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Titel1312

Erfahrungen mit dem Rechtsstaat  (Heinrich Fink)

Im ersten Verfahren, das ich als Theologie-Professor und als Rektor der Berliner Humboldt-Universität beim Arbeitsgericht gegen meine Entlassung durch den damaligen Berliner Wissenschaftssenator Manfred Erhardt angestrengt hatte, unterlag der Senator. Aber er legte Berufung beim Landesarbeitsgericht ein und hatte damit Erfolg. War das, was ich da erleben mußte, der Rechtsstaat?

Auch in der zweiten Instanz erklärte ich eidesstattlich, niemals wissentlich als Informant für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) tätig gewesen zu sein, und die vom Gericht geladenen Zeugen, zum Teil ranghohe Mitarbeiter des inzwischen aufgelösten Ministeriums, sagten gleichfalls unter Eid aus, niemals mit mir telefonischen oder gar persönlichen Kontakt gehabt zu haben. Ich sah diese Herren, von denen einer – wie die Gauck-Behörde unterstellte – einst mein »Führungsoffizier« gewesen sein soll, im Gerichtssaal zum ersten Mal.

Energisch widersprach ich der Behauptung, daß ich vom MfS eine mir von Minister Mielke zugedachte Verdienstmedaille der Nationalen Volksarmee erhalten hätte. Daß ich bei einem Ostberliner Kirchentag telefonisch der Stasi-Zentrale über eine der Veranstaltungen berichtet hätte, entkräftete der für die Stasi-Abteilung XX/4 (Kirchenangelegenheiten) verantwortlich gewesene Zeuge Dr. Wiegand unter anderem mit dem Hinweis, daß ich zu der eigens für den Kirchentag eingerichteten Telefonleitung keinen Zugang hatte.

Der Anwalt des Senators überraschte nicht nur mich, sondern viele im Saal mit der Einlassung, alle Aussagen der geladenen Zeugen seien unglaubhaft, sprich erlogen. In erster Instanz war ich von den Behauptungen des Senators freigesprochen worden, weil das Arbeitsgericht die spärlichen Belege aus den Aktenbeständen der Gauck-Behörde als nicht überzeugend wertete. Daß jetzt der Senator diejenigen, die die Akten angelegt hatten, als »Lügner« bezeichnete oder bezeichnen ließ, erschien mir zunächst als günstig; denn auf von Lügnern angelegte Akten würde er sich doch wohl nicht mehr stützen wollen.

Vorsitzender Richter Preis drängte mich wiederholt, einen »Vergleich« anzunehmen; dann müsse kein Urteil gesprochen werden. Ich verstand das nicht. Ich war ja von meiner Unschuld überzeugt – und bin es bis heute.

Am Tag darauf, am 17. Dezember 1992, überschrieb die junge Welt ihren Prozeßbericht: »Fassungslosigkeit nach Fink-Urteil«. In dem Bericht hieß es, nach diesem Urteil sei Fink zu Recht entlassen worden, weil er »wissentlich für das MfS gearbeitet« habe. Obwohl Richter Preis »der Gauck-Behörde vorwarf, sie habe ihre Funktion als objektive Auskunftsstelle zeitweilig verlassen und sich eindeutig auf die Seite des Senats gestellt (...), schenkte das Gericht schließlich doch zwei Stasi-Aktennotizen Glauben.« Die beiden Notizen belegten angeblich, daß ich während des Kirchentags mit einem Stasi-Mitarbeiter telefoniert und die Verdienstmedaille (in Gold!) bekommen hätte. Nach Angaben der Gauck-Behörde existierten Ton-Aufzeichnungen des Telefongesprächs, die aber dem Gericht ebenso wenig präsentiert wurden wie irgendein Beweis für die Verleihung der Medaille. Ausdrücklich verweigerte mir das Landesarbeitsgericht, gegen sein Urteil in Revision zu gehen.

In der Verhandlung hatte mein Anwalt Lutz Seyboldt, wie die taz am 15.12.92 zitierte, dem Gericht vorgehalten, man rüttele an den »Grundlagen des Rechtsstaates«, wenn man vollständige Beweise schuldig bleibe. Seyboldt erinnerte in diesem Zusammenhang an die McCarthy-Ära in den USA.

Nach der schockierenden Urteilsverkündung bekam ich im Flur vor dem Gerichtssaal Blumen und Gratulationen von Studenten und Freunden. Sie alle hatten mit Freispruch von den Vorwürfen der Gauck-Behörde gerechnet.

