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Titel1310

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Elend ist hausen, wo kein Gedanke wohnt – und das so nahe zu vielem! Wo mag das nur gegolten haben, gesagt worden sein? Ach ja, neulich im Theater, wohin es mich immer wieder zieht, wohl in der Hoffnung, daß da von Widerstand gegen eine jämmerliche Welt die Rede ist, daß gar Gegen-Entwürfe humanen Lebens, sozialer Ordnung gedacht, gebildet, Möglichkeiten gezeigt werden – komödisch oder tragisch. Man kann lachend wie weinend aus den Fehlern der Welt lernen. Nur Langeweile und dumpfe Ödnis lehren uns nichts. Und trübgrauer Bühnennaturalismus auch nicht!

Was hat mich so mißgestimmt? Etwas von Gerhart Hauptmann? Nein, der war nur manchmal langatmig oder zu simpel, hat aber auch kluge, sogar einige schöne Stücke geschrieben! Etwa Beckett? Oder einer, der mit dem Feuer marxscher Kritik die Kapital-Herrschaft in Brand setzt? Nein. Höllengelächter ist nie langweilig! Auch Martin Walser nicht mit seinen vergessenen, gar nicht so schlechten Bühnentexten, als sie noch antiimperial waren. Oder gar Schimmelpfennig, der finsterste Unhold derzeit.

Nein, ausgerechnet bei Sophokles mußte ich gähnen, dem Ur-Meister, der hier sogar aufklärerisch-revolutionär herangeholt worden war vom jakobinisch inspirierten Hölderlin. Und obwohl der grimme Anarcho-Kommunist Heiner Müller das antike Drama zum Revolutionsstück gemacht hatte. »Ödipus. Tyrann«, eine der bedeutendsten Tragödien menschlicher Zivilisation der letzten drei Jahrtausende, entstand zwischen 425 und 429 vor der Zeitrechnung, wurde um 1800 von Hölderlin nachgedichtet, 1966 von Müller in Neudeutsch übertragen, 1967 in dieser Fassung im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt, inszeniert von Benno Besson und dem Szenografen Horst Sagert mit Fred Düren als Ödipus; vor allem die Blendungsszene war ein Ereignis der Theatergeschichte.

Nun müssen wir den Bogen von der intellektuellsten Sicht (1967) zur dümmsten (2010) spannen, und es ist nicht der Bogen des Telemach, es ist der Bogen der Kritik, und der Pfeil richtet sich gegen eine geistig unbegreiflich heruntergekommene Produktion des gleichen Textes durch das sonst immerhin gutrenommierte Thaliatheater Hamburg, als Gastspiel in der Volksbühne. Inszeniert hatte Dimiter Gotscheff, Mark Lammert die Bühne gestaltet, nämlich sie leer gelassen und in graues Licht getaucht. Am Ödipus versuchte sich Bernd Grawert. Vier weitere Darsteller standen für die übrigen Rollen zur Verfügung: Karin Neuheuser (Jokaste), Bibiana Beglau (Kreon, Tiresias, Diener), Patricia Ziolkowska (Chorführer und Priester), Oda Thormeyer (Bote). Sieben weitere Darsteller sprachen die Passagen des Chores und wirbelten ein wenig umher. Über der riesigen, leeren Szene hing ein zunächst unverständlicher goldgelber Sack, der ab und zu hin und her bewegt wurde. Etwas über dessen Sinn vermochte man sich im Laufe des Abends hinzudenken: das verkündete Orakel von Delphi und dessen Goldschatz.

Ich hatte gleich zu Beginn Schreckliches geahnt: Im Programmheft, sonst meist ein Prachtbuch, war »Ödipus« (was Schwellfuß heißt) bereits in seinen Schriftzeichen gebrochen: ÖDIP, darunter: US, TYRANN. Autorennamen standen ganz unten, kleingedruckt. Den Namen der Hauptfigur und damit den Titel des Stückes zu brechen – das sagt viel: Metapher oder Symbol? Am Ende war die Darstellung eines großen gesellschaftlichen und kulturellen Bruches selbst nichts als Bruch. Man hatte alles kleingemacht, das Große war wirklich klein, gewöhnlich, die Spielweise selbst naturalistisch.

Wie kann solches geschehen? Ein Stück Weltliteratur verkam zur Larifari-Nummer, und das bei einem Regisseur, der ein Schüler, Freund und Exeget Heiner Müllers ist. Freilich: Müller selber, inzwischen Klassiker, war nie Klassizist, manchmal zu verrätselt, weil auch sprachverliebt. Spätere laufen Gefahr, sich in seinen Gedanken- und Vers-Ganglien zu verlaufen!

Müllers Adepten wollen zwar in die gleiche Richtung, doch Zielort und eigene Orientierung haben sich geändert. So enden sie im Sumpf, welcher hier ein geistig-politischer ist. Ihr Untergang ist künstlerisch und moralisch ein Debakel! Man wollte etwas Menschheitsgeschichtliches vorführen – vor unsere Augen kam platte Banalität: Ein ältlicher Mann in braunen Hosen und blauem Pullover räsonnierte etwas in Stammtisch-Haltung – das konnten seit jeher die Philister – und warf sich nach der Blendungsszene zuckend auf den Boden – eine Kabarett-Nummer. Diese Figur hatte gar nichts gelernt – und eine Zeitalter-Verwerfung kam ganz und gar nicht ins Bild. Aus dem frühantiken Stammeskönig war ein Kneipenkönig in schäbiger Kleidung und mit schlechter Aussprache geworden. Der Text war auf rund 60 Prozent reduziert. Erkenntnisgewinn: Null! Freude an Kunst: Null!

Wenn unsere Theater weiterhin so leichtfertig mit Subventions-, das heißt Steuergeldern umgehen, machen sie es den kritikfeindlichen Fortschrittsgegnern allzu leicht, sie einzuschränken oder abzuschaffen. Deren Feindschaft sollte wenigstens mit energischer Alternativhaltung entgegengetreten werden. Und mit der Art, gesellschaftlich zu denken, den menschheitlichen Denkprozeß zu zeigen, seine Fortschrittskraft und seine Gefahren, etwa der Erfindung der Abstraktion – wovon in dieser Inszenierung gar nichts zu erkennen, zu erleben war: »Süß ist wohnen/ Wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem.«

So beginnt das Angebot zu Entscheidungen, vor die ein Theater von sozial-politisch verantwortlicher Kraft uns stellen sollte. Wenn man keinen zeitgenössischen Anreger hat, dann kann Klassik helfen: Mit den größten Texten. Man muß sie nur erkennen und nutzen!