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Ohne Kompass im Nirgendwo  (Conrad Taler)

Was ist eigentlich passiert in der einen Woche nach der Europawahl, bei der die SPD fast die Hälfte ihrer Wähler verlor und mit 15,8 Prozent auf dem für sie schmählichen dritten Platz landete? Andrea Nahles nannte das Ergebnis am Wahlabend extrem enttäuschend. »Kopf hoch!« rief sie ihren Anhängern aber tapfer zu; die SPD blicke selbstbewusst in die Zukunft. Redet so eine Parteivorsitzende, die sich aus dem Staub machen will?

 

Ganz offensichtlich wollte die Frau an der Spitze der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands als Konsequenz aus der Niederlage weder dieses Amt noch das der Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Bundestag aufgeben. Das hätte nicht ihrem Naturell entsprochen. »Ab morgen kriegen sie in die Fresse«, meinte sie mit Blick auf den bisherigen Koalitionspartner CDU/CSU nach der Niederlage bei der Bundestagswahl im September 2017. Da hatte sie sich bereits auf die neue Rolle als Opposition eingestellt.

 

Gegenüber dem Spiegel sagte sie, ihre Partei müsse programmatisch fundamental neue Wege gehen und dürfe eine deutliche Kapitalismuskritik nicht scheuen. Damals stand Martin Schulz an der Spitze der Partei. Der wollte die Große Koalition fortsetzen. Auf dem Bundesparteitag 2018 in Bonn sprang ihm Andrea Nahles als Fraktionsvorsitzende zur Seite. Den Kritikern des Schwenks hielt sie entgegen: »Wir geben doch die SPD nicht auf in dem Moment, in dem wir uns entscheiden, mit den anderen zu regieren.« So kam es zur Fortsetzung des Weiterwurschtelns in der Großen Koalition. Eine Erneuerung der Partei war damit von vornherein ausgeschlossen.

 

Als der Vorsitzende der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, aufgriff, was Andrea Nahles 2017 versprochen und gefordert hatte, wurde er von einem vielstimmigen Chor niedergebrüllt, auch von Sozialdemokraten. Nach der Europawahl schoben sie ihm die Schuld an dem Debakel zu. Dabei sollten sie froh sein, dass es wenigstens einen gibt, der in Erinnerung ruft, was einst das Wesen der deutschen Sozialdemokratie ausgemacht hat: Die erkennbare Parteinahme für die Menschen, die ihren Lebensunterhalt als abhängig Beschäftigte bestreiten und deren Lebensstandard dauerhaft nur verbessert werden kann, wenn der gemeinsam erwirtschaftete Reichtum halbwegs gerecht verteilt wird.

 

Auf diese Kernfrage einer politischen Neuorientierung verschwendeten die Beteiligten an den Diadochenkämpfen keinen Gedanken. Noch vor der entscheidenden Sitzung der Bundestagsfraktion und danach erst recht kühlten sie ihr Mütchen an der nicht immer comme il faut auftretenden Frau an ihrer Spitze. Wäre Andrea Nahles in einem politischen Richtungsstreit in die Mangel genommen worden, hätte sie vermutlich nicht das Handtuch geworfen. Aber diesen Streit hat es ganz offensichtlich zu keiner Zeit gegeben. Es blieb bei Schüssen aus dem Hinterhalt, bei Anzüglichkeiten und dummen Bemerkungen. Um den politischen Kurs der Partei und wegen des Glaubwürdigkeitsproblems, mit dem die SPD seit der Agendapolitik ihres Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu kämpfen hat, scheinen sich die Genossen wenige Sorgen zu machen.

 

Aber ist die SPD überhaupt willens und in der Lage, sich programmatisch zu erneuern? Ist sie nicht viel zu ausgezehrt, als dass ihr ein neuer Gesellschaftsentwurf gelingen könnte, der die Überwindung der Kluft zwischen Arm und Reich zum Ziel hat und es nicht bei einem gesicherten Mindestlohn und einer staatlich abgesicherten Grundrente belässt? Die beiden barmherzigen Samariterinnen Malu Dreyer und Manuela Schwesig, samt dem politischen Auslaufmodell Thorsten Schäfer-Gümbel, machten als neues Führungstrio nicht den Eindruck, als sei ihnen daran viel gelegen. Sollte sich Rolf Mützenich als Fraktionsvorsitzender an das heiße Eisen heranwagen, stehen ihm schwere Zeiten bevor. Ohne Kompass dümpelt die SPD im Nirgendwo vor sich hin. Dabei ist das Elend nicht zu Ende. Das dicke Ende kommt noch, wenn im Spätsommer beziehungsweise Herbst in drei ostdeutschen Bundesländern neue Landtage gewählt werden und gedemütigte ehemalige DDR-Bürger ihrem Frust in der Wahlkabine wieder freien Lauf lassen.