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Titel1311

Was in Libyen zerstört wird  (Werner Rügemer)

Jahrzehntelang förderte die »westliche Wertegemeinschaft« die nordafrikanischen Diktaturen in Ägypten, Tunesien, Jemen und Marokko. Westliche Unternehmen konnten frei investieren, die kollaborierenden Diktatoren bereicherten sich selbst und legten ihre Privatvermögen in Zürich, London und New York an; westliche Geheimdienste und Stiftungen waren aktiv, westliche Polizei- und Militärberater brachten die Unterdrückungsapparate auf westlichen Standard. In den Staaten, in denen Anfang des Jahres Proteste stattfanden, werden nun ein paar Führungsfiguren ausgetauscht. Die Verhältnisse sollen mit ein bißchen mehr parlamentarischer Tünche und westlichen Mobilfunknetzen und facebook so bleiben wie bisher. Vor allem soll der Lohn niedrig bleiben und keine weitere Unruhe aufkommen.

Dagegen galt der libysche Staatschef Gaddafi von Anfang an als Terrorist, Verrückter, Spinner, sein Staat als Schurkenstaat. Was war die Verrücktheit und Schurkerei des exzentrischen und teilweise unberechenbaren Gaddafi gewesen? Er hatte 1969 – neben Nasser in Ägypten – als zweiter ein feudales Regime gestürzt, nämlich das des britenfreundlichen libyschen Königs Idris I., der alle Parteien und Gewerkschaften verboten hatte. Im Unterschied zu den benachbarten Diktatorenclans bereicherte Gaddafis Regime im wesentlichen nicht sich selbst, sondern modernisierte das Land, steckte die Erlöse aus Öl und Gas in kostenlose Bildung für alle und in eine Art Sozialstaat.

2004 strich Washington Libyen von der Liste der »Schurkenstaaten«, die Europäische Union hob das Embargo auf. Die westlichen Konzerne konnten zurückkommen. Libyen dehnte seinen Außenhandel aus. Die 2006 gegründete Libyan Investment Authority (LIA) und die libysche Zentralbank investierten weltweit etwa 150 Milliarden Dollar, wie es auch andere staatliche Investmentfonds aus dem arabischen Raum tun. So ist der Staat bisher an etwa 100 westlichen Banken, Holdings, Industrie- und Ölfirmen beteiligt, zum Beispiel in Italien an der Bank Unicredit, an Finmeccanica, am Erdöl- und Energiekonzern ENI und auch am Fußballclub Juventus Turin.

Hinzu kam, und nun sind wir beim Kern der Sache, die Libysch-Arabisch-Afrikanische Investmentgesellschaft, die in 22 afrikanischen Staaten Bergbau-, Tourismus- und Verarbeitungs-Projekte fördert. So wurde 2010 auch der erste Telekommunikationssatellit der Regional African Satellite Communication Organization (RASCOM) realisiert: Afrika will unabhängig vom teuren und geheimdienstlich kontrollierten westlichen Satellitensystem werden. Dazu kommen die Afrikanische Entwicklungsbank (Sitz Tripolis), der Afrikanische Währungsfonds (Sitz Kamerun) und die Afrikanische Zentralbank (Sitz Nigeria): Das wäre die Befreiung von Weltbank und Weltwährungsfonds und vom französischen »CFA-Franc«, den die ehemalige Kolonialmacht Frankreich bis heute den ehemaligen Kolonien aufzwingt. (Die Abkürzung stand früher für Colonies francaises d’Afrique; inzwischen wurde sie geschmeidig mit anderen Begriffen gefüllt: Communauté Financière d’Afrique.)

Schließlich plant Libyen seit 1974 das größte Wasserprojekt der Welt: 35.000 Millionen Kubikkilometer reinsten Wassers lagern unter der libyschen Wüste, sie sollen nicht nur die Landwirtschaft im libyschen Norden versorgen, sondern auch in den Nachbarstaaten Sudan, Ägypten und Tschad. Im September 2010 wurde der erste Großabschnitt des Projekts eröffnet, zahlreiche Farmen werden bereits bewässert. Auch diese unabhängige Wasser- und Landwirtschaft ist dem Westen verhaßt, die Konzerne setzen auf teure Meerwasserentsalzung und auf den Nahrungsmittel-Import.

Außerdem sucht der Westen nach möglichst günstigen Bedingungen für das Mega-Solarprojekt »Desertec«.

