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Titel1311

Bemerkungen

Selbstgespräch des Schlaglochs
Ich bin ein Schlagloch, tief, fast schon
                                            ein Trichter,
der unablässig Autos demoliert.
Mein Fortbestand als
                      Stoßdämpfervernichter
ist mir gewissermaßen staatlich
                                           garantiert.

Ich werde doch am Hindukusch
                                              verteidigt
zusammen mit dem ganzen Vaterland,
und Geld, mit dem man Schlaglöcher
                                                  beseitigt,
wird nun in jenem fernen Land
                                                     verbrannt.

Nicht jeder liebt auf Straßen und auf
                                                        Pisten
uns Löcher, das ist leider allzu wahr.
Doch allen ist bewußt: Die Terroristen
sind eine weitaus größere Gefahr.

Das knappe Geld dient also hohen
                                                       Zielen,
und ich bescheide mich diszipliniert.
Denn weltpolitisch eine Rolle spielen,
ist das, was jedes Schlagloch fasziniert.

Ich, Schlagloch, will begeistert
                                                  applaudieren
mit Achsenbruch und einem lauten
                                                             Tusch,
Stoßdämpfer knacken, weiter agitieren
für die Verteidigung am Hindukusch.

Günter Krone


Sprachregelung
Wieder einmal widerfuhr einem Bundeswehrkonvoi im Nordafghanischen ein »Bombenanschlag«, berichtet die FAZ auf ihrer Titelseite und fügt hinzu: »Die Taliban bezichtigten sich der Tat.«

Bezichtigten sie sich? Beschuldigten sie sich selbst eines Verbrechens?

Daß die Nachrichtenredakteure des Frankfurter Intelligenzblattes sich in deutschen Wortbedeutungen auskennen, dürfen wir annehmen. Also haben sie den Taliban untergeschoben, daß diese sich selbst als kriminell darstellen. Damit die FAZ-LeserInnen gar nicht erst ins Nachdenken kommen.
Marja Winken


Unterscheidungen
Wenn die Kommandeure der Bundeswehr, der NATO oder der US-Streitkräfte in Afghanistan über einen Anschlag der Taliban berichten, dann sprechen sie in der Regel nicht einfach über einen Anschlag, sondern über einen feigen Anschlag oder einen hinterhältigen Anschlag oder einen feigen und hinterhältigen Anschlag.

Das ist nicht neu. Als feige und hinterhältig bezeichnete die Großdeutsche Wehrmacht alles, was die Partisanen in der Sowjetunion, in Jugoslawien oder Griechenland unternahmen, um die Aggressoren aus dem Land zu vertreiben. Und selbstverständlich hießen die Heimatverteidiger in der Sprache der Nazis nicht Freiheitskämpfer, sondern Terroristen – wie heute alle, die sich der Eroberung ihrer Länder durch die NATO widersetzen.
Niemals aber würde ein an den fernen Hindukusch beorderter Offizier der Truppen des Nordatlantikpaktes von einem Anschlag – gar von einem feigen und hinterhältigen – sprechen, wenn eine aus den USA kommende Drohne eine paschtunische Familie in ihrem Wohnhaus vernichtet. Oder wenn Gärten und Äcker mit Uranmunition verseucht werden wie jetzt auch in Libyen. Oder wenn eine ferngelenkte Bombe in ein Krankenhaus einschlägt. Denn das sind bekanntlich humanitäre Einsätze. Heldenhaft.
Arnold Venn


Sonnige Zeiten?
Der Soziologe Ulrich Beck, eigentlich für Risiken zuständig, hegt beim Thema »Energiewende« einen sonnigen Optimismus. Sonnenenergie habe »emanzipatorische Konsequenzen«, meint Beck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Man könne sogar von einer Wohltat für alle sprechen, denn »wer nur einen Teil der Wüsten für Sonnenergie erschließt, könnte den Energiebedarf der gesamten Zivilisation decken«. Da würde sich die Weltzivilisation bestimmt freuen. Globaler Kapitalismus und Ökologie? Die kämen sich nicht ins Gehege, dessen ist sich Beck sicher. »Niemand kann das Sonnenlicht besitzen, keiner kann es privatisieren oder nationalisieren. Jeder kann diese Energiequelle für sich erschließen.«

Das hört sich nach richtiger Basisdemokratie an. Und tatsächlich: »Atomenergie ist hierarchisch, Sonnenenergie ist demokratisch.«

Nun könnte man kritisch einwenden, daß sogar Sonnenenergie privatisierbar ist. Denn irgendjemand, sagen wir mal mächtige Energiekonzerne, wird die Kollektoren, die in der Wüste aufgestellt werden sollen, gewinnbringend herstellen, und er wird sie mitsamt den Netzen betreiben, aus denen wir und nicht die armen Afrikaner den Strom beziehen werden.

