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Bemerkungen

Rekorddeutsche
Regelmäßig verbreiten Nachrichtenagenturen und Medien die frohe Botschaft von unserem reichen Land, diesmal ist die Bundesbank die Quelle: »Die deutschen Privathaushalte«, meldet dapd, haben »ein Rekord-Geldvermögen angehäuft, einen durchschnittlichen Pro-Kopf-Bestand von 57.500 Euro«. Das ist ein nettes Sümmchen, die deutschen Privathaushalte können zufrieden sein. Allerdings haben die Statistiker der Bundesbank zugleich errechnet, daß auch die Verschuldung der deutschen Privathaushalte gestiegen ist: auf durchschnittlich 18.900 Euro pro Kopf. Bleiben immerhin 38.600 Euro auf der Habenseite, durchschnittlich. Wenig beachtet wurde in der Presse eine andere Nachricht: Die Statistikbehörde der EU teilte mit, daß Deutschland unter den 27 Mitgliedsstaaten zusammen mit Spanien jetzt in der Kategorie »Working Poor« an erster Stelle steht, kein anderes Land hat also prozentual so viele Erwerbstätige, die mit ihrem Verdienst unter der Armutsgrenze bleiben. Auch der Anteil von Armen an der Gesamtzahl der Erwerbslosen liegt über dem EU-Durchschnitt. So sind sie, die Deutschen: schaffen Rekorde bei der Produktion von Reichtum wie auch bei der von Armut. Läßt man die Durchschnittsrechnerei beiseite, wird klar: Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

M. W.

Ein Tsunami für Italiens Rechte
Bei den italienischen Bürgermeisterwahlen (5./6. und 20./21. Mai) hat Mitte-Links in der Mehrheit der fast 1.000 Gemeinden bereits im ersten Wahlgang die vorderen Plätze belegt. Der langjährige Bürgermeister von Palermo (1985–2000) und bekannte Anti-Mafia-Kämpfer Leoluca Orlando kam im Ballottagio (Stichwahl) auf 72,4 Prozent, der Bewerber der Linkspartei Umwelt und Freiheit in Genua auf 59,7 Prozent. Die den deutschen Piraten ähnliche Protestpartei »Cinque Stelle« des Satirikers und Bloggers Beppe Grillo erreichte an mehreren Orten bis zu 20 Prozent. In Parma zog ihr Kandidat nach dem Ballottagio mit 60,2 Prozent ins Bürgermeisteramt ein. Wie in Deutschland die Piratenpartei entzieht die der »Fünf Sterne« den Linken Stimmen und nützt so den Rechten.

Die faschistoide Volksfreiheitspartei (PdL) des Ex-Premiers Berlusconi und die rassistische Lega Nord, deren Chef Umberto Bossi im April wegen schwerer Korruptionsvorwürfe in zweistelliger Millionenhöhe zurücktreten musste erlitten eine verheerende Niederlage. Der Vorsitzende der Demokratischen Partei (DP; einer Fusion aus früheren Linksdemokraten und katholischem Zentrum), Luigi Bersani sprach von einem »Tsunami für die Rechte«. Das Wahlergebnis war ein deutlicher Protest gegen die rigorose Abwälzung der Krisenlasten vor allem auf die arbeitenden Menschen und die Rentner infolge des von der EU diktierten Sparprogramms, das jetzt Berlusconis Nachfolger Mario Monti durchzieht.

Im rechten Lager wächst die Furcht, Mitte-Links könnte auch bei den Parlamentswahlen 2013 das Rennen machen. In hektischer Eile wird das Parteienspektrum umgruppiert. Die PdL will sich umtaufen; bei den früheren AN-Faschisten, der Alleanza Nazionale, hat das Gianfranco Fini schon getan und eine Partei Futuro e Libertà gebildet. Agnelli-Erbe und Ferrari-Chef Cordero di Montezemolo will ebenfalls eine Partei gründen: Italia Futura. Vor allem aber wollen sich die politisch führenden Kreise am »deutschen Herrschaftsmodell« orientieren und eine neue PdL und die DP als zwei große »Volksparteien« etablieren, die sich gegenseitig an der Regierung ablösen oder noch besser Große Koalitionen bilden, wie es jetzt bereits bei der Unterstützung Montis im Parlament praktiziert wird.
Gerhard Feldbauer


Spanien: Der Protest geht weiter
In den Wintermonaten war vom Protest der »Indignados« (Empörten) in Spanien nichts mehr zu hören. Doch nachdem die Regierung im April Einsparungen von 27,3 Milliarden Euro beschlossen hat, kommen die Proteste wieder in Fahrt. Ende April gab der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy bekannt, daß er die Bildungsausgaben um drei Milliarden kürzt, und trieb Mitte Mai mit dieser Ankündigung Hunderttausende »Empörte« – zumeist Jugendliche – in Madrid, Barcelona und 70 weiteren Städten auf die Straße – selbst in Santa Cruz de Tenerife.