Deutsche Medien aber hetzen gegen den Spinner, Schurken, Verrückten Gaddafi, die Einzelperson. Die inzwischen von den westlichen Regierungen fortgesetzte Konfiskation des »Gaddafi-Vermögens« betrifft zum allergrößten Teil Staatsvermögen.

Aufständische und regimekritische Bewegungen können bekanntlich von der »westlichen Wertegemeinschaft« entweder als böse Terroristen oder als gute Rebellen eingestuft werden – je nach wechselnden Umständen. Das erging den Taliban genauso wie dem inzwischen von seinen ehemaligen Sponsoren ermordeten Osama bin Laden. Die Aufständischen im libyschen Bengasi könnten leicht als Terroristen durchgehen, diesmal sind sie aber (noch) Rebellen. Bengasi ist ihre gefeierte »Hochburg«, weil hier das Gebiet des abgesetzten König Idris und seiner sufistischen Religionsgemeinschaft ist. Nach seiner Absetzung hielten der CIA und andere westlich-demokratische Institutionen engen Kontakt mit diesem Clan und steuern nun die »Rebellen«.

Nachdem die US-Vasallengemeinschaft im UNO-Sicherheitsrat erst einmal eine Resolution erwirkt hatte, um »zum Schutz der Zivilbevölkerung« in Libyen militärisch eingreifen zu können, machte sie klar, daß dies nur der Türöffner für die eigentliche Operation war: die »Rebellen« bewaffnen, den Bürgerkrieg organisieren, Gaddafi töten, regime change. Dafür werden nicht nur Regierungs- und Militärsitze bombardiert, sondern auch Städte und Versorgungseinrichtungen, und die Bomben töten auch Kinder. Die Rechtsbrecher bringen die Menschenrechte! Gleichzeitig wird der mächtigste und korrupteste Kollaborateur der Region, Saudi-Arabien, unterstützt, damit er sein feudales Selbstbereicherungsregime beibehält und die Aufständischen im benachbarten Bahrein mit US-Hilfe militärisch niederschlägt.

Wenn nun die US-Außenministerin Clinton und der deutsche Außenminister Westerwelle sich in Bengasi die Klinke beim völkerrechtswidrig anerkannten »Nationalen Übergangsrat« in die Hand geben und sich mit Waffenlieferungen und Geldspenden übertrumpfen, dann fördern sie einen wilden, gut gesteuerten Haufen, der als weiterer Türöffner zur neoliberalen Interventions- und Ausbeutungsordnung dient. Wenn sie die Demokraten wären, als die sie sich ausgeben, hätten sie jetzt andere Sorgen: die Selbstbestimmung und den Wohlstand der libyschen Bevölkerung zu erhalten, Gaddafi hin oder her – wir in Europa können uns auch nicht aussuchen, welcher Kriegsherr in den USA zum Präsidenten gewählt wird.

Wenn kritische Medien zur Abservierung von Dominique Strauss-Kahn als Chef des Internationalen Währungsfonds nun über die Sexbesessenheit dieses Bankers und die Männerdominanz in Politik und Wirtschaft tiefsinnige Reflexionen anstellen, dann sollten wir bedenken: Strauss-Kahn sympathisierte mit dem Ende des Dollars und einer neuen Leitwährung, den Sonderziehungsrechten der Weltbank. Rußland, China und andere Staaten zogen mit, auch die libysche Regierung. Auf dem G8-Gipfel in Deauville Ende Mai 2011 sollte darüber gesprochen werden. Aber mit dem Ende Strauss-Kahns im IWF und der Bombardierung Libyens ist der Dollar des führenden Folter-, Bankster- und Schuldenstaats (erst einmal) wieder gerettet.

Wie lange sollen abgehalfterte westliche Politiker wie Obama, Merkel-Westerwelle, Sarkozy, Berlusconi ihre selektive Menschenrechtspolitik in Libyen fortführen dürfen? Wieviele Bomben müssen noch fallen, wie lange soll der Bürgerkrieg noch angeheizt werden, bevor die Demokratie endlich den Westen selbst einholt und der nächste Schritt getan wird: Waffenstillstand!

Von Heinrich Hannover und Sevim Dagdelen bis zu Konstantin Wecker reicht inzwischen die Liste der Unterzeichner des in Ossietzky 12/11 veröffentlichten Aufrufs »Frieden für Libyen! Solidarität mit dem libyschen Volk!« Weitere Un-terschriften sind erbeten an bernd@freundschaft-mit-valjevo.de