Und was ist mit den Strompreisen, die an Energiebösen ausgehandelt werden? Darf da jeder mitmachen?

Ulrich Beck unterschätzt bei seinen Überlegungen offenbar die Fähigkeit der herrschenden Wirtschaft, alle Lebensbereiche durchzukapitalisieren und dabei auch vor Licht, Luft und Wasser nicht Halt zu machen. Es ist abzusehen, wer nach einer so vollzogenen »Energiewende« die entscheidenden Profite einstreichen wird. Ebenso, wer und zu welchen Konditionen die neue Energie beziehen darf.

Die Kanzlerin hätte sich mit den vier großen Energie-Konzernen nicht über das Abschalten von Atomreaktoren verständigen können, wenn nicht klar gewesen wäre, daß diese Konzerne auch in Zukunft das große Geschäft mit der Energie machen werden. Das Bundeskartellamt hat schon davor gewarnt, daß deren Macht durch die »Energiewende« weiter wachsen wird. Aber wer hört hier aufs Kartellamt?
Carsten Schmitt


Gut vernetzt
Die Bundeskanzlerin hat einen neuen amtlichen Berater für Wirtschaftspolitik gefunden, nachdem der bisherige die Leitung der Bundesbank übernommen hat. Lars-Hendrik Röller heißt der Mann. Durch Aussagen zur sogenannten Makroökonomie, zu den Umtrieben im Finanzmarkt oder zur Schuldenmacherei der EU-Staaten ist er bisher nicht aufgefallen. Aber er kennt sich in der Brüsseler Bürokratie aus und hat gute Kontakte zu den deutschen Großunternehmen; sie sind die Gründer und Geldgeber der in Berlin angesiedelten privaten Managerakademie »European School of Management and Technology«, deren Präsident er bis zum Wechsel ins Kanzleramt war. Den Sinn für das »Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Politik« besitze Röller auch durch »frühes Anschauungsmaterial im Elternhaus«, berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: Sein Vater habe als Vorstandssprecher der Dresdner Bank gewirkt und eng mit Helmut Kohl zusammengearbeitet.

So bleibt bei den wirtschaftspolitischen Überlegungen im Kanzleramt alles »in der Familie«, wie man im deutschen Besitzbürgertum gern sagt.
Marja Winken


Kundensprache
»Kundschaft!« höre ich oft, wenn ich ein Geschäft betrete (auch mitunter spaßeshalber in Kneipen); eine Kundennummer habe ich bei der Telefongesellschaft, der Versandapotheke und der Drogeriekette, beim Internetprovider, beim Autohändler und bei Warenhäusern, neuerdings aber auch beim Arbeitsamt oder, wie es aufgehübscht heißt, bei der Arbeitsagentur. Und als ich kürzlich eine Informationsschrift der Rentenversicherung anforderte, wurde ich ebenfalls nach meiner Kundennummer gefragt. Oh, wie ist die Welt heute kundenorientiert und kundennah; wie vergrößert sich der Kundenkreis! Will (oder muß) man dem »König Kunde« entgegenkommen? Oder ist man auf Kundenwerbung und Kundenfang aus?

Tatsächlich heißt es in § 51 a Sozialgesetzbuch II: »Jeder Person, die Leistungen nach diesem Gesetz bezieht, wird einmalig eine eindeutige, von der Bundesagentur oder im Auftrag der Bundesagentur von den zugelassenen kommunalen Trägern vergebene Kundennummer zugeteilt. Die Kundennummer ist vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende als Identifikationsmerkmal zu nutzen ...« Doch nach allgemeinem Sprach- und Wortverständnis (man höre aufs eigene Sprachbewußtsein oder schlage in Wörterbüchern und Lexika nach) gilt als Kunde, wer eine Ware kauft beziehungsweise eine Dienstleistung in Anspruch nimmt. Trifft das im Fall der Arbeitslosigkeit und der Renteninformation zu? Welche Kunde erreicht uns da?

Sprache ist verräterisch. Ob mit Absicht oder nicht: Wer das Wort »Kundennummer« verwendet, wie im Sozialgesetzbuch II geschehen, der vernebelt reale Herrschaftsverhältnisse in der kapitalistischen Warengesellschaft.
Gerhard Müller


Arbeitgeber oder Arbeitnehmer?
Der Mann, der den »Dönerfleischskandal« vor vier Jahren aufdeckte, ist längst arbeitslos, der Betrugsprozeß aber noch immer nicht abgeschlossen.