In Madrid traf sich die Protestbewegung gegen die drakonischen Kürzungen wieder an der Puerta del Sol, dem zentralen Platz der Stadt. Anders als 2011 hatte die konservative Stadtregierung den Demonstranten verboten, auf dem Platz ein Camp zu errichten. Zur Durchsetzung der Vorgabe stand in den Nebenstraßen ein großes motorisiertes Polizeiaufgebot bereit. Mit ihren Aktionen zeigten die Demonstranten, daß ihr Aufbegehren gerechtfertigter ist denn je. Am frühen Sonntagmorgen räumte die Polizei brutal den Platz.

Bereits 2011 hatten die »Indignados« gemeinsam mit »Movimiento 15-M« und »Democracia Real Ya!« (Echte Demokratie jetzt!) gegen die Etatkürzungen der Zapatero-Regierung und die steigende Arbeitslosigkeit demonstriert. Heute ist dieser Protest angesichts der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, die in Spanien zu einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent geführt hat, wichtiger denn je. Einer der Hauptkritikpunkte der Demonstranten ist der jüngste Bankenrettungsplan der konservativen Regierung. Inzwischen wurde das viertgrößte Finanzinstitut Spaniens, Bankia, von der Regierung mit 4,5 Milliarden Euro gestützt. Die jugendlichen Demonstranten fordern statt Bankenhilfe mehr öffentliche Gelder für Bildung, Gesundheit sowie mehr Arbeitsplätze. Der Protest der »Empörten« wird weitergehen, da sich die wirtschaftliche Lage durch die Kürzungen der Rajoy-Regierung weiter verschlechtert.
Karl-H. Walloch


Denksperre
Der Ton wird schärfer in den Leitartikeln des Leitorgans des deutschen Großbürgertums. Denjenigen Politikern anderer europäischer Länder, die es bei dem Abbau sozialer Leistungen, den Entlassungen aus öffentlichen Diensten und dem Absenken des Lohnniveaus nicht ganz so heftig treiben möchten, erteilen Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen strenge Verweise. Schluß müsse sein »mit dem süßen Leben auf Pump«, schreibt Holger Steltzner, nicht länger dürfe »Euroland als Paradies für Wohlstand ohne Anstrengung mißverstanden« werden. Und Günther Nonnenmacher erklärt, was an der »EU-Baustelle« fällig sei: »unpopuläres Abschmelzen sozialstaatlicher Besitzstände«, also Verarmung breiter Schichten in weiten Teilen Europas – nicht als zu bedauerndes Schicksal, sondern als politisches Programm verstanden, zielstrebig zu verfolgen, um Wettbewerbsvorteile europäisch-deutscher Konzerne im Weltmarkt zu erreichen. Aber ein spanischer Hungerleider, beispielsweise, kauft keinen BMW, was also wird, wenn massenhaft die Kaufkraft absackt, aus dem deutschen Export in EU-Länder? So rasch wird dieser nicht durch Importwünsche aus anderen Kontinenten zu ersetzen sein. Darüber nachzudenken, möchten unsere Leitartikler offenbar dem Publikum ersparen. Und so finden sich zu diesem Problem gelegentlich zaghafte Hinweise weiter hinten in der FAZ, in den Berichten über einzelne Unternehmen; von der EU-»Sparpolitik« bleiben diese gedanklich getrennt. Wo könnten auch sonst die LeserInnen hingeraten? Womöglich bekämen sie Zweifel an der Exzellenz der Lenker von Wirtschaft und Politik.
A. K.


Belohnung
In der Leipziger Volkszeitung ist zu lesen, daß »das Bundeskabinett sich in einer gemeinschaftlichen Kraftanstrengung ... die erste Gehaltserhöhung nach zwölf Jahren Stillstand genehmigt« hat. Dem Spiegel ist zu entnehmen, daß Frankreichs gesamte Regierungsmannschaft ihre Gehälter um 30 Prozent gekürzt hat. Nachdem die Bundeskanzlerin mit ihrer Empfehlung an andere, zu sparen, in Frankreich dermaßen erfolgreich war, hat sie sich ihre Gehaltserhöhung redlich verdient.
Günter Krone


Die SPD – schwer beschäftigt
Wenn die Sozialdemokraten demnächst die Bundesregierung übernehmen (und niemand ihnen dreinredet), wollen sie den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent anheben, sagen sie. Jetzt liegt er bei 42 Prozent, zur Freude der Besserverdienenden; dahin abgesenkt wurde er unter der Regierung Schröder, vorher hatte er 53 Prozent betragen. Um ihn dahin wieder zu bringen, wäre also eine weitere sozialdemokratische Regierungszeit erforderlich.

