erstellt mit easyCMS
Titel1212

Richter Di und Gouverneur Bo  (Volker Bräutigam)

Der Richter Di Renjie ist eine historische Figur des chinesischen Kaiserreichs. Er lebte im 7. Jahrhundert. Überliefert ist, daß er ein nach Gerechtigkeit strebender Beamter war, geachtet wegen seiner Klugheit, Unbestechlichkeit und Loyalität gegenüber dem Tang-Kaiserhaus. Legenden ranken sich um ihn, nicht nur im chinesischen Sprachraum. Der niederländische Schriftsteller und Sinologe Robert van Gulik beispielsweise hat ihm mit einer Serie spannender, vielfach übersetzter Krimis ein literarisches Denkmal gesetzt.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dem Richter Di sei in Person des Bezirksgouverneurs Bo Xilai ein modernes Ebenbild erwachsen. Bo, Politbüromitglied der Kommunistischen Partei, galt bis vor kurzem noch als Anwärter auf eines der höchsten Staatsämter. Ein brillanter Kopf, sozial engagiert, rhetorisch begabt, ein Volkstribun. Er machte jedoch kein Hehl aus seinem Ehrgeiz, und damit enden bereits die Ähnlichkeiten mit dem historischen wie dem literarischen Gegenstück. Di bewährte sich bescheiden und mit politischem Geschick, wurde Oberster Richter und Staatsminister. Vergleichbare Karriereaussichten hat Bo Xilai nicht mehr. Pekings Machthaber setzten ihn im März kurzerhand ab. Wenig später meldeten die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua sowie die parteinahen großen Zeitungen seine Verhaftung.

Es hieß, Bo habe etwas mit der Ermordung des britischen Managers Neil Heywood im November 2011 zu schaffen. Heywood diente Bos Ehefrau Gu Kailai als Finanzberater. Selbst Parteiblätter kolportierten, Gu und der Brite hätten sich auch sonst sehr – oder zu – nahe gestanden. Zusammen mit Gouverneur Bo landete ein enger Vertrauter hinter Gittern, der Unternehmer Xu Ming, ein Multimillionär. Dem Inhaber eines börsennotierten Mischkonzerns, Finanzmagnat und Eigner eines Fußballclubs wird vorgeworfen, Spiele manipuliert zu haben und bis über die Ohren in kriminellen Finanz- und Grundstücksgeschäften zu stecken.

Skandal
Der Skandal um Bo und Xu erschüttert seit Wochen nicht nur Partei und Staatsapparat, er beschäftigt auch die Öffentlichkeit der Volksrepublik China und ist von einigem Belang im internationalen Wirtschaftsverkehr. Dennoch wird er, obwohl filmreife Story, im Westen kaum beachtet. Wen wundert´s!

Bo hatte sich schon am Beginn seiner Laufbahn in Peking mächtige Feinde gemacht. Vor fünf Jahren war er »zur Bewährung« in die Provinz versetzt und zum Gouverneur von Chongqing bestellt worden, der flächenmäßig größten Stadt der Welt mit 30 Millionen Einwohnern, neben Peking, Shanghai und Tianjing die vierte der Zentralregierung unmittelbar unterstellte Munizipale der Volksrepublik.

Auch an seiner neuen Wirkstätte war Bo beim Volk schnell beliebt. Er verbuchte bemerkenswerte Erfolge im Kampf gegen die Korruption, räumte mit den Triaden auf, der chinesischen Variante der Mafia, entwickelte humanitäre Programme für Kranke und Alte, organisierte kostenlose Mahlzeiten für Tausende verelendete Kinder von Wanderarbeitern und brachte den Wohnungsbau voran. War er ein besonders sozial orientierter »Pragmatiker« oder lokaler Anführer der »dogmatisch maoistischen Linken«? Mit oberflächlichen Titulierungen dieser Art erhellen westliche Medien nichts, außer ihrer Unfähigkeit zu differenzieren.

Symbolfigur Bo ist charismatischer Vertreter einer den offiziellen Regierungskurs kritisch begleitenden KP-Fraktion von »Linken«. Sie erachten die aus der Privatisierungspolitik resultierenden sozialen Gegensätze als Gefahr für Partei und Staat. Sie wünschen mehr Schutz der heimischen Wirtschaft vor ausländischem Kapital und befürworten allenfalls Kombiprojekte von chinesischen und ausländischen Unternehmen unter strikter staatlicher Kontrolle. Sie steuern keinen revolutionären Gegenkurs, wollen aber deutliche Kursänderungen. In den jüngsten KP-internen Machtkämpfen zogen sie offenkundig den Kürzeren.