Der einstige Kühlwagenfahrer hatte, wie er im Interview zu verstehen gab, geahnt, daß er gegen ein ungeschriebenes Gesetz der Branche verstieß, als er einen Kunden auffliegen ließ.

Zur Erinnerung: Der M. S. brachte eine Ladung Fleisch zu einem Werk in Bayern: einer Fleisch- und Wurstfabrik. Auf den Paletten stand, daß es sich um minderwertiges Fleisch handelte.

Als der Empfänger der Lieferung, der noch nicht verurteilte Metzgermeister, den Kühlwagenfahrer drängte, das Fahrzeug so zu parken, daß niemand sehen konnte, was da ausgeladen wurde, und außerdem die Aufschriften mit der Kennzeichnung »nicht für den Verzehr geeignet« von den Paketen riß und in den Hosentaschen verschwinden ließ, schöpfte der Fahrer Verdacht.

Nachdem die Ladung gelöscht war, informierte der Fahrer auf der Rückreise die Polizei. Die fand in der Fabrik Ekelfleisch in rauhen Mengen, das vor allem für Dönerbetriebe in Berlin bestimmt war. So viel zur Erinnerung.

Die Titelfrage aber lautet: War der betrügerische Fleischabfallhändler ein Arbeitgeber oder Arbeitnehmer?

Die Gebäude der Firma stehen längst leer und verlassen. Der Metzger hatte schon vor Jahren hinter Gittern gesessen. Ihm war von Amts wegen untersagt, einem Gewerbe nachzugehen. Seine Frau übernahm die Geschäftsführung, zumindest auf dem Papier. Der Metzger handelte als Angestellter seiner Frau. Alles ganz rechtsstaatlich.

Die Kernfrage muß wiederholt werden: War die Spedition, in deren Auftrag der LKW-Fahrer damals unterwegs war und die ihn hernach entließ, sein Arbeitgeber oder Arbeitnehmer?

Übrigens ist der aufmerksame Kraftfahrer vom seinerzeit amtierenden Landwirtschaftsminister Seehofer öffentlich geehrt worden. Aber nur vom Lob kann kein Mensch leben.
Helder Yurén


Erinnerung unerwünscht
Wie weit sind wir denn schon mit der »Aufarbeitung« der Geschichte des »Unrechtsstaates«?

Ein filmästhetisch magerer, aber hochinformativer, materialreicher, sorgfältig recherchierter Dokumentarfilm erinnerte jetzt in München nicht nur an die trickreiche Überrumpelungsstrategie, mit der Kanzler Adenauer die Aufrüstung der Bundesrepublik durchsetzte und für Jahrzehnte das verhinderte, was später, die eigentlichen Akteure desavouierend, als die Leistung seines Nachnachnachnachnachfolgers Kohl gefeiert werden sollte: die deutsche Einheit. Der Film dokumentiert auch die Volksaufstände gegen die »Wiederbewaffnung« und die gewaltsame Niederschlagung aller Proteste. Und er erinnert an die Opfer: an die Tausende von aufrechten Friedensaktivisten, die unter dem Vorwand, sie seien Kommunisten oder unterstützten die Strategie der Kommunisten, also des Staatsfeindes, für Jahre ins Gefängnis wanderten. Er erinnert an den Essener Blutsonntag von 1952, wo mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen und der junge Arbeiter Philipp Müller tödlich getroffen wurde.

Der Film »Der lange Atem«, gedreht vor 30 Jahren von zwei Absolventen der Münchner Filmhochschule, wurde mit fadenscheiniger Begründung sofort verboten und durfte nie gezeigt werden. Die jungen Filmer ließen sich nicht entmutigen und drehten ihn unter dem Titel »Der längere Atem« in reduzierter Form noch einmal. Die Zweitfassung erregte zur Zeit der Friedensdemos gegen die »Nachrüstung« ein wenig Aufsehen und verschwand wieder. Jetzt endlich war die Originalversion zu sehen. Und in der Millionenstadt München, die sich gern als deutsche Kulturhauptstadt fühlt, haben sich doch immerhin sieben Personen eingefunden, sie anzuschauen – den Regisseur mitgezählt.
Hans Krieger


