickmacher, der zum »Symbol der Sicherheit« mutiert war, nicht widerstehen. Die Nudel-Produzenten wurden zu Profiteuren der Corona-Krise. Um der sprunghaften Nachfrage Herr zu werden, produzierten sie sogar Großpackungen mit fünf oder zehn Kilo.

 

Irgendwann hatten jedoch die Regale in den heimischen Vorratskammern einen solchen Teigwaren-Sättigungsgrad erreicht, dass nun die XXL-Packungen ein Stiefmütterchen-Dasein in den Supermärkten fristen. Selbst saftige Rabatte lassen die Paletten nicht schrumpfen. Erst einmal müssen wir ja wochen- oder vielleicht gar monatelang die gehorteten Vorräte verbrauchen. Schließlich haben wir während der Corona-Krise kaum ein Nudelgericht oder eine Dosensuppe mehr verzehrt. Auch der Verbrauch an Toilettenpapier und Trockenhefe hatte sich nicht erhöht. Im Nachhinein müssen wir uns wohl ernsthaft fragen: Hatten wir in den zurückliegenden Wochen sprichwörtlich einen an der Waffel? Nein, eher einen an der Nudel.                

 

Manfred Orlick

 

 

 

Zuschrift an die Lokalpresse

Da kannste nu saren, wat de willst: Die Maßnahmen jejen det Coronavirus machen eenem zwar det Leben schwerer als et sowieso schon is, aba se ha‘m ooch ihre Vorteile. So dichte und so lange ha‘m de Familijen ewich nich uff‘nander jekluckt. Jut, se ha‘m sich valeicht öfter in de Wolle jekriecht als sonst, aba mehr Schläjereien jab et meines Wissens ooch nich. Hoffentlich blei‘m die Besuchseinschränkungen noch bis nach Pfingsten jültich, da ham wa sonst immer die janze Mischpoke aus drei Bundesländern zu Jast! Det muss nich‘ sein. Aber wie man aus unser‘m Küchentisch een Bürotisch zaubern kann un aus de Badewanne een jroßen Papierkorb, det hätte ick mir vorher nich träum` lassen. Und so oft hat de Familije selten vor de Glotze gesessen und zujekieckt, wie so een AfD-Fritze in de Bundestachssitzung sein‘ Beitrach runterjeschimpft hat. Et is ooch spannend, mal zu sehen, wie sowat in de Jebärdensprache umjesetzt wird! Det sieht ja fast aus wie een Fitness-Training! Kann et dabei ooch mal vorkomm‘, det sich eene Übersetzerin dabei vajreift? – Marlene »Lenchen« Schneidereit-Kaschube, Rentnerin, 13587 Berlin-Hakenfelde

 

Wolfgang Helfritsch