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Die Jetzterstrechtrepublik  (Dieter Braeg)

Die österreichischen Konzernmedien jubeln es zu einem großen Sieg hoch: das Ergebnis der Kurz-ÖVP von mehr als 35 Prozent bei der EU-Wahl. Die Wahlbeteiligung lag in Österreich bei 60 Prozent. 2017 hatte die ÖVP bei der Nationalratswahl 31,5 Prozent erzielt. Eine FPÖ, die damals 26,9 Prozent errungen hatte, landete jetzt bei der EU-Wahl bei etwas mehr als 17 Prozent. Rückschlüsse von den Ergebnissen der EU-Wahl auf die Ergebnisse der Neuwahl des österreichischen Parlaments im September zu ziehen erübrigt sich. Jedenfalls hat die Ibiza-Affäre der reaktionär nationalen FPÖ nicht massiv geschadet. Der zurückgetretene Vizekanzler Heinz-Christian Strache verabschiedet sich nicht aus der Politik. Strache kandidierte auf dem letzten, dem 42. Listenplatz der FPÖ zur Europawahl. Das österreichische Wahlrecht eröffnete Strache den Weg nach Brüssel: Wer mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen seiner Partei als Vorzugsstimmen erhält, rückt auf der Wahlliste vor. Strache erreichte 44.750 Vorzugsstimmen und kann damit einen der drei FPÖ-Sitze im EU-Parlament beanspruchen. Reaktion der FPÖ-Parteispitze: keine! Mit der »Jetzt erst recht«-Masche, die schon Kurt Waldheim trotz seiner Nazi-Vergangenheit zum Bundespräsidentenamt verhalf, hat sich die FPÖ über die EU-Wahl »gerettet«, und der Ibiza-Skandal wirkt schon jetzt kaum noch. Erkenntnis: Was da dokumentiert wurde, ist heute nicht einmal ein »Kavaliersdelikt«; blöd ist nur, dass man erwischt wurde.

 

Peter Pilz von der Liste »Jetzt«, der als erster einen Misstrauensantrag gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gestellt hatte, sagte in der Nationalratssitzung am 27. Mai, in der die Abgeordneten über den Antrag entschieden: »… in meinen über 30 Jahren als Abgeordneter habe ich nur zwei Mal Politiker in führenden Regierungsfunktionen erlebt, die ein außerordentliches Talent mit einem außerordentlichen Ehrgeiz und einer außerordentlichen Skrupellosigkeit verbunden haben und deren Handeln nur ein Ziel hatte: sie selbst und niemanden anderen. Das war Karl-Heinz Grasser, und das ist Sebastian Kurz. Beide haben größten Schaden für diese Republik angerichtet, und es ist notwendig, nach Karl-Heinz Grasser auch Sebastian Kurz zur Verantwortung zu ziehen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Grasser und Kurz, bei Grasser ist das finanzielle Interesse im Vordergrund gestanden, bei Sebastian Kurz gibt es ein ganz anderes alles dominierendes Interesse: das Interesse, die gesamte Macht sich und seiner Partei zu sichern. Das zieht sich durch das Handeln von Sebastian Kurz als Außenminister, als Parteiobmann und jetzt als Bundeskanzler …«

 

Am 27. Mai um 16.15 Uhr ist nach 525 Tagen die Regierung mit Bundeskanzler Kurz Geschichte. Mit großer Mehrheit sprechen die Mitglieder des österreichischen Nationalrates (SPÖ, FPÖ, Liste »Jetzt«) der Regierung samt Staatsekretären das Misstrauen aus. Sebastian Kurz verlässt vorübergehend die parlamentarische Bühne. Er nimmt weder das ihm zustehende Nationalratsmandat an noch den Posten als Fraktionsvorsitzender. Er richtet sein Krönchen und eröffnet seinen Wahlkampf.

 

Es gibt in Österreich keine Gesetze wie in Deutschland, wenn es um rigide Bestrafung wegen nichtdeklarierter Spenden geht. Für den Wahlkampf 2017 gab die Kurz-Partei sechs Millionen Euro mehr für Wahlwerbung aus, als erlaubt war.

 

Dass nach dem Wahltermin im Herbst wieder eine ÖVP-FPÖ-Regierung weitermachen wird, ist wahrscheinlich. Obwohl Sebastian Kurz in seinem Wahlkampf vor einer »rotblauen Koalition« warnt. Er hat eine Koalition mit der SPÖ ausgeschlossen und dürfte vor einer schweren Aufgabe stehen. Weder die liberalen NEOS noch die bei der EU-Wahl wieder erstarkten Grünen samt der wohl kaum wieder in den Nationalrat einziehenden Jetzt-Liste von Peter Pilz reichen für eine Regierungsmehrheit.

 

Bis dahin gibt es eine Expertenregierung. Österreich hat erstmals, verfassungsgemäß ernannt durch den Bundespräsidenten, eine Bundeskanzlerin. Brigitte Bierlein war bislang Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs (VfGH). Neuer Vizekanzler und Justizminister ist der langjährige Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, Clemens Jabloner, ein ausgewiesener Jurist und Kenner der Verwaltung. Außenminister Alexander Schallenberg ist jemand, der das internationale Parkett bestens kennt. Die Expertenregierung soll eine Vertrauensregierung werden, und erste Stimmen wünschen sich, sie möge lange Verantwortung tragen.

 

Am Anfang der Ibiza-Regierungskrise meinte Bundespräsident Van der Bellen: »Unser Land ist nicht so.« Wiad scho weidagehn« prostet man sich tröstend beim Heurigen zu, nach dieser »bsoffnen Gschicht.

 

Die österreichische Staatsordnung schwankt beständig hin und her – sie hat den Despotismus gemildert durch Schildbürgerei.