Traditionspflege in Spanien
Spaniens Königliche Akademie für Geschichte hat eine Enzyklopädie zur Nationalgeschichte herausgegeben, die über Francisco Franco behauptet, er habe ein autoritäres, nicht aber ein totalitäres Regime geführt. Er wird weder als Diktator geschildert, noch wird erwähnt, daß unter seiner Herrschaft Zehntausende von Regimegegnern ermordet wurden. Der Staat hat das neue Nachschlagewerk mit rund sechs Millionen Euro aus Steuergeldern finanziert. Mit dem Beitrag über Franco wurde ausgerechnet der Historiker Luis Suárez betraut. Der 86jährige Franco-Freund ist Vorsitzender der Bruderschaft zur Erhaltung des »Tals der Gefallenen«, Francos monumentaler Grab- und Gedenkstätte, die noch immer Pilgerziel der Franquisten ist. Außerdem steht Suárez der Franco-Stiftung und damit der Familie Franco nahe.

Noch immer behindert das Amnestiegesetz von 1977 die Aufarbeitung der Geschichte, Verbrechen bleiben straffrei.
Karl-Heinz Walloch


Einer von ganz unten
2008 starb Egon Neuhaus, sechsundachtzig Jahre alt, schwer krank – und konnte nicht sterben, bis es sicher war: Sein autobiographischer Roman wird gedruckt! 20 Jahre lang hatte der Eigenbrötler daran geschrieben – eine Kindheit und Jugend geschildert, von der man im wohlhabenden Deutschland nichts mehr wissen will, ja man mag sie kaum glauben. Armut, Waisenhaus, Knecht, Soldat, Krieg und danach immer noch keine Aussicht auf ein etwas angenehmeres Leben. Er ernährt sich vom Schwarzmarkthandel, landet im Gefängnis, danach birgt er mit anderen Gestrandeten Kohle und Metallreste auf Dortmunder Kippen. Ein erbärmliches Leben!

Egon Neuhaus, der kaum über Schulbildung verfügte, las gern und viel, interessierte sich für Kunst und Politik, sammelte von früh an Zeitungsartikel, die er aus den für Klopapier vorgesehenen Zeitungsstapeln auswählte. Dokumente hatten es ihm angetan: Er hob sein Leben gefährdende Flugblätter ebenso auf wie für ihn wichtige Tagesbefehle, Plakate. Er besaß nichts außer mehreren Kisten »Archiv«.

Das Buch beeindruckt. Einer von »ganz unten« gibt Auskunft, beschönigt nichts.
Christel Berger

Egon Neuhaus: »Spinnewipp«, Autobiographischer Roman, Verbrecher Verlag, 394 Seiten, 13 €


Mancherlei Denkmäler
Daß ein Bürger der DDR, der aus ihr nicht geflohen ist und kein »Dissident« war, Jahre nach ihrem Ende zum Ehrenbürger seiner Stadt erhoben wird, ist kein alltägliches Vorkommnis. So geschehen im Lande Brandenburg und wohl ein zu empfehlender Fall für die Mitglieder der vom Landtag berufenen Enquetekommission, die zu prüfen hat, was seit 1990 unternommen und unterlassen wurde, um Geschichte zu bewältigen. Das Faktum könnte somit vielen ein Denkanstoß sein.

Ereignet hat sich die Ehrung 2006 in der Stadt Bad Belzig, dem Solekurort im Hohen Fläming. Und erinnert wurde mit ihr unter anderem an ein Verdienst, das sich ein Stadtoberhaupt während eines Jahrzehnts erwarb. Das Amt bekleidete Gerhard Dorbritz in den sechziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts. Qualifiziert war er dafür durch kommunalpolitische Erfahrung, die er in den fünfzehn Jahren vorher schon von der Pike auf gesammelt hatte. Verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt, hatte er seine Laufbahn als Gemeindesekretär des Dorfes begonnen, aus dem er stammte. In Belzig setzte er sich einige Denkmäler: das neu errichtete Krankenhaus und die Oberschule, die den Namen des Antifaschisten Bruno Kühn trug, der mit dem Fallschirm in Nazideutschland absprang, der Gestapo in die Hände fiel und hingerichtet wurde. Übrigens überlebte der Name die Wende nicht. Zu den letzten Denkmälern zählt ein Stein, den er 1965 zur Erinnerung an die toten Zwangsarbeiterinnen einer in Belzig etablierten Rüstungsfirma errichten ließ. Die Frauen waren aus dem Konzentrationslager Ravensbrück hierher in ein Außenlager gebracht worden, dazu Arbeitskräfte aus besetzten Ländern, von Belgien und Frankreich bis zur Ukraine. Mit dem Totengedenken gab sich der Bürgermeister nicht zufrieden. Er rief Überlebende zu einem Treffen in die Stadt. Dem einen folgten viele. Das begründete eine Tradition, die bis heute fortwirkt. Und er kümmerte sich damals und später darum, daß dieser Teil der Stadtgeschichte nicht in Vergessenheit, sondern auch ins Bewußtsein der Nachgeborenen geriet. Dafür hat er, pensioniert, als ein Laienhistoriker forschend und schreibend auch selbst Voraussetzungen geschaffen.

