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Titel1218

Dub-ček!  (Marc-Thomas Bock)

Mit den Kindheitserinnerungen ist das so eine Sache: Man weiß nie genau, ob die Ereignisse, die erlebt zu haben man sich sicher ist, tatsächlich genau so stattfanden oder nur der nachträglichen Selbsttäuschung zuzuschreiben sind. Im Falle des Augusts 1968 jedoch wurde mir von meinen Eltern später versichert, es habe sich tatsächlich so verhalten:

Ein heißer, trockener Sommer herrschte auch in Neuruppin, es flirrte nicht nur die erhitzte Luft über den volkseigenen Äckern, es flirrten auch die Stubenfliegen in unserer kühlen Wohnung. Ich saß am Fenster des Wohnzimmers und spähte hinunter, als ein besonders dicker Brummer auf der Scheibe vor mir landete und ich – mit dem sonst nur unserer Katze eigenen Jagdinstinkt – die Fliege zwar erfolgreich zerschlug, die von ihr als Landeplatz erkorene Fensterscheibe jedoch ebenfalls. Ich war angehender Grundschüler, meine das Klirren der Scherben auf dem Fußboden wahrnehmende Schreckstarre antizipierte bereits die parentale Ohrfeige. Dass die Generation der später sogenannten 68er den Weg zu einer antiautoritäre Erziehung, zu erzieherischen Möglichkeiten jenseits von Maulschellen und sonstigen körperlichen Züchtigungen, weisen wollte, wusste ich damals noch nicht, sonst wäre ich ganz schnell einer ihrer jüngsten Anhänger im Osten Deutschlands geworden. Und richtig, mein Vater stürzte ob des Splitterns ins Zimmer und kam sofort gefährlich in die Nähe des seine Strafe erwartenden Filius. Doch wie diese Strafe dann tatsächlich ausgefallen wäre, sollte ich nie erfahren, denn ebenso schnell erschien meine Mutter in der gegenüberliegenden Tür des Durchgangszimmers und rief meinem Vater zu: »Jetzt sind sie einmarschiert!«

 

Nun, den weiteren Verlauf des Prager Frühlings kennen wir, und spätestens seit der »Samtenen Revolution« mit den klingelnden Schlüsselbunden der Prager Bevölkerung auf dem Wenzelsplatz im Jahre 1989 wurden die bis dahin nur im Westen bekannten Fotos von Josef Koudelka, die Aufnahmen von umgestürzten Bussen und von umlagerten sowjetischen Panzern, von tschechoslowakischen Fahnen auf Straßenbarrikaden, auch uns DDR-Bürgern zugänglich. Aber dennoch: Der DDR waren die Proteste der Studenten von Berkeley oder Nanterre 1968 relativ fern, der Vietnam-Krieg war ein Verbrechen, das wussten gerade wir Anti-Imperialisten am besten. In jedem Klassenzimmer, an jeder Brigade-Wandzeitung hingen Losungen gegen den »US-Aggressor in der DRV«. Wir standen auf der richtigen Seite der Geschichte. Was vielen DDR-Bürgern anstelle der im Westen zur Revolte aufrufenden Losungen Herbert Marcuses, Cohn-Bendits oder Dutschkes tatsächlich emotional naheging, war die waffengewaltsame Beendigung des reformsozialistischen Ansatzes unseres Nachbarlandes durch einen anderen sozialistischen Bruderstaat. Vielen DDR-Bürgern war die Tschechoslowakei als beliebtes Urlaubsland vertraut, es gab ungezählte gesellschaftliche Partnerschaften und persönliche Beziehungen. Christa Wolfs Schwiegersohn kam von dort, Reiner Kunzes Ehefrau ebenso. Tschechische Filmproduktionen aus den Barrandov-Studios hatten schon damals Kultstatus. Die DDR-Führung ließ sich in tschechischen Achtzylinder-Limousinen durch ihr Land kutschieren und an der Oberschule »Klement Gottwald« in Berlin-Plänterwald war Tschechisch zu erlernende Fremdsprache. Die Tschechoslowakei und ihre Bevölkerung waren für DDR-Bürger tatsächlich Freunde, Vertraute, Partner auf Augenhöhe. Anders als bei Sowjetbürgern und Polen hielten sich antislawische Ressentiments ostdeutscher Kleinbürger gegenüber unseren südlichen Nachbarn sehr in Grenzen, wenngleich – wie in Westdeutschland – der Volksmund Nazisprech weiterbenutzte, fuhr man doch zu Besuch in die »Tschechei«.

