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Titel1217

Flüchtlingsodyssee  (Milana Müller)

Kuppelhalle Tharandt. Ein Willkommensabend für Flüchtlinge im Januar 2015. Ich treffe Tareq (Name geändert) aus Libyen. Nach einer Odyssee durch Europa ist er in der Tharandter Jugendherberge gelandet. Tareq hatte in Tripolis ein Medizinstudium begonnen. Zwischen Krieg und Terror ließ sich das Medizinstudium nicht mehr fortsetzen, nun. würde er gern in Deutschland im Gesundheitswesen lernen oder arbeiten . Ein Mensch mit Träumen, der sicher Hilfe braucht, um sie umzusetzen, ging es mir durch den Kopf.

 

Mama Monika, die treue Seele der Tharandter Herberge, begleitete Tareq auf der Suche nach einem Praktikumsplatz in das örtliche Krankenhaus. Es klappte. Nach anfänglicher Skepsis, ob man sich ausreichend verständigen könne, waren die Mitarbeiter_innen so begeistert, dass sie Tareq einen Ausbildungsplatz als Gesundheits- und Krankenpfleger für das kommende Jahr anboten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sein erstes Interview in der Ausländerbehörde. Bei diesem wird nur festgestellt, in welchem EU-Staat der Geflüchtete erstmals den Fuß auf den Boden der EU gesetzt hat. Tareq war über Malta gekommen.

 

Im Mai 2015 erreichte ihn ein Schreiben, das ihm eine 6-monatige Duldung beschied. Zwar nichts Abschließendes, dachte ich, aber auch keine Gefahr für eine Abschiebung. Doch je mehr ich mich mit der Asylgesetzgebung beschäftigte, umso mehr wurde mir klar: Das Asylrecht ist ein juristischer Dschungel. Jeder Geflüchtete hat eine andere Geschichte, und so gibt es unzählige Variationen, von denen abhängt, ob jemand hier bleiben kann oder eben nicht.

 

Nach dem Abkommen von Dublin schicken die deutschen Ausländerbehörden jemanden wie Tareq wieder zurück nach Malta. Im Sommer 2015 wurden die Asylgesetze fast im Minutentakt geändert, und die Politikeraussagen widersprachen sich permanent. Petra Köpping (SPD), Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, versprach, »wer eine Ausbildung hat, kann bleiben«. Ein Lichtblick.

 

Die Behörden aber agierten anders. Ein Brief der Ausländerbehörde untersagte Tareq den Beginn der Ausbildung. Ein persönliches Gespräch mit Staatsministerin Köpping wurde in letzter Minute abgesagt. Inzwischen waren es nur noch wenige Tage bis zum Lehrbeginn. Was tun? Als Gast setzte Tareq sich schließlich mit in die Klasse, wohl wissend, dass es unklar war, wie es weitergehen würde. Aber er war traurig. Hier konnte nur eine politische Lösung helfen. Doch sie kam nicht. Inzwischen litt Tareq unter Schlafstörungen. Permanent begleitete ihn die Angst, dass die Polizei ihn von der Straße wegholen könnte. Schließlich verließ er die Herberge nicht mehr.

 

Am 6. Oktober 2015 erreicht mich um 23.30 Uhr ein Anruf mit dem Hilferuf: »Die Polizei holt Tareq!« Franka und ich fuhren in die Jugendherberge. Lange sprachen wir mit den beiden Polizisten. Aber an dieser Stelle war keine Wendung mehr möglich. Ein Polizeiauto brachte Tareq erst nach Dresden, dann nach Düsseldorf, von wo aus der Flug nach Valletta, Maltas Hauptstadt, gebucht war. Die ankommenden Geflüchteten werden dort in gestapelten Containern direkt neben dem Flughafen untergebracht. In Malta begann für Tareq die Prozedur der Asylbeantragung wieder von vorn. Anmeldung bei der Ausländerbehörde – ein erstes Interview. Doch dieses Mal gab es für Tareq auch ein zweites und drittes Interview. Ende Januar 2016 hielt er in Malta seine Anerkennung als Geflüchteter mit subsidiärem Schutz in der Hand. Erleichterung.

 

Inzwischen waren wir vier Menschen, die nach Möglichkeiten suchten, um Tareq eine Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen. Schien er doch hier einen passablen Rahmen nach der Flucht finden zu können. Mit dem anerkannten Schutzstatus in Malta konnten wir einen erneuten Start in Deutschland planen.

 

Im Krankenhaus waren die Verantwortlichen bereit, Tareq wiederum einen Ausbildungsplatz für das kommende Lehrjahr bereitzustellen. Jetzt bedurfte es zuerst der Zustimmung des Arbeitsamtes. Der Beruf des Gesundheits- und Krankenpflegers steht auf einer Positivliste, welche ausweist, dass es in diesem Beruf nicht genügend ausgebildete Fachkräfte gibt. Es gab also Hoffnung. Nach vielen Anrufen bei der Zentralen Ausbildungs- und Fachvermittlung der Agentur für Arbeit hielten wir eine Zustimmung des Arbeitsamtes in den Händen.