Ins verordnete Zerrbild der DDR und ihrer Funktionäre mag das alles nicht so recht passen. Das weiß auch Dorbritz. Deshalb hat er jetzt seine Memoiren geschrieben unter einem Titel mit Hintersinn.
Erika Schwarz

Gerhard Dorbrit: »Das hat es auch gegeben. Lebenserinnerungen«, Treibgut Verlag, 174 Seiten, 12 €



Gerhard Schoenberner
Aus der langen Liste der Verdienste dieses – Ossietzky-Lesern auch als gelegentlicher Autor bekannten – Mannes, der eben die Schwelle in sein neuntes Jahrzehnt überschritten hat, ragen zwei heraus: ein Buch und ein Gedenkort.

1960 erschien sein Band »Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945«, der ins Englische übersetzt wurde und immer wieder Neuauflagen erlebte, ungeachtet aller sich in den folgenden Jahrzehnten entwickelnden Forschungen und der vielen aus ihnen hervorgegangen konkurrierenden Veröffentlichungen. Die FAZ hat dieses Werk aus dem Rückblick ein Jahrhundertbuch genannt. So aussagestark wie die darin reproduzierten Fotodokumente war auch die Auswahl schriftlicher Zeugnisse aus der Hinterlassenschaft der Nazimachthaber. Die Publikation steht am Anfang jener nicht beendeten Arbeit, mit der allen Versuchen der Boden entzogen werden soll, die Tatsachen zu beschönigen, zu unterschlagen, zu leugnen und vergessen zu machen.

Dem heute als legendär geltenden Buch folgten weitere, darunter 1962 das gemeinsam mit seiner Frau Mira herausgegebene, 1998 in einer erweiterten Fassung auf den Buchmarkt gelangte »Zeugen sagen aus. Wir haben es gesehen«. In der Reihe »Jüdische Miniaturen« erschien seine Biographie des deutsch-polnisch-jüdischen Historikers Joseph Wulf, der Auschwitz überlebte und in Berlin dafür kämpfte, in der Villa am Wannsee, in der 1942 Heydrich im Kreis von Staatssekretären und SS-Offizieren den Plan der Ausrottung der europäischen Juden erörterte, einen Gedenkort einzurichten. Keiner war berufener, über diesen Pionier der – wie später gesagt wurde – Holocaust-Forschung und Streiter wider das Verdrängen und Vergessen des Massenmords zu schreiben. Denn Schoenberner hat dessen Werk fortgesetzt und nach langwierigen Kämpfen zum Erfolg geführt. Schließlich konnte er die Konzeption der Ausstellung entwerfen. Mit der Eröffnung der Gedenkstätte Wannsee-Villa wurde er deren Gründungsdirektor.

Das ist nicht die Hälfte dessen, was aus gegebenem Anlaß über die Arbeit des Geschichtsforschers, Filmemachers, Museologen und Journalisten zu sagen wäre. Er ergriff Partei, wann und wo es die Sache erforderte – und das auf eine Weise, die überflüssigen Lärm vermeidet. Schoenberner ergriff, unabweisbare Tatsachen ausbreitend, die Partei Rolf Hochhuths, als versucht wurde, dessen Drama »Der Stellvertreter« als eine Verfälschung und Mißdeutung der Geschichte des Vatikans abzutun. Ohne Furcht, daß auch gegen ihn der Knüppel des Antisemitismus geschwungen wird, publizierte er, der von 1973 bis 1978 Leiter des Kulturzentrums der Botschaft der Bundesrepublik in Tel Aviv war, seine Kritik an der Palästinapolitik der israelischen Regierungen. Und 2005, 60 Jahre nach Kriegsende und 15 nach der Herstellung des größeren Deutschland, schrieb er einen Appell, der zum Aufstehen gegen die Neonazis rief, zum Protest gegen die von deutschen Politikern vorgenommene schrittweise Aufgabe des Prinzips »Nie wieder Krieg«, zur Verteidigung des Völkerrechts und der Bürgerrechte, zur Sammlung »der außerparlamentarischen Opposition und aller widerständigen Menschen«, unter denen er einer der Mutigen ist. Ad multos annos! Cto lat! Und: a demain.
Kurt Pätzold


