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Titel1218

Vietnam war uns Herzenssache  (Ulrich Sander)

Auf einmal war der Krieg in unserer Redaktion präsent. Dr. Jansen nannte er sich, und er war als Arzt von der Bundesregierung nach Südvietnam entsandt worden, um in einem Krankenhaus zu arbeiten. Er legte einen Stapel erschütternder Bilder von grausam verletzten und verstümmelten Menschen auf den Tisch und bat uns, die Redaktion des Jugendmagazins elan in Dortmund, sie zu veröffentlichen. Seine Identität konnte er nicht preisgeben, denn den Vietnamrückkehrern sei ein regierungsamtliches Redeverbot erteilt worden. Er berichtete: »Wer nur einmal diese verbrannten und entstellten Menschen sah, die – wenn sie Glück hatten und nicht in den Reisfeldern elend zugrunde gingen – nach Bomben- und Napalm-Angriffen der Amerikaner ins Krankenhaus gebracht wurden, der wird es in seinem Leben nicht mehr vergessen. Das Napalm liegt als dampfende und langsam weiterbrennende Teer-Phosphor-Schicht auf den Körpern der Menschen; überall riecht es ekelerregend nach verbranntem Fleisch. Und immer wieder sind es Frauen und Kinder, die von dieser schrecklichen Waffe betroffen werden.« (elan, März 1968)

 

Es war ein erschütternder Exklusivbericht, den wir dank Dr. Janßen weitergeben konnten. Nur einige wenige linke Medien berichteten überhaupt über den Krieg in Indochina; die Mainstreammedien hielten sich an die Linie der Regierung: gar nichts oder US-Höriges bringen. Beim Jugendinformationsdienst Das Junge Wort in Wiesbaden, bei dem ich ebenfalls in jener Zeit tätig war, hatte Arno Klönne für die Anschaffung eines gebrauchten Fernschreibers gesorgt, mit dem wir sonntags Meldungen direkt in die Redaktionen senden konnten, wo oft junge Redakteure Dienst hatten – unbeaufsichtigt von Chefs. Die erlaubten sich dann, unsere Berichte anzunehmen, und so gelangten Meldungen über den sich immer mehr ausbreitenden Kampf junger Menschen unseres Landes in der Frieden-für-Vietnam-Bewegung in die Blätter.

 

Das Jugendmagazin elan hatte im Januar 1968 neben ein Foto des US-Präsidenten die Schlagzeile »Ein Mörder sieht dich an« gesetzt und ein Plakat herausgegeben: »Wanted! For Murder!« Im Text hieß es: »Johnson ist ein Mörder – ein Mörder wie die nazistischen Hauptkriegsverbrecher, die vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg nach den gültigen Grundsätzen des Völkerrechts verurteilt wurden. Kiesinger (auch er wird auf dem Plakat genannt) wird gesucht wegen Beihilfe zum organisierten Völkermord durch politische, finanzielle und moralische Hilfe bei der Aggression der USA in Vietnam.« Während aus den USA keine Beschwerde kam, verklagte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) den verantwortlichen Redakteur Hermann Sittner. Er hatte wenig Erfolg. Das Landgericht Frankfurt verurteilte unseren Kollegen nur zu 500 DM Geldstrafe, nicht wegen des Inhalts des Plakats sondern wegen der Form des Steckbriefes. Hermann Sittner erfuhr Unterstützung. Über 700 Selbstanklagen lagen dem Gericht vor. Der Anführer der westdeutschen Friedensbewegung, Pastor Martin Niemöller, sandte ein Schreiben an die Redaktion, in dem unter anderem der imperialistische Charakter des Krieges benannt wurde: »Ich habe viel Anlass anzunehmen, dass die Kriegspolitik der USA von übermächtigen Kreisen der Wirtschaft und der Industrie bestimmt wird.«

 

1968 war der Protest gegen den Vietnamkrieg auf dem Höhepunkt. Besonders junge Menschen, die APO, Außerparlamentarische Opposition, verstärkten ihren Kampf für den Frieden und die nationale Unabhängigkeit der Völker.

 

Was war in Indochina passiert? Nach japanischer und französischer Besatzung und im Ergebnis langer Befreiungskämpfe war Vietnam im Jahr 1954 am 17. Breitengrad in Nord- und Südvietnam geteilt worden; ein Genfer Abkommen sah Wahlen und Wiedervereinigung vor. Die Demokratische Republik Vietnam im Norden unter Präsident Ho Chi Minh war unabhängig, während im Süden Frankreich und die USA um Einfluss stritten und diktatorische Regimes unterstützten. Diese bekämpften die nationale Befreiungsbewegung, vom Westen Vietkong genannt, und als sie drohten zu unterliegen, griffen die USA direkt ein, Frankreich zog sich zurück. Der fingierte Tonking-Zwischenfall, der von den USA als angeblicher Angriff des Nordens auf die US-Marine erfunden wurde, und die Behauptung, Nordvietnam unterstütze mit Truppen den Vietkong führten zur Ausweitung der US-amerikanischen Kämpfe und zur Bombardierung des Nordens, offiziell abgesegnet von 1965 bis 1973 durch das USA-Parlament. Die Kämpfe wurden von den USA auf Laos und Kambodscha ausgedehnt. Im Januar 1973 willigten die USA in einen Waffenstillstand ein, und sie konnten nicht verhindern, dass die Nationale Befreiungsbewegung  am 1. Mai 1975 den Süden vollständig beherrschte und das Land wiedervereinigt wurde. Der Krieg war von den USA grausam geführt worden; es gab zahlreiche Kriegsverbrechen. Weit über eine halbe Million US-amerikanische Soldaten kamen zum Einsatz, 58.000 von ihnen starben. Insgesamt wird die Zahl der Toten des Vietnamkrieges auf drei Millionen geschätzt. Zwei Millionen verstümmelte und weitere zwei Millionen von abgeworfenen Chemikalien verseuchte Vietnamesinnen und Vietnamesen gehören ebenfalls zur grausamen Bilanz.

