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Bemerkungen

Der rote Keil

Zu den Legenden über »68« gehört, dass Kunst keine Rolle für die revoltierenden Studentinnen und Studenten gespielt habe, dass Kunst damals pauschal als bürgerlich abgetan worden sei, quasi als Krampf im Klassenkampf. Ich kann das aus eigener Erfahrung nicht bestätigen. Nach der Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 entwarf der Bildhauer Eberhard Fiebig ein Denkmal für ihn im konstruktivistischen Stil. Ich machte ein Interview dazu mit Fiebig für die Frankfurter Studentenzeitung Diskus. Das Denkmal wurde vom Frankfurter Studentenparlament beschlossen, die Realisierung von der Goethe-Universität aber abgelehnt.

 

Im Mai 1968 erschien im Diskus eine ausführliche Besprechung des vom VEB Verlag der Kunst Dresden herausgebrachten Bandes zum Werk von El Lissitzky. Fast zeitgleich dazu hatten wir – eine Gruppe an künstlerischer Agitation Interessierter – einige Transparente für den Sternmarsch auf Bonn gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze angefertigt, der am 11. Mai stattfand. Darunter eine Collage zu dem damals beliebten Thema der Konsumkritik, die nach der Demo mit hämischem Kommentar von der Bild-Zeitung abgedruckt wurde. Ein anderes Bildmotiv stellte eine Reihe grüner Polizisten-Silhouetten dar, mit rosa Knüppeln in der Hand. Als wir dieses Transparent später einmal bei einer Kundgebung vor dem Portal der Frankfurter Uni aufspannten, drohten die anwesenden Polizisten mit dem Einsatz ihrer Machtmittel, so dass wir es unter Protest wieder zusammenrollten.

 

Das politisch Zugespitzteste der Transparente entstand nach dem Vorbild von Lissitzkys berühmtem Plakat »Der rote Keil schlägt die Weißen«. Wir übernahmen die abstrakte Form, vor allem den Keil. Der Text dazu, in großen Buchstaben: »Kapitalismus führt zum Faschismus – Kapitalismus muss weg«. 1967 war unter dem Titel »Kapitalismus führt zum Faschismus ...« der Nachdruck einer Schrift von Paul Sering (Richard Löwenthal) aus dem Jahr 1935 erschienen. Anstelle eines Vorworts enthielt er Auszüge von Redebeiträgen bei einer Podiumsdiskussion mit Löwenthal, Herbert Marcuse, Rudi Dutschke und anderen. Es ging um den Abbau »überflüssiger«, mit dem Eigentum an Produktionsmitteln verbundener Herrschaft, die in der Krise zu faschistischen Lösungen neigt.

 

Der auf unser Transparent gemalte Slogan wurde damals bei Demonstrationen skandiert. Er erinnerte an das Diktum von Max Horkheimer, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden will, auch vom Faschismus schweigen soll. Kapitalismus führt zum Faschismus – in einem Artikel in der Welt vom 31. August 2000 unter dem Titel »Ach ja, der böse Kapitalismus!« wurde dies als schlichter Unfug bezeichnet. Autoritäre Staatsstrukturen seien gerade eine Sache von Ländern gewesen, die – wie Deutschland, Italien und Spanien – noch nicht vollständig durchkapitalisiert waren. Auch Horkheimers These müsse also »ketzerisch umgekehrt« werden.

 

Inzwischen ist sie etwas in Vergessenheit geraten. Unser Transparent selbstverständlich auch. 2008, zum vierzigjährigen Jubiläum von »68«, wurde es noch einmal im Rahmen einer Dokumentation in der Frankfurter Rundschau abgebildet, auf einem Foto vom Eingang der Goethe-Universität, die damals vorübergehend in Karl-Marx-Universität umbenannt worden war. Tempi passati.  

Reiner Diederich

 

 

 

Schauplatz Universität Köln

Über Köln wird gern der Satz zitiert: »Züri brennt – Köln pennt«, wenn es darum geht, den mangelnden revolutionären Schwung zu beschreiben. In den 1960er Jahren war es nicht so. Der größte Protest fand in der Domstadt bereits 1966 statt.