Putschgerüchte
Im Vorfeld des Nationalen Volkskongresses waren die internen Auseinandersetzungen Anfang März von Gerüchten über einen Militärputsch begleitet, über Truppenaufmärsche und über Panzerverbände, die Richtung Peking rollten. Auf ungezählten Blogs im Internet, auch in einigen westlichen Medien wurde wild spekuliert und schwadroniert. »Machtkampf in China« erinnert an frühere schwere Auseinandersetzungen, bekannt unter dem Begriff »Kampf der zwei Linien«. In der offiziellen Parteigeschichte hat es zehn solcher Richtungskämpfe gegeben, in unserm Politkauderwelsch: zwischen Fundis und Realos. Oft wurden sie gewaltsam ausgetragen. Die »Große proletarische Kulturrevolution« oder der »Große Sprung nach vorn« sind schreckliche Beispiele. Im vorerst letzten dieser Kämpfe (»Vier Modernisierungen«) siegte Deng Xiaoping, zu Maos Zeiten verbannt und von den Roten Garden als »Hundekopf« geschmäht. Seine mittlerweile weltbekannte Maxime lautete: »Egal, ob die Katze grau oder schwarz ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse.«

Seit Deng die »Sozialistische Marktwirtschaft« in der VR durchsetzte und das Land auf diesem und nicht auf revolutionären Wegen zur konkurrenzfähigen Weltmacht führte, haben solche Kämpfe in China aufgehört. Doch herrscht unter der relativ ruhigen Oberfläche Dissens über den Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Daß Ex-Gouverneur Bo Xilai die Zentralfigur eines neuerlichen Kampfes um den richtigen Weg gewesen sei – sozialistisch-revolutionär oder marktwirtschaftlich-reaktionär –, ist übertrieben und zudem eine dümmliches Entweder-Oder. Von welcher Tragweite hingegen der Dissens über die Privatisierungspolitik ist, mögen drei Hinweise zeigen.

Erstens: Die Führung tritt im Oktober nach zehnjähriger Amtszeit ab, ein neuer Staatspräsident und ein neuer Regierungschef werden auf dem kommenden 18. Parteitag in Peking gewählt, es werden also für die nächste Dekade wesentliche Macht- und Richtungsfragen beantwortet.

Zweitens: Der noch amtierende Premierminister Wen Jiabao kritisierte im Vorfeld das Nationalen Volkskongresses die chinesischen Staatsbanken und drohte ihnen mit der Zulassung privater Konkurrenz – als ob es sich bei einem solchen Schritt nicht um eine »Todsünde« am Kommunismus handelte.

Drittens: Im März genehmigte der Nationale Volkskongreß Ausgaben von umgerechnet 111 Milliarden US-Dollar für Innere Sicherheit und Polizei, eine Aufstockung um 11,5 Prozent. Das Militär bekommt weniger: 107 Milliarden Dollar (der Militärhaushalt der USA umfaßt in diesem Jahr 553 Milliarden Dollar). Es hat den Anschein, als fürchte die Führung in Peking revolutionäre Unruhen und wolle sich dagegen wappnen. Die monströsen sozialen Gegensätze in der VR bergen ungeheuere Sprengkraft.

Super-Gewinne
Zurück zu Gouverneur Bo. Sein Sturz begann im Februar dieses Jahres, als er seinen Stellvertreter in Chongqing, den Polizeichef Wang Lijun, aus dem Amt kippte. Wang flüchtete ins US-Konsulat der Stadt, um dort politisches Asyl zu erbitten. Ein Skandal, der sofort in aller Munde war. Die Amerikaner wiesen Wang ab. Prompt verhaftete ihn die chinesischen Staatssicherheit. Was mit ihm danach geschah, ist nicht bekannt. Gerüchte, Wang habe Beweise für Bo Xilais Verstrickung in den Mord an Heywood und für hemmungslosen Machtmißbrauch des Gouverneurs gehabt, scheinen ihren Ursprung im US-Konsulat zu haben.