Und dann noch eine, damit dieselbe SPD ihn wieder kräftig heruntersetzen kann? So etwas muß sie ja nicht vor der Wahl ankündigen, sie hat es, als Schröder an den Toren des Kanzleramtes rüttelte, auch nicht getan.
P. S.


Trittin ganz oben
Wieder einmal trafen sich die Bilderberger, diesmal in Chantilly/Virginia. Seit vielen Jahren unterhalten sich bei dieser nordatlantisch ausgerichteten Konferenz Spitzenleute aus Konzernen, Banken und Politik darüber, wie es global weitergehen soll. Vertraulich sind diese Gespräche, ein Verschwörungstheoretiker, wer dies merkwürdig findet. Deutschland war »hochkarätig« vertreten in diesem Jahr: Thomas Enders (Airbus- und EADS-Chef), Peter Löscher (Siemens-Chef), Roland Koch (Chef bei Bilfinger), Wolfgang Ischinger (Arrangeur der »Münchener Sicherheitskonferenz« und Aufsichtsrat bei der Allianz), Matthias Nass (Zeit-Redaktion) und selbstverständlich Josef Ackermann (bisher Chef der Deutschen Bank). Neu dabei: Jürgen Trittin. So können wir also damit rechnen, daß er Bundesfinanzminister wird, wenn SPD und Grüne das Ruder übernehmen.
M. W.


Basisdemokratie – historisch
Der Band »Basisdemokratie und Arbeiterbewegung« vereinigt Beiträge zu einem Ehrenkolloquium für Günter Benser, den ersten und zugleich letzten Direktor des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, das im Dezember 1989 aus dem Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED hervorgegangen war. Dort hatte Benser über dreißig Jahre gearbeitet, zuletzt als stellvertretender Leiter der Abteilung Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung von 1945 bis zur Gegenwart. Siegfried Prokop als Laudator hat wichtige Stationen seines wissenschaftlich-politischen Lebenswegs skizziert und Dietrich Staritz sich einiger Begegnungen mit dem Jubilar seit 1964 erinnert, zunächst als kritischer Leser, sodann als Diskutant. Wie es einem aktiven Wissenschaftler zukommt, hielt Benser selbst den Hauptvortrag »Basisdemokratie gestern, heute und morgen«. Er schlägt darin einen Bogen, von der – wie ich sie nennen würde – direkten Demokratie im antiken Griechenland bis zur – nach meinem Verständnis – partizipativen Demokratie im heutigen Lateinamerika, deren Resultate, wie er zurecht formuliert, »zur Gretchenfrage für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts werden« könnten.

Der Terminus Basisdemokratie ist historisch jüngeren Datums, im deutschsprachigen Raum wohl erstmals im Vorfeld der Gründung der Grünen Ende der 1970er Jahre eingeführt, und seinem theoretischen Gehalt nach immer noch sehr diffus, zumindest hochumstritten (meine Einschübe zu Benser deuten dies an). Ganz symptomatisch dafür ist, daß Ulla Plener und Manfred Neuhaus in diesem Zusammenhang mit Marx die Einheit von Legislative und Exekutive in der Pariser Kommune als einer arbeitenden Körperschaft hervorheben, während Theodor Bergmann mit dem Argument »es muß Gegengewichte geben« für eine strikte Trennung der beiden eintritt.

Der Band zeigt, daß basisdemokratische Bewegungen (im weitesten Sinne des Wortes) in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche auf den Plan treten, in Deutschland vor und während der Revolutionen von 1848/49 und 1918, in den Jahren 1945/46 und (in der DDR) 1989/90. Das belegen auch die längere historische Zeiträume umspannenden Beiträge von Ralf Hoffrogge zu den Sozialismuskonzepten der deutschen Arbeiterbewegung von 1848 bis 1920 und Hartmut Henicke über die Sozialdemokratie im deutschen Kaiserreich, in denen das Generalthema des Bandes eben nur punktuell aufscheint, während die Zeit der Weimarer Republik überhaupt niemanden zu einem Beitrag veranlaßt hat. Dies mag allerdings auch daraus resultieren, daß die etablierten Arbeiterparteien (SPD und KPD) damals fernab aller Basisdemokratie wirkten und der Anarchismus von den meisten, die über die Geschichte der Arbeiterbewegung schreiben, nach wie vor als nicht existent behandelt wird (den Beitrag von Gisela Notz über basisdemokratische Wirtschaftsmodelle sowie den des Jubilars ausgenommen). Wirklich grundlegend für den Gesamtzusammenhang sind Pleners Thesen zu Spontaneität und radikaler Demokratie auf dem Weg zu einer sozial gerechten Gesellschaft.

