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Titel1210

Die Zeitbombe  (Arno Klönne)

Bei der regierenden Klasse in der Bundesrepublik geht es drunter und drüber: Koch wechselt in die Wirtschaft, Köhler zog sich beleidigt zurück, Wulff soll ihn ersetzen, SPD und Grüne zaubern einen Gegenkandidaten hervor, der lieber einem Ruf von CDU/CSU und FDP gefolgt wäre. Und die »wirtschaftsnahen« Medien demontieren den Kandidaten Wulff, preisen Gauck und verbreiten Zweifel an der Eignung der Kanzlerin. Das alles mag als ein Wirrwarr erscheinen, in dem politstrategisches Kalkül nicht mehr zu erkennen ist. Aber das wäre ein Irrtum. Vielmehr ist die vielzitierte »Stunde der Wahrheit« angebrochen, da können Umgruppierungen in der politischen Unternehmensführung fällig werden.

Zu einem »Impulsreferat« bat jetzt der Wirtschaftsrat der CDU den noch amtierenden hessischen Ministerpräsidenten Koch, Thema: »Zeitbombe Staatsverschuldung – Was bleibt übrig für Zukunftsaufgaben?« Wo möglichst wenig übrig bleiben soll, hat der Wirtschaftsrat, in Übereinstimmung mit dem Arbeitgeberpräsidenten Hundt, seiner und jeder anderen Partei unmißverständlich bekannt gegeben: In der Sozialpolitik stehe »ein Paradigmenwechsel« an. Also »Sparen«, unbeschönigt heißt das: Streichen, beim Arbeitslosengeld I und II, bei Hartz IV, beim Kindergeld für die Armen, bei den Rentnern. Die Bundeskanzlerin ist durchaus willig; der »Rotstift«, sagt sie, müsse nun im Sozialhaushalt eingesetzt werden.

Der Griff nach der »Schuldenbremse« geschieht unter Realitätsdruck: Die staatlichen Rettungsschirme für den spekulativen Finanzmarkt und für die Auslandsoperationen deutscher Großunternehmen oder Banken lassen sich mit weiterer Finanzierung des Sozialstaates nicht vereinbaren. Deshalb soll die »Zeitbombe Staatsverschuldung« dorthin gelagert werden, wo sie dem großen Geld keinen Schaden antun kann; zu den Erwerbslosen und den Geringverdienern. Die sind als Bombengeschädigte ausersehen.

Allerdings kann eine so explosive Politik Ärger auslösen. Deshalb werden Überlegungen angestellt, wie man solchen Unmut dämpfen kann. Gauck als präsidialer Freiheitsprediger wäre nützlich; er könnte den zukünftigen Bombengeschädigten einreden, daß Armut nicht das Schlimmste sei und man dem Sozialstaat nicht nachtrauern solle. Wulff wird in dieser Hinsicht nicht als völlig zuverlässig angesehen; »ein heißer Verfechter der Marktwirtschaft« sei er nicht, wirft ihm die Frankfurter Allgemeine vor.

Gauck hingegen wünscht sich einen zweiten Schröder: Der erste habe es riskiert, »die Frage aufzuwerfen, wie viel Fürsorge sich die Bundesrepublik leisten kann. Solche Versuche mit Mut brauchen wir heute wieder.«

Und wer weiß, ob die Merkel-Koalition sich beim Transport der Zeitbombe nicht weiter abnutzt. Dann muß von der SPD und den Grünen Gebrauch gemacht werden. Einem Bündnis mit der Linkspartei haben beide mit dem Kandidaten Gauck schon unmißverständlich abgesagt, und sie werden bereit sein, für die Demontage des Sozialstaats erneut »Verantwortung zu übernehmen«, in welcher Regierungskoalition auch immer. Der »Sachzwang« wird es dann wieder sein, der sie leider, leider daran hindert die guten Absichten aus ihrer Oppositionszeit zu realisieren – ein Tarnbegriff für das heimliche Grundgesetz dieser Gesellschaft: Der Vorrang von Profitinteressen ist unantastbar. Einflußreiche Medien erinnern daran und helfen nach.