Der Selbstmord eines hohen Bezirksparteikaders in Chongqing, der sich wenig später ereignete, soll dann das Faß zum Überlaufen gebracht haben. Bo verschwand von der politischen Bühne. Wie schwarz seine Zukunft aussieht, läßt sich anhand einer öffentlichen Rüge erahnen, die ihm Premierminister Wen Jiabao verpaßte: Die Umtriebe in Chongqing seien derart gefährlich, daß sich sogar »so tragische Ereignisse wie die ›Kulturevolution‹ wiederholen könnten.«

Anfang April suspendierte dann die Parteiführung Bos Mitgliedschaft in Zentralkomitee und Politbüro. Das Parteiorgan Volkszeitung sah sich veranlaßt, die Bevölkerung aufzurufen, in dieser »Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen« Ruhe und Einheit zu bewahren und sich hinter die Beschlüsse der Partei zu stellen. Das läßt endgültig aufhorchen. Doch auch darüber erfuhren wir von ARD-Tagesschau und ZDF-heute nichts.

Premier Wen hatte Anfang des Jahres im Rundfunk die »zu teuere« Kreditvergabe der vier großen Staatsbanken kritisiert, jedoch über Art und Umfang von deren anderweitigen, offenbar einträglicheren Geschäften geschwiegen. Als Regierungschef hätte er diesen weisungsgebundenen Staatsunternehmen schräges Wirtschaften einfach verbieten können. Das aber tut er augenscheinlich nicht. Warum?

Wens Regierung hat während der globalen Finanzkrise 2008 mit milliardenschweren Konjunkturprogrammen nicht nur das eigene Land, sondern die gesamte Weltwirtschaft vor dem Absturz bewahrt, damit aber der VR China zugleich erhebliche neue Schwierigkeiten eingebrockt: Schuldenberge in den Provinzhaushalten und eine Immobilienpreisblase in den Ballungszentren. Peking versucht gegenzusteuern – mittels vermehrter Privatisierungen im staatlichen Wirtschaftssektor. Die Regierung nennt das »Kampf gegen Monopole und Super-Gewinne”, und in diese Argumentation reiht sich auch Wens Bankenschelte im Rundfunk ein. Gegenüber dem Nationalen Volkskongreß verlangte er darüber hinaus gravierende Veränderungen: Begrenzung der Vorherrschaft des Staatssektors, speziell im Bereich der Banken, der Energieversorgung, der Telekommunikation.

Die Staatsbanken reagierten bereits: Mitte April kündigten sie an, die vormals strikte Kontrolle über die Währung, den Yuan (»Reminbi«), weiter zu lockern, so daß der Wert des Yuan im Verhältnis zum US-Dollar nun um ein Prozent vom staatlich festgelegten Mittelkurs abweichen darf. Das ist ein weiterer Schritt in Richtung frei handelbare Währung. Am Ende dieses Weges würde der Tauschwert des chinesischen Geldes eines Tages nicht mehr vom Staat, sondern von den Devisenmärkten bestimmt werden.

Hier ein paar Zahlen, die helfen mögen, die Wirkungskraft von Wens Vorstoß zu ermessen: Das Bruttoinlandsprodukt der VR China (mit Hongkong) betrug im vorigen Jahr umgerechnet 7,3 Billionen US-Dollar, das Land ist zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt und will die USA in vier Jahren an der Spitze ablösen. Gut 60 Prozent seiner Wertschöpfung werden bereits vom privaten Wirtschaftssektor erzielt. Der Staat hält nur noch an 316 der größten Kombinate Mehrheitsbeteiligungen. (s. www.imf.org).

Privatbanken
Einer meiner chinesischen Gesprächspartner gab sich trotz aller gegenteiligen Signale überzeugt, die Regierung werde die Banken nicht privatisieren, wie es der Westen fordere (ich korrigiere hier: nicht nur die Weltbank, sondern auch die VR-eigene Oligarchie wünscht das). Die Regierung werde allenfalls einen Modellversuch zulassen, mutmaßlich in Wenzhou in der Provinz Zhejiang. Er sollte sich irren.

Wenzhou ist eine Metropole mit mehr als acht Millionen Einwohnern, ein ökonomisches und kulturelles Zentrum nahe der Südostküste. Kein unbedeutendes Provinznest für einen unproblematischen Modellversuch, sondern Zentrum des in der VR China ohnehin längst weit verbreiteten, nach wie vor aber nicht legalen privaten Geldgeschäfts. Mitte April berichtete die Volkszeitung, Ministerpräsident Wen habe erklärt, in Wenzhou werde ein Pilotprojekt mit privaten Banken gestartet. Die Wortwahl macht kenntlich, daß Folgeprojekte schon beschlossene Sache sind.