Ob Basisdemokratie unter einem Besatzungsstatut möglich ist, erscheint fraglich. Rolf Badstübner hat daher den Terminus schon im Titel seines Beitrags in Anführungszeichen gesetzt und spricht im Text von Basisbewegungen und Basisaktionen. Im lokalen (nicht einmal überregional organisierten) Bereich sind auch die von Peter Brandt referierten Aktivitäten der Antifa-Ausschüsse zu verorten, im übertragenen Sinne auch die SED-Gründung im Westberliner Stadtbezirk Neukölln, über die Reiner Zilkenat berichtet. Den von der sozialdemokratischen Parteibasis ausgehenden Initiativen stellt Heinz Niemann die vom (Londoner) Parteivorstand vorbereitete und von Kurt Schumacher durchgesetzte Restauration der alten SPD gegenüber.

In den Referaten zum Thema »Basisdemokratie 1989/90« wird einiges historisch zurechtgerückt, zunächst von Felix Tych über die Rolle der Solidarnosc in Polen. Sodann erinnert Kurt Schneider an das positive Sozialismusverständnis aller im Herbst 1989 gegründeten Bürgerrechtsorganisationen und Günther Glaser an revolutionäre Veränderungen innerhalb der Nationalen Volksarmee. Jörg Roesler zeigt den Einsatz von Betriebsbelegschaften für eine basisdemokratische Organisation ihrer Betriebe und Stefan Bollinger das basisdemokratiefeindliche Wirken von DGB und SPD im »Einigungsprozeß«.

Einen Vorgeschmack auf nachzuliefernde Bände der Werkausgabe liefert der Beitrag von Annelies Laschitza und Eckhard Müller über Rosa Luxemburgs Ideal von einer bewußten freien Selbstbestimmung der Volksmassen. Den bis heute unaufgelösten Widerspruch zwischen Zentralisierung und Basisdemokratie behandeln am historischen Beispiel Gerhard Engel (anhand der Internationalen Kommunisten unter Johannes Knief) und Walter Schmidt (zur Revolution von 1848/49). Er scheint auch auf in den Beiträgen von Andreas Diers über Wolfgang Abendroth und von Gregor Kritidis über Ernst Gerlach.

Das letzte Wort hatte Karlen Vesper-Gräske zur »Weltrevolution via World Wide Web«, Abschluß eines Kolloquiums, dessen Thematik und andauernde Brisanz sich in der drängenden Frage zusammenfassen läßt, wie denn die anzustrebende Weltassoziation basisdemokratisch errichtet werden kann.

Thomas Kuczynski
Rainer Holze und Siegfried Prokop (Hg.): »Basisdemokratie und Arbeiterbewegung. Günter Benser zum 80. Geburtstag«, Karl Dietz Verlag, 287 Seiten, 19,90 €


Hysterische Reaktionen
Am 27. Mai meldete Spiegel online: »Eine äußerst ungeschickte Prüfungsfrage sorgt in Großbritannien für Aufregung. Mehr als tausend Schüler absolvierten am Donnerstag einen zentralen Test. Darin ging es unter anderem um Religionsfragen, Judentum und Antisemitismus. Die bizarre Frage lautete: ›Erklären Sie kurz, warum einige Leute gegenüber Juden Vorurteile haben.‹ Das berichten die Zeitungen The Telegraph und The Jewish Chronicle. Der britische Bildungsminister ist entrüstet: ›Anzunehmen, daß Antisemitismus jemals erklärt werden kann, anstatt verurteilt zu werden, ist unsensibel und bizarr‹, sagt Michael Gove. AQA, eins der drei großen britischen Prüfungsgremien, das die Frage entwickelt hat, müsse nun erläutern, wie und warum es dazu kommen konnte. Auch Vertreter der jüdischen Gemeinschaft empören sich über die Formulierung. ›Das hat definitiv nichts mit Juden oder Judentum zu tun‹, sagte Jon Benjamin, Generaldirektor der Vertretung britischer Juden. Und Rabbi David Meyer sagte gegenüber dem The Jewish Chronicle: ›Schulbildung sollte Vorurteile abbauen und sie nicht rechtfertigen.‹«