Im Januar 1993 lud die Hochschulgruppe der demokratischen SozialistInnen zu einem Abschied ins Auditorium Maximum unter dem Motto »Solidarität mit Heiner Fink« ein. Von der Hochschulleitung kam niemand. Es wäre auch schwerlich noch Platz zu finden gewesen. Wissenschaftler, Künstler, Kirchenleute nahmen in kurzen Beiträgen Stellung zu den Ereignissen, unter ihnen Rudolf Bahro, Stefan Heym, Jürgen Holzapfel vom Europäischen Bürgerforum, Käthe Reichel, Barbara Thalheim, Dieter Lattmann, Pfarrer Rolf Wischnath und mein Anwalt Seyboldt. Bahro sagte, der Stasi-Rufmord gegen Fink sei ein »bestelltes Ding«, wie es jetzt auch gegen den Schriftsteller Heiner Müller gehe. Die Brecht-Schauspielerin Käthe Reichel wandte sich, anspielend auf einen früheren Waffenhändler des MfS, mit der für sie typischen Ironie an mich: »Lieber Professor Fink, Ihr Fehler ist, daß Sie nichts über die Stasi verraten können, sonst säßen Sie jetzt am Tegernsee. Wer nichts zum Verraten im Koffer hat, kann die Koffer packen ... der ist verraten.«

Der Schriftsteller Dieter Lattmann (München), der als SPD-Abgeordneter acht Jahre dem Bundestag angehört hatte, setzte sich scharf mit der »Bundesbehörde, die auf diesen Eigennamen ›Gauck‹ hört«, auseinander. Sie setze »die Allmachtsphantasien der Staatssicherheit fort«. Lattmann sagte: »In der geistigen Wüste fortwährender Verdächtigungen ist die veröffentlichte Meinung für jede Verwirrung gut. Denunziation hat sich um die eigene Achse gedreht.«

Noch einige Sätze aus Lattmanns Rede seien hier zitiert: »Wenn politische Interessen die Justiz dominieren, bleibt der Rechtsstaat eine Vision (...) Als Rektor des guten Willens und christlicher Sozialist war Fink chancenlos für mehr als die Übergangszeit der Humboldt-Universität. Als Theologe auf der Grundlage der Bekennenden Kirche wurde er von einem ideologischen Gegner (Professor Trutz Rendtorff) abgewickelt, den wir in München als Verächter der Friedensbewegung kennen. Als Sprecher der Christlichen Friedenskonferenz der DDR stand Fink im Fadenkreuz uralter Feindschaft. Die alte Bundesrepublik tut in ihrer Mehrheit, als wäre sie nicht an der Teilung beteiligt gewesen und sich auch heute keiner Schuld bewußt (...) In einer wachsenden Zahl von Fällen genügt es in der größeren Bundesrepublik, als heimlichen Zuträger des DDR-Staatsapparats zu verdächtigen, wen man durch öffentliche Vorverurteilung ausschalten will (...) Anstatt heute gemeinsam die deutsche Vergangenheit in West und Ost aufzuklären, praktizieren nicht wenige Politiker und auch Kirchenleute eine Flucht aus der Geschichte (...) Es ist Zeit, daß Zivilcourage wiederkehrt, um Schaden von der Demokratie zu wenden.«

Lattmann hat zusammen mit 36 prominenten Freunden wie Inge Aicher-Scholl, Annemarie Böll, Karl Bonhoeffer, Andreas Buro, Stephan Flade, Friedrich-Wilhelm Marquardt, Wolf-Dieter Narr, Be Ruys, Dorothee Sölle, Martin Walser und Uwe Wesel entscheidend geholfen, die unvorstellbar hohen Gerichtskosten zu bezahlen. Ihm und allen Spendern bleibe ich herzlich dankbar.

Wohltuend war auch das, was Rolf Wischnath sagte und was dann in der Jungen Kirche abgedruckt war: »Ich als Westler kenne Heiner Fink, seit die Evangelische Kirche in der DDR die Losung ausgab ›Vertrauen wagen‹, was ja auch meinte, selbst mit Atheisten, Kommunisten und Feinden zu reden und ihnen unbefangen eben im Vertrauen auf die Kraft des Evangeliums zu begegnen. In der Zeit, als Ost und West bis an die Zähne bewaffnet einander gegenüberstanden und sich gegenseitig durch neue Raketen mit der atomaren Katastrophe bedrohten, lernte ich ihn kennen, damals wie heute als einen Mann des Vertrauens: einer mit offenen Armen, entgegenkommend dem, der ihm in den Weg tritt und das Gespräch zuläßt, vielleicht eher vertrauensselig, was aber allemal besser ist als feindselig. Nach der Wende wurde Heinrich Fink der erste frei gewählte Rektor der Humboldt-Universität. Gewollt wurde einer, der die Enden zusammenhalten kann, einer, der weniger in den Akten, dafür mehr in Gesichtern und Lebensbüchern derer liest, die in grundstürzende Krisen geraten waren und für die der Rektor trotz allem Verantwortung hat. Politisch gefordert war dagegen ein Abwickler, ein Kaltblüter. Man kann füglich bezweifeln, ob Fink für diese Erwartung in seiner spannungsvollen Position resistent genug war.«

Tags darauf wurde in der Universität ein Flugblatt von Bärbel Bohley, Reinhard Schult (Neues Forum), Wolfgang Templin und Michael Wartenberg (Bündnis 90) verteilt: »Keine Solidarität mit Heinrich Fink«. Die Studentenzeitung Unaufgefordert fragte daraufhin, warum die Bürgerrechtler sich denn nicht bei der Veranstaltung zu Wort gemeldet hatten. Später sagte Bärbel Bohley einmal, sie habe von der Vereinigung Deutschlands Gerechtigkeit erhofft und den Rechtsstaat bekommen. Meine Enttäuschung war wohl noch größer als ihre. Denn war das, was ich erfuhr, wirklich der Rechtsstaat?