 

Im Herbst 1966 beschließt der Kölner Stadtrat gemeinsam mit den Kölner Verkehrs-Betrieben (KVB) eine Preiserhöhung. Ausgerechnet die Schüler- und Studententickets sollen am 24. Oktober um 52 Prozent teurer werden. Oberbürgermeister ist in diesen Jahren Theo Burauen (SPD). Erster Protest regt sich bei den Studenten. Der Asta-Vorsitzende Klaus Laepple, Mitglied der CDU und ihres studentischen Ablegers RCDS, sagt in einem Interview 1966: »Über diese Maßnahme ist die Kölner Studentenschaft bestürzt und enttäuscht gleichermaßen. Wir sind hierbei der Meinung, dass man erneut versucht, denjenigen die Kosten aufzuerlegen, von denen man […] den geringsten Widerstand erwartet«, es seien gleichzeitig die sozial schwächsten KVB-Nutzer.

 

In einem höflichen Brief schreibt Laepple an den Rektor der Universität zu Köln: »Aus diesem Grund haben wir die Studentenschaft aufgefordert, die Kölner Verkehrs-Betriebe durch einen Sitzstreik zu behindern.«

 

Mit Flugblättern wird zum Protest eingeladen. Drei Tage und Nächte sind 8000 Studenten und Schüler auf den Straßen und blockieren die Schienen, die sie teilweise mit Blei und Beton ausgießen. Ein Aufstand in dieser Größe von Schülern und Studenten war bisher in der Bundesrepublik einmalig. Der Protest hatte Erfolg und fand in späteren Jahren unter anderem in Bremen und Hannover Nachfolger.

 

Klaus Laepple ging mit seinem Kölner Fahrpreisprotest in die Justizgeschichte ein. Angeklagt als Rädelsführer wegen geistiger Nötigung, wurde er vom Kölner Landgericht freigesprochen. Der Bundesgerichtshof hob den Freispruch auf, und der Fall wurde an das Landgericht Wuppertal zurückverwiesen. Der zweite Landgerichtsprozess fand jedoch nicht mehr statt, da die Koalition aus SPD und FDP ein Amnestiegesetz beschlossen hatte.

 

Das Jahr 1968 ging auch an Köln nicht spurlos vorbei: Am 30. Mai besetzen Mitglieder des SDS zu früher Stunde, die Sonne ist gerade aufgegangen, die Universität zu Köln. Als Namen schlage ich für die Universität »Rosa Luxemburg« vor, und kurze Zeit danach leuchtet der Name vom Unigebäude. Dank einer Barrikade am Haupteingang gibt es keinen Zugang zum Vorlesungsbetrieb.

 

Berthold Rubin, in Mannheim 1911 geboren und ein Fachmann der Spätantike, seit 1960 Ordinarius für Byzantinistik und Osteuropakunde an der Universität in Köln, nahm in diesen Jahren rechtsextreme Züge an. Der Professor versucht, mit dem Ruf »Es lebe das vierte Reich« die Barrikade zu stürmen. Er bewirft die studentischen Demonstranten mit Farbbeuteln. Auf einer Farblache rutscht ein Student aus und bricht sich ein Bein. Das ist die schwerste Verletzung aus den 68er Jahren an dieser Uni. Nachzutragen: Rubins politisch rechte Aktivitäten gehen so weit, dass er von der Kölner Universität 1968 entlassen wird.       

 

Karl-H. Walloch

 

 

 

1968: Reiseimpressionen

Um den 20. Juli 1968 reiste ich aus der DDR mit meiner Freundin, deren Freund und einem gemeinsamen Freund aus Westberlin in die ČSSR. Dort hatte sich die Kommunistische Partei auf einen Reformkurs begeben, der mehr Offenheit und Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten schaffen und auf demokratischer Basis den Weg für weitere Reformen ebnen sollte – was auch uns interessierte. Da wir keine Freunde im Nachbarland hatten, wollten wir durch Böhmen trampen, die Stimmung der Menschen erleben, aber auch in den Wäldern wandern. Tatsächlich trafen wir viele Autofahrer, die uns gern mitnahmen und – soweit das sprachlich über Deutsch und Russisch möglich war – begeistert über die neuen Perspektiven sprachen, die sich ihrem Land eröffneten.