 

Zurück nach Neuruppin: Was im Sommer 1968 mit jenen geschah, die in der DDR wider die offizielle Parteidoktrin von »Abweichlern« und »bezahlten Agenten des Westens« und für die Reformbewegung unter Alexander Dubček eintraten, ist seit Öffnung der Stasi-Archive bekannt. In Neuruppin gab es, wie an vielen anderen Orten auch, Parteiausschlussverfahren und berufliche Degradierungen. Auch zuhause, zwischen den Eltern, wurde nun wieder die Stimme gesenkt, wenn man über das Schicksal Dubčeks sprach oder vom Kollegen S., der nun weit weg in einen Produktionsbetrieb versetzt worden war. Es gab einen Parteisekretär, der ein Jahr später geschickt für die sowjetische Gewaltposition eintrat, als er Bezug auf eine Tragödie nahm, die sich gerade eben, im Sommer 1969, in Neuruppin zugetragen hatte. Anlässlich der Einweihung des »Magnet«-Kaufhauses sollte ein Hubschrauber der hier stationierten sowjetischen Streitkräfte Flugblätter und Süßigkeiten abwerfen, verfing sich beim Tiefflug jedoch an einem Antennenmast und stürzte ab. Alle Besatzungsmitglieder kamen dabei ums Leben. »Meint ihr, ein solches Volk, dessen Rotarmisten unseren Kindern solche Opfer gebracht haben, und das trotz des faschistischen Krieges gegen ihre Heimat, meint ihr, ein solches Brudervolk will das Unglück eines anderen Bruders?«, so oder ähnlich soll er sich während einer Parteiversammlung geäußert haben. Dass die Strafen für die tausenden Beteiligten des Prager Frühlings in der ČSSR oft viel drakonischer waren als für DDR-Oppositionelle, wird oft verkannt. Langjährige Haftstrafen und lebenslange berufliche Ächtung waren die Folge einer direkten persönlichen Teilhabe an den Geschehnissen von 1968. Milan Kundera hat in seinem Roman »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins« beschrieben, wie ein ehemaliger Botschafter der Dubček-Regierung nun den Fußboden einer Prager Vorstadtkneipe wischen musste. Berufsbiografische Demütigungen dieser Art hat es tatsächlich gegeben und gehören in ihrer Gehässigkeit zu den poststalinistischen Vergehen der Regierung Husák. Doch auch Gustáv Husák hatte nach einem Schauprozess selbst Jahre in tschechischer Haft verbracht und war erst durch Dubček rehabilitiert worden.

 

Die größte Tragik linker Bewegungen offenbart sich in der grausamen Unversöhnlichkeit gegenüber jedem Versuch, einen jeweils anderen Weg zum Ziel zu beschreiten als den eigenen. Vielleicht auch, weil man instinktiv weiß, dass die Existenz des Kapitalismus, in welcher Form auch immer, keine Reformierung eines realen Sozialismus zulässt, weil das Kapital in Dollar rechnet, nicht jedoch in Anleihen auf eine menschenwürdige Zukunft. Dies hat wohl auch Dubček am Ende zugeben müssen.

 

Viel später, im Sommer 1978, standen mein Vater und ich vor einem Gemälde im Prager Militärmuseum. Es näherte sich uns ein Mann, der uns auf Deutsch anzischte: »Wir hassen euch Deutsche – erst 38 und dann 68.« Auch dies ein deutsch-tschechoslowakisches Missverständnis: Die Nationale Volksarmee ist nicht auf das Hoheitsgebiet der ČSSR vorgedrungen, war aber im Süden der Republik in Alarmbereitschaft versetzt, dies zu tun, hätten es die sowjetischen Befehlshaber gefordert.

 

Als ich im Sommer 1985 meine Lesekarte in der Bibliothek der Humboldt-Universität verlängern wollte, fiel mir eine kaum noch sichtbare Inschrift auf dem rußgeschwärzten Verputz des ehrwürdigen Gebäudes auf: Dub-ček! stand da, beide Silben untereinander, eindeutig und durchaus entzifferbar. Jahrelang, bis zum Mauerfall, habe ich mich gefragt, warum die Stasi diese Inschrift nicht restlos entfernt hatte. Konnte sie es aus Denkmalsschutzgründen nicht? Nein, die Leipziger Uni-Kirche hatte Ulbricht 1968 sprengen lassen. Womöglich ermangelte es den Organen an geeigneten Reinigungsmitteln. Wahrscheinlich jedoch waren schon in den achtziger Jahren die Erinnerungen an Dubček so verblasst, dass man die vollkommene Tilgung des Namens nicht mehr als nötig erachtete. Der aufkommende Hoffnungsträger am realsozialistischen Himmel der bleiernen Achtziger hieß Gorbatschow. Heute ist das Griffito »Dub-ček!« durch eine Info-Tafel ergänzt und klärt die Nachgeborenen über seine Vision des Sozialismus mit menschlichem Antlitz auf. Und diese Vision ist es auch, die uns in unserer Familie seinen Namen seither immer in Ehren halten ließ.