Die Jagd auf vermeintlich antisemitische Äußerungen nimmt, anders als die beanstandete Prüfungsfrage, wirklich bizarre Züge an. Wenn der britische Bildungsminister recht hat, wenn der Antisemitismus nicht erklärt werden kann, dann sind alle einschlägigen Lehrstühle, alle Projekte zur Vorurteilsforschung überflüssig. Dann können sie allesamt eingespart werden. Oder aber der Bildungsminister redet so einen Unsinn, daß man ihm den Rücktritt nahelegen muß. Daß die Prüfungsfrage Vorurteile rechtfertige, ist ein nicht geringerer Unsinn. Schon daß antisemitische Klischees darin als »Vorurteile« und nicht als »Ansichten« qualifiziert werden, belegt den kritischen Ansatz. Aber selbst wenn einzelne Schüler die Vorurteile rechtfertigen wollten, zwänge sie die Frage, sich darüber Gedanken zu machen. Und wer kritisch darüber nachdenkt, warum einige Leute Vorurteile haben, statt nur, ohne Begründung, apodiktisch zu behaupten, daß halt unerklärbare Vorurteile existierten, reagiert allemal weniger bizarr und unsensibel als all jene, die sich vor der Reflexion fürchten.

Die hysterische Reaktion auf angeblichen Antisemitismus, sei es bei einem Gedicht von Grass, sei es bei einer englischen Prüfungsfrage, ist deshalb mehr als nur bizarr, weil sie letzten Endes die Nichtbeachtung tatsächlicher antisemitischer Diskriminierung fördert. Es ist wie in der berühmten Fabel von dem Jungen, der so lange vor einem eingebildeten Wolf warnt, bis ihm niemand mehr glaubt, als tatsächlich ein Wolf droht. Äußerungen von Antisemitismus gibt es, in Deutschland wie in England wie anderswo zuhauf. Aber wer wird eine Warnung davor noch ernst nehmen, wenn beschränkte Bildungsminister, bornierte Vertreter jüdischer Organisationen und Journalisten ohne Verstand »Antisemitismus« schreien, wo eher eine vorurteilskritische als eine judenfeindliche Absicht zu vermuten ist? Bleibt zu hoffen, daß sich wenigstens das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung zu Spiegel online meldet. Seine Existenz steht auf dem Spiel, wenn sich die Ansicht des britischen Bildungsministers durchsetzt, daß der Gegenstand seiner Forschung für alle Zeiten unerklärbar sei.
Thomas Rothschild


Der Krieg vor dem Krieg
Ab wann traten die mörderischen Eigenschaften faschistischer Herrschaft in Deutschland zu Tage? Waren die Verhältnisse, abgesehen von der »Säuberung« beim »Röhm-Putsch«, bis zum Jahre 1938 einigermaßen »normal«? Fügten sich »die« Deutschen dem neuen System bereitwillig oder jedenfalls ohne Widerspruch ein? Darüber sind nach wie vor Legenden weit verbreitet, volkstümliche und solche, die sich wissenschaftlich geben; verdeckt wird so die historische Realität. Eben deshalb verdient die Wiederherausgabe eines Buches Aufmerksamkeit, das 1936 im Pariser Exil von deutschen Emigranten herausgebracht wurde; es schildert dokumentarisch »Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland« (so der damalige Untertitel). Verlegerisch wurde es betreut von Willi Münzenberg, dem kommunistischen Mediengenie der Weimarer Republik, Autoren waren Maximilian Scheer und zwei weitere, unter Pseudonym agierende deutsche Emigranten. Mit einer Fülle von Informationen und Materialien legt das Buch dar, wie bereits mit Beginn des »Dritten Reiches« der faschistische Staat einen blutigen Feldzug gegen seine Widersacher und all diejenigen führte, die als »gemeinschaftsfremd« galten. Die Legalisierung des Terrors wird offengelegt, eine »Statistik des Grauens« vorgewiesen, und deutlich wird so auch, daß nach der Machtübergabe an Hitler und seine Gefolgschaft in großem Umfange Widerstand geleistet wurde, vor allem aus dem Milieu der Arbeiterbewegung.

Als diese Dokumentation 1936 erschien, hieß ihr Haupttitel »Das deutsche Volk klagt an«. Darin kam die Erwartung zum Ausdruck, in Deutschland selbst werde sich antifaschistische Opposition trotz aller Verfolgung ausbreiten und das System von innen her erschüttern können; diese Hoffnung bestätigte sich nicht, und es trat ein, wovor die Gegner des Faschismus gewarnt hatten: »Hitler bedeutet Krieg, Sklaverei, Vernichtung.«
A. K.

Katharina Schlieper (Hg.): »Das deutsche Volk klagt an. Ein Tatsachenbericht«, erweiterte Neuausgabe 2012, Laika Verlag, 404 Seiten, 24,90 €



Prägungen
Im Alter die Gewißheiten der Jugendzeit zu überdenken, ist nichts Ungewöhnliches. Was aber, wenn das Land der Jugend völlig untergegangen, »besiegt« ist? Dann sind die Überlegungen höchstens »Nachrichten aus Troja«. Aber wen interessieren die Besiegten, gar ihre Jugendträume?

