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Titel1217

Die Gesellschaft braucht mehr Mattheuer  (Peter Arlt)

Aus unmittelbaren Begegnungen entstanden die Zeichnungen Wolfgang Mattheuers (1927–2004), meist mit Bleistift, dann zusammen mit Farbstift, mit Deckweiß gehöht oder aquarelliert, mit Tusche oder Kugelschreiber; manchmal wurden sie mit Kreiden oder Gouache zum Bild weitergetrieben. Diesen kostbaren Schatz bewahrt die Sammlung Peter Mathar, die jetzt zu einem Gutteil in der Kunstsammlung Jena bewundert werden kann. Ergänzend bieten die Kunstsammlungen Chemnitz die Druckgrafik aus der Sammlung Hartmut Kochs (bis 25. Juni) und die Rostocker Kunsthalle vom 2. Juli bis 17. September die Gemälde des Künstlers – anlässlich des 90. Geburtstages.

 

Auf den Zeichnungen befinden wir uns zumeist »im sächsisch-thüringischen Vogtland«, wo Mattheuer herkommt und – wie er schrieb – seine »ganze Bildermacherei, nicht nur die Landschaftsbildnerei, ihre stabile an- und aufregende Basis« hat. Mattheuers Bilddenken gewinnt in der Begegnung mit der Wirklichkeit die Motive, wie Sonne, Berge, Inseln, Frauengestalten, im Gestänge Verfangene, Flügel, und entfaltet sie mit bildhafter Phantasie und ikonographischen Medien in immer neuen Arbeiten weiter. Dabei werden die Motive verselbständigt, zerlegt, losgelöst, beseitigt, in Wandlungen umgebildet und aufgehoben, durch weitere vermehrt, zusammen- und weitergeführt, wie in den Zeichnungen »Horizont«, 1968, »Aussteiger« von 1978 und den Varianten von »Trotz alledem!«, 1978, auf Transparentpapier. Mit dem abgestürzten Ikarus und mit Prometheus, dem Menschenbildner und Sinnbild der Vernunft, der aus dem brennenden Raum flieht, da sich Technik und Fortschritt – im Sinne der kritischen »Dialektik der Aufklärung« – als zerstörerisch erweisen. Wie die Motive Integrations- oder Fusionsprozesse durchlaufen, vermittelt Einsichten in den schöpferischen Gestaltungsprozess, in das Werden und die Bedeutung von Kunst.

 

Die kleinen Museumsräume in Jena bieten konzentriert, wie ein Gegenstand in seiner Entwicklung oder »Selbstbewegung« auch in der Kunst zu betrachten und nach der Sentenz Johann Wolfgang Goethes im Entstehen aufzuhaschen wäre. Nichts vermittelt den Zauber der Bildentstehung so direkt wie eine Zeichnung. Wie die Bildsprache im Schaffensprozess durch die Wortsprache bearbeitet wird, findet ihren Ausdruck in Texten von Tagebüchern, ziert die Ränder und Rückseiten der Zeichnungen. Bei »Was nun?« aus dem Jahre 1979 liest man: »Narreninsel / Reporter-Leitung schlingt über die ganze Insel, / verschwindet und kommt immer wieder. / Lautsprecher. Der Verstrickte quält sich. / Die Flügel ziehen ins Blau. Der Gestürzte / kreuzt die Arme. In einem Kahn sitzt Einer – /apat(h)isch. Einer schaut gelassen ins Weite. / Eine steht wie eine Puppe. Ein Anderer protzt / stehend Kraft. Und wieder Einer steht ratlos mutig; / langhaarige kühne Jugendlichkeit […]« Auf dieser Insel Ikaria gibt der Bildermacher in exemplarischen Personen und Situationen eine Gesellschaftsdiagnose. Besonders mit Ikarus, der in den Gemälden und Linolstichen »Seltsamer Zwischenfall« und »Was nun?«, alle 1980, zerschmettert am Boden liegt und einem Gekreuzigten gleicht. Ikarus- und Christusbild changieren, da Jesus im Scheitern seiner Auffassungen Ikarus gleicht. Wolfgang Mattheuer richtete seine Blicke in das Getriebe der Gesellschaft.

 

Er verstand sich als Teil einer parallelen Bewegung zu den »68ern« im Westen, antiautoritär, antifaschistisch, friedliebend, voll visionärer Phantasie und Hoffnung auf eine Zukunft in einer sozialistischen Welt, die erforderte, in Ost und West die eingefahrenen Geleise zu verlassen und die erstarrten Zustände aufzubrechen. Deshalb ließ ihn nicht kalt, als er vom Tod Ulrike Meinhofs am 9. Mai 1976 erfuhr, was die Zeichnung »Trauer« ausgelöst hat. Mit dem ikarischen Ideal werden in Form von These und Antithese die produktiven, das heißt notwendigen Gegensatzseiten in der Einheit dialektischer Widersprüche gefasst, die zur Synthese drängen. »Und immer wieder, trotz alledem« beantwortet Mattheuer Zweifel und Verzweiflung mit Kampfeswillen und nie versiegender Hoffnung, so in der gleichnamigen Zeichnung von 1976 mit der zum Protest hochgereckten Faust, zum lockenden Ziel, zur Sonne.

 

Vom Mythos empfing Wolfgang Mattheuer entscheidende Inspirationen. Kaum ein Künstler brachte wie er antike Mythen als Medium bildnerischen Denkens ins öffentliche Bewusstsein und wies produktiv nach, dass, wie Albert Camus schrieb, »Mythen dazu da sind, von der Phantasie belebt zu werden«. Die wohl prägnantesten Bildfindungen gelangen Mattheuer seit 1971 zur Thematik des Sisyphos, der sich »Im Teufelskreis« befindet, den Stein behaut, den Ellenbogen auf den Stein gestützt über sein Schicksal sinniert und 1987 in »Genug« seinen Stein wieder gelassen hat. Quälend war für Mattheuer, dass im Sozialismus der real existierende Sisyphos unter den Bedingungen der Entfremdung und unentwickelten Demokratie, des nicht wirklich vergesellschafteten Eigentums an Produktionsmitteln, des Tabuisierens alternativer Wege, gegängelt von Macht und Bürokratie, arbeiten musste (aus heutiger Sicht: durfte). Näheres schrieb ich in »Die Flucht des Sisyphos. Griechischer Mythos und Kunst. Eine europäische Bildtradition, ihre Aktualität in der DDR und heute«, Gotha 2008.

 

In seiner Laudatio forderte Eduard Beaucamp: »Die Gesellschaft braucht mehr Mattheuer« und ergänzte unter einem Zwischenbeifall: »als Gerhard Richter, Georg Baselitz oder inflationäre Konzeptkunst.«

 

Der würdig gestaltete und gut gedruckte Katalog (128 Seiten, 22 €) enthält mehrere themengebundene Texte mit dem erfreulichen Fall, wie Forschung aus der DDR zur eigenen Darlegung herangezogen wird.

 

Städtische Museen Jena, Kunstsammlung, Markt 7, 07743 Jena; bis 13. August; Di, Mi, Fr 10 bis 17 Uhr; Do 15-22; Sa und So 11 bis 18 Uhr