 

In Malta war das Überleben derweil nicht einfacher geworden. Tareq konnte nicht mehr in der preiswerten Containerunterkunft bleiben. Er musste sich eine Wohnung suchen und einen Job finden. Nicht einfach in einem Land mit 1380 Einwohnern pro Quadratkilometer. Malta ist das Land mit der vierthöchsten Bevölkerungsdichte in der Welt. Tareq teilte sich schließlich eine teure Wohnung mit einigen anderen Flüchtlingen. Das machte ihm Druck, schnell nach Deutschland aufzubrechen. Nachdem Tareq seine Aufenthaltsdokumente für Malta beisammen hatte, setzte er sich ins Flugzeug nach Deutschland. Am Flughafen Leipzig erwartete ihn eine böse Überraschung. Die Polizei ließ ihn nicht einreisen – Begründung: »zehn Jahre Einreiseverbot«. Er rief mich an. Es war ein Freitagnachmittag.  Ich telefonierte mit Tareq und auch mit den Polizisten von der Bundespolizei, die wirklich freundlich waren. Das bestätigte auch Tareq. Eine der Unterstützerinnen machte sich etwa um 23 Uhr auf den Weg nach Leipzig. Gegen Mitternacht war Tareq allerdings wieder in den Transitbereich gebracht worden, um am nächsten Tag nach Malta zurückgeschickt zu werden. Damit bestand keine Besuchsmöglichkeit mehr. Katrin übernachtete in Leipzig. Gegen 6 Uhr erhielt sie einen Anruf von Tareq. Er sei schon draußen und könne 14 Tage bleiben. Wie bitte? Ja, tatsächlich. Am Morgen hatte ihm die Bundespolizei ein amtliches Schreiben übergeben, dass alles ein Irrtum gewesen sei. Wir konnten es kaum glauben. Es gab ein großes Wiedersehen, an das viele nicht mehr geglaubt hatten.

 

Für einen längeren Aufenthalt benötigte Tareq allerdings ein Ausbildungsvisum. Er nutzte die 14 Tage, um die wichtigsten Dinge zu klären, zum Beispiel den Ausbildungsvertrag zu unterschreiben, um ihn dann mit nach Malta zu nehmen. Wir telefonierten auch noch mit der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Malta und hatten ein aufschlussreiches Gespräch.

 

Auch Tareqs Rechtsanwältin, die alle Unterlagen von ihm hatte, war nichts von einem Einreiseverbot nach Deutschland bekannt.

 

Nach seinem Rückflug Ende April 2016 nach Malta stellte Tareq sofort seinen Visumsantrag bei der deutschen Botschaft. Diese stellte nach einigen Wochen erneut fest, dass für Tareq ein Einreiseverbot von zehn Jahren in der Datenbank eingetragen sei. Dies schien mir nun eine Angelegenheit, die sich nur in Deutschland klären ließ. Ich rief mit Tareqs Vollmacht in der Ausländerbehörde in Pirna an. Dort erklärte mir die zuständige Bearbeiterin, dass sie eine E-Mail ihrer vorgesetzten Behörde erhalten habe mit der Auskunft des Einreiseverbotes für Tareq. Ich schickte ihr das amtliche Schreiben der Bundespolizei. Das sei für sie nicht bindend. Sie halte sich an ihre vorgesetzte Behörde, war die Antwort. Es war kein freundliches Gespräch mit dieser Frau.

 

Nach Rücksprache mit Tareqs Rechtsanwältin schrieb ich einen Brief an das Bundesamt für Migration, um nachprüfen zu lassen, was es mit dem Einreiseverbot auf sich hatte. Telefonisch fand ich heraus, an welche Abteilung und welchen Mitarbeiter dieses Schreiben gerichtet sein musste. Kurz nach Versand des Briefes rief ich bei der Chemnitzer Außenstelle des Bundesamtes für Migration an, um zu erfahren, ob mein Schreiben beim richtigen Mitarbeiter angekommen sei. War es nicht. Aber dieser Mann bestätigte mir, dass er der richtige Adressat sei: »Bei mir muss es landen. Ich kümmere mich darum. Donnerstag rufe ich zurück und gebe Ihnen eine Auskunft.« Donnerstag rief er zurück. Es habe sich alles geklärt. »Es gibt kein Einreiseverbot.« Hu. Verrückt. Er werde dies der zuständigen Ausländerbehörde mitteilen, ich erhalte eine Kopie. Vier Tage später hatte ich diesen Brief. Er war nicht leicht zu verstehen. Es scheint so, dass man vergessen hatte, beim Löschen des Einreiseverbots bei der Einreise im April dies in einer anderen Datenbank auch zu löschen. Aber warum es überhaupt das Einreiseverbot gegeben hatte, und wie es bei der Einreise im April gelöscht wurde, konnte ich nicht herausfinden.

 

Letztendlich konnte Tareq Anfang August 2016 auf der Grundlage eines Ausbildungsvisums einen Flug nach Deutschland buchen.