Hans-Dieter Mäde (1930–2009) hat sich seine Prüfung nicht leicht gemacht, und er war gründlich. In der DDR arbeitete er als Regisseur und Intendant an bedeutenden Theatern. Seine Inszenierungen waren im Gespräch. Später war er Chef der DEFA, doch das ist für dieses Buch unwichtig. Mäde geht es um die Anfänge, die geistig-kulturellen Prägungen, die ihn geformt haben. Er las noch einmal die Bücher von seiner Leseliste, die ihn als Oberschüler und Student mit dem ausrüsteten, was er dann in Beruf und Gesellschaft anwendete. Daraus wird die Wieder-Begegnung mit seinen geistigen Vätern: Ernst Bloch, Thomas Mann, Friedrich Schiller, William Shakespeare, Karl Marx, Georg Lukacs, Bertolt Brecht, Georg Maurer, Maxim Gorki, Johann Wolfgang Goethe, Theodor W. Adorno ... Sie sind ihm wichtig geblieben. Aber hat er nicht manchmal zu kurz gedacht? Und wie viel Hochmut steckte in seiner Interpretation dieser seiner »Götter«?

Mäde verfolgt noch einmal sehr sensibel die geistige Welt, die er dank dieser Dichter und Denker für sich eroberte. Eben da erkenne ich vieles von dem, was mich und andere in der DDR Aufgewachsene prägte. Mit Hoffnungen und Elan wollten wir etwas anderes, aber das kam nicht aus dem Nichts, sondern auch aus der Begeisterung für Brecht und Busch, aus der Lektüre Gorkis, aus der Bewunderung für Shakespeare und der Aneignung des »Prinzips Hoffnung« sowie auch aus der manchmal naiven Annahme, daß sogar die Manns und Goethe »mit uns« sind.

Dieses Buch, das nicht nostalgisch eine Vergangenheit beschwört, sondern eine Selbstprüfung auf hohem Niveau ist – ich mag es.
Christel Berger

Hans-Dieter Mäde: »Nachricht aus Troja«, Edition Schwarzdruck, 289 Seiten, 20 €



Renate Schoof erzählt
eine heiter-resignative Spätsommer-/ Frühherbst-Geschichte: Einige Künstlerinnen und Künstler um die 60 lassen sich gern – wie vor Jahrzehnten schon einmal – vom Kulturamt einer Stadt am Meer zu einem gemeinsamen Arbeitsaufenthalt einladen. Sie sammeln Möwenfedern, Muscheln, Steine, Holzstücke, um sie irgendwie künstlerisch anzuordnen, und sie freuen sich, wenn jemand in den Gebilden einen Sinn zu erkennen meint. Einer hat Flaschen mitgebracht und sucht Texte, die er darin übers Meer an Unbekannt senden will. Ein anderer formt aus gelben Neonröhren das Wort »Hilfe«, um es am nächtlichen Strand leuchten zu lassen. Das Publikum zeigt wenig Interesse, worüber sich die Künstler aber kaum Gedanken machen. Sie sind hauptsächlich damit beschäftigt, einander zu beobachten, Veränderungen und Unverändertes festzustellen, auch endlich wieder mal zu flirten, wehmütig zu weinen und unentwegt zu rauchen. In den Gesprächen über dies und das macht sich einzig die weibliche Hauptperson noch wie einst Gedanken über das Weltgeschehen, empört sich über gegenwärtige Angriffskriege und deren erlogene Begründungen. Am leichtesten verständigt sie sich mit einem der alten Freunde, der unlängst als erster aus diesem Kreise gestorben ist und jetzt nur in ihrer Phantasie an dem Revival teilnimmt. Er stärkt ihr den Rücken in den Erregungen, in die sie ein kunstinteressierter Redakteur des stern versetzt. Die Hauptfrage bis gegen Ende des Romans ist die, ob dieser wichtige (er kann Millionen Leser erreichen, welch eine Autorität!), dieser selbstbewußte, dieser faszinierende Mann mit ihr schlafen wird. Ihn umschwärmen auch jüngere, womöglich schönere Frauen. Immerhin bietet er ihr rasch noch Freundschaft an, bevor er mit seiner wohlgeratenen Familie auf einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff in die Ferne reist.

Sehnsucht, Entsagung und zu allem der jeweils passende Schlagertext ... – Renate Schoof hat einen feinen Sinn für Verhaltensweisen, Empfindlichkeiten, Erotik, Mode und das Vergehen der Zeit. Mit ihrer Schilderung der demnächst abtretenden Generation westdeutscher Nach-68er – die vorangegangenen Jahrgänge hatten sich sexuelle Freizügigkeit noch hart erkämpfen müssen – erweist sich die Lyrikerin wiederum als eine umsichtige, geschickt unterhaltende Erzählerin, der man gern folgt.

