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Titel1218

Die Toten von München  (Horst Schäfer)

Das turbulente und dann todbringende Osterwochenende 1968 in München begann für mich am Gründonnerstag mit einer Gedenkstunde im Rathaus – für einen ermordeten Oppositionellen. Sieben Tage zuvor, am 4. April, war Martin Luther King in Memphis (US-Bundesstaat Tennessee) erschossen worden, angeblich von einem »Einzeltäter«, nach einer langen hauptsächlich von der Bundespolizei FBI inszenierten Verleumdungskampagne.

 

Als im Rathaus King als unerschrockener Kämpfer für Bürgerrechte, gegen Rassismus, Militarismus und soziales Unrecht sowie als Gegner des US-Massakers in Vietnam gewürdigt wurde, kam es im Saal plötzlich zu Unruhe.

 

Die Nachricht vom Attentat auf Rudi Dutschke in Berlin machte die Runde und veranlasste den Sprecher des FDP-nahen Liberalen Studentenbundes Deutschlands (LSD), zu einer Demonstration gegen Springer aufzurufen. Die Springer-Blätter, allen voran Bild, wurden wegen ihrer Hetze für den Anschlag auf den Studentenführer mit verantwortlich gemacht.

 

Fast alle schlossen sich dem Protestmarsch an, der sich mit einer zweiten spontanen Demonstration, darunter viele Gewerkschafter, vereinigte und zum Buchgewerbehaus zog, das Druckerei und Redaktion der Bild-Zeitung beherbergte. Als wir das Ziel erreichten, waren es Hunderte, die mit Plakaten wie »Springer schoss mit« in den Hof der Druckerei drängten. Eine Gruppe stürmte in die Bild-Redaktion, die aber unbesetzt war. Es wurde beschlossen, am nächsten Abend wiederzukommen.

 

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Um die Demonstranten zu verstehen, muss man sich erinnern, dass es nicht nur die Hetze des Springer-Konzerns war, sondern die gesamte politische Situation in der BRD, die Zorn und Wut auf »diesen Staat« lange angestaut hatte. Der wegen seiner Tätigkeit in der Nazizeit als »KZ-Baumeister« bekannt gewordene Heinrich Lübke war 1968 Bundespräsident, in Bonn herrschte die erste Große Koalition unter dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger, dessen Wahl zum Bundeskanzler von Lübke sowie vom Kommentator der faschistischen Rassengesetze und Kanzleramtsminister Adenauers, Hans Globke, betrieben worden war.

 

Diese GroKo versuchte schon seit einer Weile, die demokratiefeindlichen Notstandsgesetze durchzupeitschen, was trotz millionenfacher Proteste auch einige Wochen nach dem Mordanschlag auf Dutschke gelang. Und diese GroKo war es auch, die den verbrecherischen Vietnamkrieg der USA bejahte. Auf die spätere Frage der taz an den damaligen Münchner Oberbürgermeister und nachmaligen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel, warum sie den Krieg »bedingungslos unterstützt hat«, lautete seine sozialdemokratische Antwort: »Offen gegen die USA zu opponieren, stand einer deutschen Regierung damals schlecht zu Gesicht.«

 

Bayern wurde seit sechs Jahren von Alfons Goppel regiert, ehemals Mitglied der Nazi-Sturmabteilung (SA) und der NSDAP. Die Hochschulpolitik verantwortete acht Jahre lang Kultusminister Theodor Maunz, der ebenfalls SA- und NSDAP-Mitglied gewesen war. Mit seinen offiziellen Kommentaren zum Grundgesetz beeinflusst Maunz bis heute die Rechtsprechung der BRD. Laut dem damaligen Chefredakteur der National-Zeitung, Gerhard Frey, war Maunz unter Pseudonym sogar Mitarbeiter des Faschistenblattes.

 

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Am Karfreitag versammelten sich 1200 Menschen vor dem Buchgewerbehaus, die trotz eines rabiaten Polizeieinsatzes die Auslieferung der Bild-Zeitung erfolgreich behinderten. Zahlreiche Protestierende wurden verletzt und die Staatsanwaltschaft leitete 154 Strafverfahren ein.

