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Titel1310

Die befreite Zeit  (Otto Köhler)

Drei Tage nachdem jener Bundespräsident, der Tag und Nacht seine Fahne liebkoste, von eben dieser ging, hatte der echte, der vorbildliche Deserteur, hatte Gerhard Zwerenz seinen 85. Geburtstag. Fand er statt? Nicht in den Blättern, die jeden siebzigsten, fünfundsiebzigsten, achtzigsten Geburtstag jedes halbwegs bekannten Schriftstellers würdigen. Nicht in der Frankfurter Allgemeinen, nicht in der Süddeutschen, auch nicht in dem, was von der Frankfurter Rundschau übrig geblieben ist. Nicht in der Welt, die einst den DDR-Dissidenten Zwerenz pries. Nein, für sie alle war der Autor, der noch immer zubeißt, ein toter Hund. Auch für Die Zeit, die einst das Zentralorgan der deutschen Literatur war. Sie räumt ohnedies gerade mit dem ganzen Plunder auf.

Zwei Wochen bevor sie den Zwerenz-Geburtstag ignorierte, fragte sie: »Gibt es auch Klassiker, die sich überholt haben?« Und gab dazu zehn Autoren das Wort, die nicht älter als 35 sein durften, also ein natürliches Interesse an Vatermord haben sollten. Da wurden auf zwei ganzen Druckseiten alle liquidiert, die dem Sturm der Jungen auf die Bestsellerlisten im Weg stehen könnten. Günter Grass (»Ab auf den Dachboden«), Alfred Döblin (»unelegant«), Ingeborg Bachmann (»kaum zu ertragen«), Franz Kafka (»Leerstelle«), Ernest Hemingway (»Da ist mir zu viel Schweiß«), Raymond Carver (»Kleinformat«), Max Frisch (»Eitles Geraune«), Bert Brecht (»Hätten Sie doch mehr Rilke gelesen!«), Peter Handke (»Fühlt sich soft an«).

Zuallererst aber und da hört dieser Pennälerspaß auf: »Paul Celan? Die Mystikblase ist geplatzt.« Dieser Beitrag eines Mannes namens Melle könnte vor 1945 von Gunter d’Alquen für sein SS-Denunziantenorgan, das Schwarze Korps, geschrieben sein. Oder 1964 von Hans-Egon Holthusen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland. Aber er steht 2010 in der Zeit.

1964 ging das so: Der ehemalige SS-Führer Hans-Egon Holthusen warf Paul Celan in der FAZ seine »in surrealistischen X-Beliebigkeiten schwelgenden Genitiv-Metaphern« vor. Celans »Mühlen des Todes« nannte er als Beispiel für solche Beliebigkeit, als hätte er nie erfahren, daß sein SS-Kollege Eichmann die Verbrennungsöfen von Auschwitz als seine »Mühlen« bezeichnete. Der Czernowitzer Jude Paul Antschel, der sich Celan nannte, wußte aus eigener unbeliebiger Erfahrung, was Eichmanns Mühlen sind – seine Eltern überlebten nicht. Als Celan sich 1970 verzweifelt in der Seine ertränkte, waren solche Schriftstellerkollegen wie Holthusen daran nicht unschuldig.

»Du Lamm«, herrscht der Zeit-Spezialist für überlebte Schriftsteller den toten Celan an und höhnt: »Die Mythenzyste geschwollen, die Mystikblase geplatzt, schwillt ihm der Metaphernkamm.« Sein terminaler Henkerspruch: »Ein Todescharmeur, der mit verschwurbelter Ornamentik Geheimniskrämerei im Leichentuch der Verwandten betreibt.«

Zu diesem Lynchurteil kommen straferschwerend hinzu: »die blöden Lyrismen, die kaballistischen Tricks, bis in den Wahn.«

Kein Redakteur fand sich, der in diesem herabgewirtschafteten Zeit-Feuilleton wenigstens die orthographische, aber nicht unprogrammatische Verwechslung von Kabbala und Kabale korrigierte – an Antisemiten vergreift man sich nicht, nein, das alles war für die Zeit-Redaktion, wie sie im Vorspann schrieb, »in hohem Maße ehrlich und: sehr befreiend«.