Schamlos
Wer, in die Jahre gekommen, hätte sich in einer besinnlichen Minute nicht schon gefragt: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich an diesem oder jenem Punkte eine andere Entscheidung getroffen hätte? Wie, wenn nicht Ereignisse ohne mein Zutun in diesen Lebensgang eingegriffen hätten? Die älteste Generation der Deutschen hat dazu mannigfachen Anlaß. Zum Beispiel: Wie wäre es ihnen ohne die verlorenen langen Jahre zuerst in der Wehrmacht und dann in Gefangenschaft ergangen?

Manche Phantasie mag darüber hinaus zu Fragen wie dieser gelangt sein: Welchen Gang hätte die deutsche Geschichte genommen, wäre uns Hitler erspart geblieben? Oder aber, wenn er und die Seinen den Krieg gewonnen hätten? Der kontrafaktische Blick in die eigene Geschichte oder in die einer Familie mag Gedanken auf Verläufe richten können, denen hohe Wahrscheinlichkeit zukommt. Der Blick in die National- oder gar in die europäische Geschichte hingegen endet rasch und stets im Sumpf.

»Gedankenspiel Geschichte« überschrieb Die Welt online einen Beitrag unter dem Titel »Was wäre Deutschland ohne Hitler?«. Die Antwort ihres Autors lautet: »Wir wären zwar eine Weltmacht, aber sonst ein ziemlich normales Volk.« Und weiter: »Wir Deutschen wären in aller Welt dank der Zusammenarbeit unserer Wissenschaftler Albert Einstein und Werner Heisenberg als Erfinder der Atombombe beliebt ...« Nirgendwo hätten »wir« uns in der Welt zu schämen. Ausgenommen in Kiew und in Moskau, weil dort die ersten beiden dieser deutschen Bomben »getestet«, das meint: über der russischen und der ukrainischen Metropole abgeworfen wurden. Dazu sei es gekommen, weil Deutschland dem von Josef Stalin angegriffenen Polen 1942 zu Hilfe kam. Der Abwurf sei zwar umstritten, doch ihm sei eine Rebellion der Roten Armee und der Gulag-Insassen gefolgt, die zu einem demokratischen Rußland geführt habe. Ansonsten hätten die USA im Ergebnis eines »pazifischen Krieges« Teile Rußlands besetzt und Deutschland sich seit 1940 durch Österreich vergrößert. Genug.

Daß ein antikommunistisch vergiftetes Hirn derlei produziert, macht den Skandal nicht. Daß es in einer Zeitung keine Schamgrenze gibt, die es verbietet, derlei unter die Leute zu bringen, schon. Es wird aber zum Skandal nicht kommen. Die Bundesbürger hören gerade, die Mehrheit der von ihnen gewählten Abgeordneten sei ganz einverstanden, daß deutsche Landser künftig in aller Welt verstärkt helfen, Ordnung zu schaffen.
K. P.


Walter Kaufmanns Lektüre
»Die Wüste ist Ort des Lebens, der Arbeit, des Abenteuers und der Inspiration. Sie ist Symbol für Unendlichkeit, und Ewigkeit, aber auch für Einsamkeit und Stille.« Florence Hervé

Die in dem Text-Bild-Band »Frauen der Wüste« versammelten Politikerinnen, Künstlerinnen, Bäuerinnen und Forscherinnen – auch eine LKW-Fahrerin ist dabei, eine Ingenieurin, eine Architektin, eine Winzerin, eine Gewerkschafterin, allesamt fortschrittliche, fest im Beruf stehende Frauen – sind jede auf ihre Weise mit der Wüste verbunden: Unterm Sternenhimmel der Mojave (Death Valley, USA) ist Marta Becket in ihrem Amargosa Opera House als Choreografin, Tänzerin und Malerin tätig. Yin Yuzehn hat in beharrlicher Arbeit die sandige Steppe ihres Heimatorts Maowusu in der Inneren Mongolei in üppiges Grasland verwandelt und ist seitdem in China eine Berühmtheit. Die Schriftstellerin und Nomadentochter Malika Mokeddem setzt sich im französischen Exil für die Rechte der Frauen in ihrem Heimatland Algerien ein. Die Malerin und Illustratorin Sabine Kahane ist mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Chaim Noll (Sohn Dieter Nolls), vor rund 15 Jahren nach Midreshet gezogen, unweit von Sde Boker, dem Kibbuz Ben Gurions, der erklärte: »Wir müssen den Negev besiegen, sonst wird die Wüste uns besiegen.«