 

In der DDR hatte es empört geheißen, dass die ČSSR die Grenze zum Westen nicht mehr sichere. Von Horní Planá aus wandernd, kamen wir tatsächlich nahe an die österreichische Grenze. Wir fotografierten uns vor einem Pfahl, an dem ein altes Warnschild in tschechischer Sprache und ein nagelneues Schild offenbar für DDR-Bürger angebracht war: »Achtung Grenzgebiet. Eintritt nur auf Bewilligung«. Die Grenze sah unbefestigt aus. Weit und breit waren keine Wachen, aber auch keine Flüchtenden zu sehen.

 

Je weiter wir in den Süden kamen, umso häufiger begegneten wir Romasiedlungen. Vornehmlich junge Männer schauten aus den Fenstern mehrstöckiger, durchaus bürgerlicher, aber ungepflegter Häuser, die von ihren früheren Bewohnern wohl verlassen worden waren, weil sie zu nah der Fernstraße lagen. Und zwischen den Häusern standen ebenfalls junge Männer herum, die offensichtlich nichts zu tun hatten. Es war ein Bild erzwungener Passivität wie aus der Dritten Welt, das mich erschütterte. Menschen in solcher Situation hätte ich in einem sozialistischen Land nicht erwartet: Die bisherige strikte Assimilationspolitik, die unter der Reformregierung kaum Veränderung erfuhr, war sichtbar gescheitert.

 

Während die anderen drei nach Ungarn weitertrampten, fuhr ich noch für ein paar Tage nach Prag. Ich quartierte mich im Studentenheim in der Slavikova ein, wo man mich in ein Zimmer einwies, in dem bereits eine dunkle und eine weiße Studentin aus den USA wohnten. Ich wollte mich mit ihnen befreunden, zog aber schon am nächsten Tag in ein anderes Zimmer mit noch aufregenderer Besetzung. Tschechische Studenten konnte man im Sommer hier nicht kennenlernen. So zog ich also mit Scharen vornehmlich westlicher junger Leute durch die Stadt und wurde Zeuge erstaunlich engagierter Kundgebungen wie ich sie in der DDR nie erlebt hatte. Aktivisten auf offenen Lastwagen, die mit wehenden roten Fahnen heranbrausten, errichteten eilig eine kleine Tribüne, von der dann feurige Reden gehalten wurden. Der Inhalt war ohne nähere Sprachkenntnisse nur zu erahnen: Unter der Drohung des Einmarschs sowjetischer Panzer riefen sowohl KPČ-Genossen als auch parteilose Bürger zur Verteidigung ihres politischen Kurses auf. Das war sympathisch, aber ich war doch irritiert, dass ein Großteil der Zuhörer westliche Touristen waren, die Prag regelrecht überflutet hatten. Später kam heraus, dass sowohl das State Department der USA als auch etliche westeuropäische Länder Studentenreisen in Ostblockländer massiv subventionierten. Ich bin aber doch geneigt, im massiven Gebrauch, den junge Leute von dieser Möglichkeit machten, die – oft vergeblich gesuchte – Brücke zu sehen, die den Mai 68 im Westen mit dem Prager Frühling verband: ein für Menschen beider Seiten denkbarer neuer Aufbruch Richtung Sozialismus. 