Premier Wen Jiabao und die Mehrheit der KP sind offenkundig dabei, für die kommende Dekade die politische Marschroute der VR China zu fixieren, bevor Präsident Hu Jintao im Oktober die Macht an die Nachfolger übergibt: aller Voraussicht nach an Vizepräsident Xi Jinping im Präsidentenamt und an Vizepremier Li Keqiang statt Wen Jiabao. Zu Wens Konzepten gehört mutmaßlich auch die schrittweise Bankenprivatisierung.

Die KP-Führung nennt ihre Politik beschönigend den »chinesischen Weg zum Sozialismus«. Man muß trotz begründeter Zweifel immerhin respektieren, daß die KP das Riesenreich seit Jahrzehnten relativ friedlich und ökonomisch erfolgreich regiert. Das verlangt extremen Aufwand bei einem Milliarden-Staatsvolk, das rund 50 verschiedene Sprachen spricht und nur mittels der einheitlichen Zeichenschrift kommunizieren kann. China umfaßt mehr als 100 nationale Minderheiten (darunter neun islamisch geprägte Nationalitäten: Hui, Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken, Tataren, Dongxiang, Salar und Baoan) und extrem unterschiedliche geographische und klimatische Lebensräume: Wüste, Steppe, Hochgebirgs-, Tiefland- und Küstenregionen, insulare Gebiete. Zudem ist das Land von extremen kulturellen sowie sozio- und infrastrukturellen Unterschieden geprägt.

Stets ist zu bedenken: Die VR China muß sich global gegenüber dem US-Imperium bewähren, ideell und materiell – auf einem Weltmarkt, dessen Leitwährung (noch) der US-Dollar ist und auf dessen Rohstoffmärkten ausschließlich kapitalistische Regeln gelten. Unter diesen Umständen ist es ungeheuer schwer, das marxistische Ideal von einer Gesellschaft der Gleichen und dem ohne privates Eigentum an den Produktionsmitteln im Blick zu behalten. Aber auch diese Umstände rechtfertigen keine Therapie vom Typ Schnaps gegen den Alkoholismus. Und darauf liefe es hinaus, wenn man privates Bankwesen erlaubte, um der chinesischen Volkswirtschaft inmitten der globalen ökonomischen Katastrophe zu einer eigenständigen Prosperität zu verhelfen. Es wäre ein unverzeihlicher Systembruch.

Die Macht der Oligarchen
Die Kluft zwischen Arm und Reich in China ist so breit und tief, daß sie auf friedliche Weise kaum mehr geschlossen werden kann, was doch sozialistisches Ziel sein sollte. Mehr als 250 Millionen Menschen leben am Rande des Existenzminimums. Sie sehen sich tagtäglich konfrontiert mit der Macht einer Clique von Superreichen und Oligarchen. Der reichste VR-Chinese, Liang Wengen, sei hier genannt, neun Milliarden Dollar schwer, ZK-Mitglied. Oder Zhong Qinghou, 6,5 Milliarden Dollar. So krasse Mißverhältnisse der Güterverteilung sind nicht zeitlich unbegrenzt beherrschbar. Wie lange noch akzeptiert das Volk den schroffen Gegensatz zwischen sozialistischem Anspruch und quasikapitalistischer Realität? Noch hat es nicht vergessen, daß es einst in der VR China so Elementares gab wie die »Eiserne Reisschüssel« und das Prinzip der Gleichheit. Erste Warnrufe in der Volkszeitung belegen das Dilemma. Wohin würde ein abermaliger »Kampf der zwei Linien« das Riesenreich treiben?

Wen Jiabaos Hinweis auf die Kulturrevolution ist deutlich genug, desgleichen die exorbitanten Investitionen in den Polizeiapparat. Allein mit Aufwendungen zum Schutz der Gesellschaft vor Kriminalität und zur Abwehr der vom Ausland gesteuerten Insurgenten in den Unruhezentren Tibet, Xinjiang, Sichuan, Yunnan, Qinghai sowie zur Verhinderung von Sabotage durch religiöse Gruppen wie Mahayana-Buddhisten, Islamisten und Falun Gong lassen sie sich nicht erklären.