Die Lebensläufe der 38 Frauen, die die französische Autorin und promovierte Germanistin Florence Hervé für ein Interview gewinnen konnte, unterscheiden sich sehr von einander – was sie verbindet, ist die Wüste. Die nun hat Thomas A. Schmidt, ein Rechtsanwalt, der in der Europäischen Organisation Demokratischer Juristen zur Verteidigung der Menschenrechte tätig ist, mit seiner Kamera künstlerisch höchst gelungen ins Bild gesetzt. So ist ein schönes Buch entstanden – mit informativen Texten und anschaulichen Fotos.
Walter Kaufmann
Florence Hervé/Thomas A. Schmidt: »Frauen der Wüste«, Aviva Verlag Berlin, 192 Seiten, 39,90 €


Zuschriften an die Lokalpresse
Schon wieder ist der Wissenschaft lt. Apothekenrundschau eine bahnbrechende Erkenntnis gelungen! An Geldscheinen kleben nicht nur Schweiß und Blut, sondern auch andere gefährliche Krankheitskeime! Australische Forscherteams haben auf verschiedenen Kontinenten und in verschiedenen Ländern Bakterien auf Geldscheinen analysiert und festgestellt, daß »die Zahl der Krankheitskeime (...) vom Alter und Material der Scheine« abhängt. Also: Je älter die Scheine, desto dreckiger das Geld! Ein atemberaubendes Resultat! Um das herauszubekommen, waren die Spezialisten »von den USA bis Burkina Faso, von Australien bis Mexiko« unterwegs, haben Tausende von Kilometern zurückgelegt, die Hotelbetten gewechselt wie die Unterwäsche und an Imbißständen zurückgegebenes Schmiergeld genauestens unter die Lupen genommen. Aus den Ergebnissen können wichtige Schlußfolgerungen abgeleitet werden, zum Beispiel: »Verkaufspersonal sollte Geld und Lebensmittel nicht mit derselben Hand anfassen; noch besser wäre die Aufgabenverteilung auf zwei Personen.« Welche Chancen tun sich da für die Jobsucher und für die Agenturen für Arbeit auf!

Aber wie kann man gewährleisten, daß auch der Verbraucher oder Kunde stets die richtige Hand nach dem richtigen Objekt ausstreckt? – Prof. Waldefried Ungemach (57), Dipl.-Hygieniker, 25725 Schafstedt
*
Unter der Überschrift »BVG denkt an höhere Fahrpreise« hat die Presse mitgeteilt, daß die Berliner Verkehrsgesellschaft schon wieder mal an höhere Fahrpreise denkt. Das hat mich nicht überrascht, denn seit ich die BVG kenne, denkt sie an höhere Fahrpreise, und leider hat sie seit der unblutigen Revolution nicht nur ständig an höhere Fahrpreise gedacht, sondern die Fahrpreise tatsächlich permanent aufgestockt.

Diesmal braucht die BVG vor allem Geld, um die Sicherheit der Reisenden zu verbessern. Das ist auch einzusehen, denn wer heutzutage mutig eine Fahrt mit der U-Bahn oder dem Bus antritt, sollte vorher alles geregelt haben, was mit seiner Bestattung und seinem Nachlaß zu tun hat.

Nun hat die Angelegenheit, wie so vieles im Leben, allerdings zwei Seiten: Je höher die Fahrpreise sind, desto wahrscheinlicher handelt es sich bei den Fahrgästen um Besserverdienende, und das wiederum verlockt zum kriminellen Zugriff. Folglich würde es nicht ausreichen, einfach wie früher Personal auf den Bahnhöfen zu stationieren und die Kontrolleure zu bewaffnen, sondern die BVG müßte für die Reisenden Bodyguards zur Verfügung stellen. Die würden in das Ticket einberechnet und könnten am Zielbahnhof zurückgegeben werden. Diese Dienstleistung käme dem Arbeitsmarkt zugute, würde den Sozialkontakt zwischen Sicherheitsnehmern und Sicherheitsgebern fördern und jede Preiserhöhung rechtfertigen. –
Siegbert Fahrenholz (44), Security-Mitarbeiter, 13587 Berlin-Hakenfelde
*
Daß die Politiker die Frauenquote in Führungspositionen deutlich erhöhen wollen, ist völlig in Ordnung. Gut ist auch, daß die Presse dafür überzeugende Beispiele bringt.