       

Sabine Kebir

 

 

 

Episode zum 20. August 1968

Der junge Mann hatte Mitte der 60er Jahre nach dem Abitur einen Beruf erlernt, der allgemein unbekannt war: Datenverarbeiter. Die Armee schickte eine Einberufungsüberprüfung, es kam, was kommen musste, nach der Lehre trat er seinen Wehrdienst an. Er hatte Glück, seine Profession wurde auch dort gebraucht. So landete er nach drei Wochen Grundausbildung in einem Mot-Schützenregiment im Ministerium für Nationale Verteidigung im Rechenzentrum. Beamtendienst von 7.45 bis 17.00 Uhr. Morgens den Soldatenrock gegen einen weißen Kittel tauschen, zum Feierabend wieder umziehen. Gewohnt wurde in einem Ledigenheim, Ausgang jeden Tag, jedes Wochenende nach Hause nach Berlin. Ein ausgesprochen angenehmer Wehrdienst.

 

Aber durch Umstände änderte sich alles, er wurde strafversetzt. Der Grund dafür soll hier keine Rolle spielen. Zuerst sollte es in eine Einheit gehen, die im Ruf stand, anstrengende Ausbildung zu betreiben. Viele Gewaltmärsche, dauernd Alarm, Übungen und mit was man in einer Armee sonst noch so seine Zeit verbringen kann. Es kam anders. Er wurde gebraucht, ein neuer Datenverarbeitungsrechner sollte in einem Kommando installiert werden. Die Aufgabe löste er glänzend. Deshalb gab es ein Angebot: »Bleib hier als Zivilangestellter, bekommst ein ordentliches Gehalt.« »Na – ich brauch aber eine Wohnung, in einem Heim möchte ich nicht auf Dauer leben.« »Bekommst du, aber natürlich nicht gleich.«

 

Der Sommer 68 begann mit viel Sonnenschein, der bis zum Herbst hielt. An seinem ersten Arbeitstag erschien er im Anzug, mit schwarzer Aktentasche und einem Stockschirm über dem Arm. Die Soldaten in der Kaserne riefen: »Der Lord vom Alexanderplatz kommt!«, auf eine damals gut besuchte DEFA-Komödie mit Erwin Geschonneck und Angelica Domröse anspielend. Ihm gefiel das, und er erschien fortan jeden Tag in diesem Aufzug. Nach ein paar Wochen begannen seine Vorgesetzten ihn mehr oder weniger freundschaftlich darauf aufmerksam zu machen, dass diese Kleiderordnung missfällt. Er kümmerte sich nicht weiter darum. Man ließ nicht locker. Die Gespräche wurden ernster. Etwa so: »Musst du jeden Tag mit einem Regenschirm zur Arbeit kommen?« »Ich bin das gewohnt, habe ich zu Hause auch immer so gemacht. Sonst ist der Mann nicht komplett.« Das ging noch eine Weile, dann Bestellung zum Oberstleutnant. »Ich gehe jeden Tag mit dem General essen. Der regt sich langsam darüber auf. Hör mit dem Regenschirm auf!« Nach ein paar Tagen erneute Einbestellung zum Chef. »Der General regt sich jeden Tag über deinen Schirm auf! Ich gehe schon gar nicht mehr gern essen. Das ist doch lächerlich!« »Ist es nicht ebenso lächerlich, wenn man sich jeden Tag über den Schirm aufregt?«

 

Es wurde ernst, sehr ernst. Das nächste Gespräch wurde anberaumt.

 

»In der Armee gibt es den Befehl, jede Fehldiskussion zu den Ereignissen in der Tschechoslowakei zu melden. Uns ist zugetragen worden, dass du eine andere Meinung in kleinem Kreis geäußert hast. Das hat ernste Konsequenzen für dich! – Ich mache dir einen Vorschlag, Du lässt den Schirm weg, und ich gebe die Meldung nicht weiter, und alles ist erledigt.«

 

»Was tun?« fragte schon Lenin. Wegen eines Schirmes wollte er seine Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Die Sache wäre es nicht wert gewesen. Und auf die Ereignisse in der ČSSR hätte das Beharren absolut gar keinen Einfluss gehabt.

 

Er ließ den Schirm zu Hause und beide Seiten waren zufrieden, dass er sich eine neue Arbeitsstelle suchte. 

 

Thomas Schalop