Auf der ersten Seite stolperte ich über Sprachungetüme wie »kreative Durststrecke« oder »angesagte Location«, später erfreute mich manche überraschend neue, präzise Formulierung. Warum das erste Kapitel aus einer anderen Perspektive geschrieben ist als die folgenden, erschließt sich mir nicht. Der aufstrebende Verlag sollte sich ein gründlicheres Lektorat leisten, das auch Zeichensetzung beherrscht und zwischen Konjunktiv und Irrealis zu unterscheiden weiß.
Barbara Borretsch

Renate Schoof: »Blauer Oktober«, Verlag André Thiele, 214 Seiten, 16,90 €



Kalter Abriß
Daß man auf Landesebene eine Künstlerin ehrt und auf kommunaler Ebene zeitgleich ihre Werke zerstört – das gibt es wirklich, und zwar im Land Brandenburg in der Stadt Guben.

Noch läuft in der Brandenburgischen Landesvertretung in Brüssel eine vom Minister für Landesentwicklung, Jörg Vogelsänger, eröffnete Ausstellung mit Arbeiten von Sigrid Noack; da läuft in Guben, ihrer Heimatstadt, etwas ganz anderes ab. Unter Bruch des Urheberrechts und der Brandenburgischen Landesverfassung war dort ein von der Künstlerin geschaffener Brunnen abgerissen worden – zugunsten des Parkplatzes für einen neuen Netto-Markt. Und um eine »ansprechende Lösung für den neuen Geschäftsbereich« zu schaffen, wie die Stadt der Künstlerin schriftlich erklärte – nach dem Abriß. Vorher hatte man sich vertrauensvoll darauf verlassen, daß die Künstlerin das Fehlen ihres Werkes von selber bemerken werde.

Arbeiten von Sigrid Noack befinden sich in über 80 Museen und Sammlungen des In- und Auslands. In Basel besitzt man etwas von ihr, in Wien, Palo Alto, Strasbourg und Zürich. Auch für New York reichte es gerade noch, wo das Land Brandenburg graphische Blätter von ihr im German House präsentiert. In Guben aber, um »ein attraktiveres Wohnumfeld« zu schaffen, wie es in dem schon erwähnten Amtsschreiben an die Künstlerin heißt, schafft man den Noacksche Brunnen ab.

Inzwischen bemüht sich die Stadt um eine andere Erklärung ihres Vorgehens: Der Brunnen sei beim Versuch, ihn umzusetzen, kaputtgegangen. Dem widerspricht, daß eine Umsetzung nicht nötig gewesen wäre, denn der Investor bot die Einbeziehung der Brunnenanlage in die neue Bebauung an. In E-Mails zwischen Stadt und Investor war schon vom Ersatz für den Brunnen die Rede, als er sich noch am Platze befand. Der Versicherung des amtierenden Bürgermeisters in der Stadtverordnetenversammlung, er habe zum Entscheiden über den Brunnen nur wenige Stunden Zeit gehabt, widerspricht die Erklärung der »Neißestadt Guben« auf Facebook, der Brunnen habe »nach umfangreicher Prüfung leider nicht komplett geborgen oder umgesetzt werden« können. Und allem zusammen widerspricht der Artikel 34 (2) der Brandenburgischen Landesverfassung, der besagt: »Kunstwerke und Denkmale der Kultur stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände.«

Die Lausitzer Rundschau dagegen brachte ein Interview mit einem Künstler, der kürzlich von der Stadt einen Auftrag bekam, der auf das Recht des Eigentümers hinwies, ein künstlerisches Werk zu zerstören – so sei nun einmal das Urheberrecht.

Und so gesehen wäre dem amtierenden Gubener Bürgermeister Fred Mahro (CDU) wohl auch gar kein Vorwurf wegen eines Briefes an die Künstlerin zu machen, in dem er für das Geschehene ein besonders feinfühliges Wort fand: Der Fischkopfbrunnen sei »entsorgt« worden.
Ingeborg Arlt