 

Westliche Staaten haben die USA bei ihrem Krieg unterstützt, auch die BRD. Diese allerdings nicht wie andere mit Truppen, jedoch mit Waffen (auch chemischen) und mit viel »Entwicklungshilfe« für das südvietnamesische Regime. Während die Regierung der BRD und die sie tragenden Parteien die Haltung der USA in Vietnam politisch und moralisch unterstützen, taten dies nur elf Prozent der Bevölkerung (lt. FR 23.2.68). Diese Haltung wurde in vielen Demonstrationen und Kundgebungen sowie Resolutionen bekräftigt.

 

Bei seinem Besuch in den USA im August 1967 erklärte Bundeskanzler Kiesinger vor dem National Press Club in Washington, »dass Bonn den amerikanischen Bemühungen und Zielen in Vietnam vollen Erfolg wünsche« (Kölner Stadtanzeiger 24.8.67). Ständig wuchsen die Bonner  Zahlungen an das südvietnamesische Regime, darunter Gelder für die »Wehrdörfer« im »kommunistischen Kampfgebiet«, und zwar bis Sommer 1964 auf 72 Millionen DM. Von 1955 bis 1969 wurden über 30 Milliarden DM an die USA gezahlt, und zwar zur Verbesserung der durch den Vietnamkrieg strapazierten Zahlungsbilanz (Welt 11.6.68). Bonn unterstützte auch mit militärischen Gütern, wie der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) bekanntgab.

 

Im Bericht des Bundeskanzlers zur Lage der Nation führte er am 11. März 1968 aus: »Gerade wir haben nicht den geringsten Grund, uns zum Schulmeister Amerikas aufzuwerfen.«

 

Der CDU-Generalsekretär Bruno Heck, zugleich Jugend- und Familienminister, brachte es auf den Punkt: »Am Mekong für Berlin« – so lautete das frühe »Wir verteidigen unsere Freiheit am Hindukusch« –, denn Verträge sollten eingehalten werden, ob sie sich nun auf »Berlin, Korea oder auf Vietnam beziehen«. (CDU-Pressedienst 29.3.68)

 

Der Weltimperialismus rang mit dem Weltkommunismus, diese pathetische Feststellung entbehrte nicht der Realität. Und so sah der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der einstige SPD-Studentenverband und nun linke unabhängige Verband, weltrevolutionäre Perspektiven heraufziehen: »In einer groß angelegten Offensive hat die FNL Südvietnams [Front National de Libération; U. S.] den revolutionären Volkskrieg auf eine neue Stufe gehoben.« Diese Erfolge »beweisen die Fähigkeit revolutionärer Befreiungsbewegungen«. Und weiter: »In dieser Situation muß die Oppositionsbewegung in den kapitalistischen Ländern ihren Kampf auf eine neue Stufe heben, ihre Aktionen ausweiten, verschärfen und konkretisieren.« So kam es dazu, dass die Losung von Ernesto Che Guevara »Schafft wir zwei, drei, viele Vietnams« aufgegriffen wurde. (Aus Berichten vom internationalen Vietnamkongress des SDS, 17./18.2.1968 in Westberlin.)

 

Die gerade gegründete Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend fasste die Position junger revolutionärer Sozialisten zusammen, die sich schnell ausbreitete, jedoch – anders als beim SDS – den Hauptfeind im eigenen Land sah: »Unsere Solidarität mit der Nationalen Befreiungsfront und dem um seine Freiheit kämpfenden südvietnamesischen Volk findet in erster Linie ihren Ausdruck in unserem Kampf gegen die moralische, finanzielle, wirtschaftliche und politische Unterstützung der US-Imperialisten.«

 

Während der SDS also weltrevolutionäre Ziele pries, standen in den Kirchen und Jugendverbänden, auch Gewerkschaften, diese drei Positionen im Vordergrund, wie sie im Sommer 1968 zusammengefasst wurden: Man trat dafür ein »dass die Bundesrepublik dem Krieg der Amerikaner in Vietnam jede politische und finanzielle Unterstützung versagt, dass alle Opfer des Krieges in Vietnam humanitäre Hilfe erhalten und dass die Bundesrepublik Deutschland die Forderungen nach Frieden für Vietnam auf der Basis der Genfer Abkommen aktiv unterstützt.« (Aus der Erklärung der westdeutschen Teilnehmer an den Weltjugendfestspielen im Juli/August 1968 in Sofia.)

 

Wenn auch das Thema Prager Frühling die Friedensbewegung zu unterschiedlichen Standpunkten, ja zu scharfen Differenzen brachte, so kann die Solidaritätsbewegung mit Vietnam bis zum Ende des Krieges als fester gemeinsamer Standpunkt der Jugendbewegung und vieler demokratischer Kräfte angesehen werden, so wie er heute undenkbar erscheint. Und es soll auch angemerkt werden, im Zuge der Vietnam-Solidaritätsbewegung kam es zum bis dahin ungekannten Ausmaß des gesamtdeutschen Protestes, auch hier wieder besonders der Jugend. Den Jugendverbänden in der BRD waren Kontakte zur FDJ und dem FDGB untersagt, aber das Thema Vietnam brachte »Deutsche an einen Tisch« wie eine noch ältere Losung hieß. Die Vietnamsolidarität der Bevölkerung der DDR war immens. Darüber müsste in einem gesonderten Artikel berichtet werden.