So nennt die New York Times die Luftangriffe gegen Libyen »Krieg der Walküren« und meint damit Außenministerin Hillary Clinton, Botschafterin Susan Rice und die Kommandeurin der Luftstreitkräfte, General Margaret Woodward. Ich finde es auch bemerkenswert, daß Frauen, die selbst Mütter sind, diese hohe Verantwortung übernehmen. Ob das auch für die Generalin zutrifft, weiß ich allerdings nicht, denn die hat ja ihre bisherigen Karrierejahre meistens in der Luft verbracht, während ihr Fliegergatte den Kontakt zu ihr meistens vom Boden aus gehalten hat. Und was mir im Berliner Kurier sehr gut gefallen hat: Frau Woodward ist mit einem charmanten Lächeln in ihrer bescheidenen Generalsuniform abkonterfeit, während der Diktator Gaddafi ganz verbissen und unrasiert aus seiner Operetten-Uniform starrt. Da weiß man doch gleich, was man von ihm zu halten hat! –
Maxi Blümel-Schönemann (28), Chief-Managerin, 08427 Fraureuth
*
Die Polizei in Freiburg hat in der Wohnung eines Neonazis 22 Kilogramm Chemikalien, Zündschnüre und Bauteile für Bomben sowie Gewehre, Munition und Messer aufgefunden. Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens jedoch abgelehnt, weil die Teile an unterschiedlichen Stellen in der Wohnung gelagert wurden und nicht bewiesen ist, daß er sie auch zusammenbasteln wollte. Eine strafbare Handlung liegt nach Ansicht der Richter erst nach Fertigstellung der Sprengkörper, der Benennung konkreter Tatziele und dem Einsatz vor.

Ich finde es richtig, daß das Gericht nicht vorschnell urteilt. Deshalb schlage ich vor, die Materialien weiter im Hause des Bastlers zu belassen und erst dann wieder zuzugreifen, wenn die Bombe explodiert ist und ein klares Ziel des Jungnazis zu erkennen war. – Gerald Mauser (67), Hobby-Schütze, 67281 Bruchmühle
Wolfgang Helfritsch


Brandenburgische Anthologie
24 Autoren kommen mit 37 Texten in einer Anthologie zum gedruckten Wort, die der Landesverband Brandenburg des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) in der ver.di in Zusammenarbeit mit dem Kulturwerk brandenburgischer Schriftsteller herausgegeben hat. Meist kurze Prosa, einige Gedichte, Essayistisches – zu viel, als daß ich hier auf jeden Text eingehen könnte.

Die historische Linie beginnt in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs mit einer stimmungsvollen Kindheitserinnerung des Lyrikers und Nachdichters Erhard Scherner, der sich hier einmal mehr als kluger Prosaautor erweist (»Hier ist alles still«), sie führt über die Nachkriegszeit (»Greta Matuschke«) bis in die facettenreiche Gegenwart. Die Texte spiegeln die Vielfalt des Lebens in oft überraschend neuer Sicht (»Der Philosoph hinter Silly«). Autobiografische Notizen (»Wie ich Ossi wurde«) mischen sich mit Charakterstudien (»Einfache Verhältnisse«), verdichteten psychologischen Episoden (»Heimkehrer«) und originellen poetischen Ideen (»Einladung«). Manches wurde in eine treffsichere satirische Form gebracht (vor allem »Runderneuerung«) oder als Humoreske ins Groteske gesteigert (»Scharlie«).

Bei den Gedichten löst ein glättend versöhnlicher Grundton (»Als mein kleines Dorf zum Schachbrett wurde«) Fragen aus. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die drei Herausgeber gleich danach die klaren Aussagen eines gutwillig in die Politik Gegangenen (»Momentaufnahmen aus dem Bundesdorf Bonn 1995–97«) angefügt haben. Fraglich dann wieder, warum ein Rätsel aus gemeinsamer Kindheit und Jugend ungelöst bleiben muß (»Gisela«).
Beeindruckende Kurztexte und Verse machen tief nachdenklich und verstärken den guten Gesamteindruck des Bandes.
Hans Müncheberg
Ingeborg Arlt, Till Sailer, Carmen Winter (Hg.): »wir wahren worte. Texte aus Brandenburg«; petit édition, 176 Seiten, 9,90 €

Im Juli machen Ossietzky-Redaktion und -Verlag Urlaub. Heft 14 erscheint turnusmäßig am 9. Juli. Am 6. August folgt das Doppelheft 15/16.