Zuschriften an die Lokalpresse
Kein Wunder, daß das BER-Flughafen-Debakel die Spalten aller Tageszeitungen füllt! Namensgeber Willy Brandt würde im Grabe rotieren, hätte er erfahren, daß längst nicht alles zusammenpaßt, was zusammengehört. Gut, daß die Schuldigen ermittelt worden sind. Die beiden Geschäftsführer müssen wie einst Jesus die ganze Schuld auf sich nehmen, und dann ist wieder tutti paletti – die riesige Schadenssumme wird ja eh von den Steuerzahlern aufgebracht. Besonders peinlich ist das allerdings für den Herrn Körtgen. Der hatte, wie die Berliner Morgenpost berichtete, kurz zuvor seine Dissertation über »Optimierungsansätze zur prozeßorientierten Abwicklung komplexer Baumaßnahmen« mit Bravour verteidigt. Und er soll dabei nicht einmal abgeschrieben haben. Da zeigt sich wieder einmal, wie sich die Praxis an der Theorie rächen kann! Anders herum: Die Theorie wird erst dann zur materiellen Gewalt, wenn sie auch die Flughäfen ergreift. – Guido v. Münchhausen (62), Unternehmensberater, 15859 Kummersdorf b. Sperenberg
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Zur »Langen Nacht« der Theater, der Museen, der Galerien, der Wissenschaften, der Bilder, der Bücher, der Wohnheime und was es sonst noch für behördlich verordnete verlängerte Tagesabläufe gibt, ist die »Lange Nacht der Familien« hinzugetreten! Wie im Berliner Abendblatt trefflich beschrieben wird, müssen die Kids diesen Abend ausnahmsweise nicht mit ihren Eltern, Geschwistern oder Ahnen verbringen, sondern sie dürfen Gespenstern begegnen, sich in Dunkelkabinetten gruseln, im Heu toben, Feuerchen entfachen, sich mit Gegenständen bewerfen, raufen und Mutproben anstellen – kurz gesagt, all das ausprobieren, worauf sie als Jugendliche sowieso einen Bock haben werden. Ich halte das für eine gute Vorbereitung auf das bunte, freiheitliche Leben, möchte aber gern wissen, welche Äquivalente den Elternteilen oder Alleinerziehenden in den fraglichen Stunden angeboten werden. Nicht alle werden doch in Kneipen herumsitzen oder die Wartezeit auf gefährlichen Bahnhöfen verbringen wollen. Ist daran gedacht, den Eltern und näheren Anverwandten Spielabende, geführte Wanderungen, orientalische Entspannungsübungen, pädagogische Lesungen oder Morgengymnastik anzubieten und sie anschließend von Therapeuten betreuen zu lassen? – Natalie-Yvett Krause (32), Alleinerziehende, 37216 Witzenhausen
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»Wer läuft, sündigt nicht«, meinte Bild-Redakteurin Anna v. Bayern und traf sich mit Bundesinnenminister Friedrich in aller Herrgottsfrühe, nämlich am 4. Mai um 5.30 Uhr, in Washington zum 11-Kilometer-Lauf »durch die noch dunkle amerikanische (?) Hauptstadt«. Das von Personenschützern begleitete Jogging gab ihr die Möglichkeit, die bereits beim vorhergehenden Besuch am Untreusee bei Hof (Bild berichtete) gestellten Fragen zur Sicherheit der Nation, zu den Druckstellen auf Frau Timoschenko und zum Todesjubiläum von Osama bin Laden zu vertiefen und die deutschen Landsleute über den Drogen- und Alkoholverzicht des Ministers zu informieren. Ich begrüße es, daß sich Politiker und Pressevertreter nicht nur gegenübersitzen, sondern auch nebeneinander herlaufen. Das Beispiel des Innenministers, der ja von Amts wegen auch der führende Athlet der Republik ist, sollte Schule machen! – Leberecht Knieriem (76), Alterssportler, 82041 Laufzorn
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Unvorstellbar! Das ehemalige Busenwunder Pamela Anderson wurde Ende April beim Vizekanzler und Interims-Parteichef Rösler vorstellig, aber nicht vorgelassen! Und dabei hätten sich Tausende von Männern für ein solches Date vor Begeisterung das Toupet vom Kopf gerissen! Wie die Presse empört berichtete, wollte die Traumblondine Phil gar nicht persönlich näherkommen, sie wollte mit ihm gegen das Robbenschlachten in Kanada protestieren. Zuvor war die Baywatch-Nixe bei Gottschalk live und bei der Likörprobe in einer Super-Bar bewundert worden – und dann ein solcher Tiefschlag! Kein Wunder, daß sich Pam unmittelbar danach in die Lüfte schwang und Berlin unter Protest verließ. Die Chance, sein lädiertes Ansehen durch eine solche Begegnung aufzuhübschen, wird Phil während seiner Amtszeit sicher nicht noch mal geboten. Aber er muß ja wissen, was er seiner Partei und seiner Funktion zumuten darf. – Eleonora-Sabrina Wunderlich (32), Model und Sozialarbeiterin, 99718 Niedertopfstedt
Wolfgang Helfritsch