 

Für den Ostermontag hatte die Polizei erheblich aufgerüstet. Mehr als 1000 Polizisten, Wasserwerfer und zivile Greiftrupps versuchten, die Auslieferung von Bild durchzusetzen – gegen etwa 3000 Demonstranten, die aus »Latten, Steinen, Brettern und Bänken« (so der Polizeibericht) Barrikaden gebaut hatten und einen Sitzstreik veranstalteten. Im wahrsten Sinne des Wortes schlug die Staatsmacht der »Pressefreiheit« eine Bresche.

 

Das Ergebnis war verheerend. Ein Fotograf der US-Nachrichtenagentur AP und ein Demonstrant wurden getötet, unzählige verletzt, etwa 120 verhaftet und gegen sie Strafverfahren eingeleitet. Bereits am nächsten Tag folgte das erste Blitz-Urteil: sieben Monate Gefängnis ohne Bewährung. Wie der Spiegel damals berichtete, hatten am Ostermontag in mehr als 20 Städten der BRD 45.000 Demonstranten gegen Springer demonstriert. Die Auslieferung »wurde an manchen Orten verzögert, aber nirgendwo verhindert. Dafür sorgten 21.000 Polizisten mit Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Tränengas.«

 

Ein Journalist der Abendzeitung beschrieb den Ablauf in München später so: »Wasserwerfer und Knüppel kamen zum Einsatz, aus der Menge heraus wurden wahllos Leute festgenommen, Frauen an den Haaren in Polizeiautos gezerrt. Schließlich flogen die ersten Pflastersteine ... Eine Nacht, die im Schrecken endete: Der Pressefotograf Klaus Frings (32) und der Student Rüdiger Schreck (27), waren in dem Gefecht durch Steinwürfe oder Knüppelschläge tödlich verwundet worden – die genauen Umstände wurden nie geklärt.«

 

Nicht nur Schriftsteller wie Günter Wallraff und Frieder Hitzer verlangten eine genaue Untersuchung, weil es von Anfang an Gerüchte gab, der Student sei von einem Polizisten erschlagen worden und Frings habe das durch Fotos belegt. Vor 10.000 Teilnehmern einer Kundgebung auf dem Königsplatz kurz nach Ostern, auf der auch Innenminister Bruno Merk (CSU) und Oberbürgermeister Vogel sprachen, erhielt der langjährige ASTA-Vorsitzende der Universität, Rolf Pohle, den weitaus stärksten Beifall, als er einen »öffentlichen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Morde« forderte.

 

Den gab es nie, aber Pohle wurde von da an von der Justiz erbittert verfolgt. Man machte den Jurastudenten für die Blockade von Springer, den »Barrikadenbau und Sitzstreik« verantwortlich. Das sei ein »Verbrechen des schweren Landfriedensbruchs«. Dafür erhielt er am 27. Mai eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Wegen der »Gefährlichkeit für die Allgemeinheit« wurde auf den »generalpräventiven Charakter der Strafe« verwiesen. Sie sollte »zum Schutz der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland« einem Überhandnehmen solcher Delikte entgegenwirken.

 

Dem folgte praktisch ein Berufsverbot für Rolf Pohle.

 

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Um einiges besser erging es damals dem Chronisten. Gegen mich leitete die Staatsanwaltschaft zwar wegen »Teilnahme an Sicherheitsstörungen« und »Verdacht des Haus- und Landfriedensbruchs« ein Ermittlungsverfahren ein – als einzigen von den etwa 20 Journalisten, die auf dem Gelände des Buchgewerbehauses gewesen waren. Die Justiz stützte sich dabei auf eine Entscheidung des Reichsgerichts von 1871 und eine Ergänzung von 1921, das Rotkreuz-Schwestern und auch Journalisten verbot, »sich in räumlichem Zusammenhang mit demonstrierenden Menschenmengen aufzuhalten«. Schäfer, so die Justiz, »sei beobachtet worden, wie er Demonstranten fotografiert und sich dabei in der Menge aufgehalten habe«.

 

Schließlich protestierten meine Gewerkschaft, die Deutsche Journalisten Union (dju), und der bürgerliche Bayerische Journalistenverband. Sie befürchteten, dass ein Urteil gegen mich die Entscheidungen des Reichsgerichts aktualisieren würde und damit in Zukunft jede Berichterstattung solcher Ereignisse unter Strafe gestellt werden könnte. Als die meisten der 20 Kollegen, die den Demonstranten gefolgt waren, daraufhin ankündigten, Selbstanzeige zu stellen, wurde das Ermittlungsverfahren gegen mich nach drei Monaten fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.