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Ende der Illusionen: Rassismus in den USA  (Jürgen Pelzer)

In einem kürzlich ausgestrahlten BBC-Interview schockierte Albert Woodfox, der ein Buch über seine 43 Jahre währende Einzelhaft (»Solitary«) im Louisiana State Penitentiary vorgelegt hatte, den für scharfe Kritik bekannten Moderator: Auf die Frage, ob sich in der US-amerikanischen Wirklichkeit seit den siebziger Jahren etwas geändert habe, antwortete Woodfox: Nein, nichts habe sich geändert, er spüre den gleichen Rassismus wie früher. Irgendwelche Gesetze, auch ein Präsident Obama änderten daran nichts. Und der für die angebliche, niemals schlüssig erwiesene Ermordung eines Gefängniswärters verurteilte und nach einem langen Rechtsstreit freigekommene Woodfox schockierte den gutgläubigen BBC-Journalisten noch mit einer weiteren Aussage: Er bedauere die verlorene Lebenszeit nicht, denn nur im Gefängnis habe er die Chance gehabt, Jura zu studieren, sich zu bilden (»to educate myself«), Bücher zu lesen, anderen Gefängnisinsassen bei ihren Prozessen zu helfen. »Draußen wäre das nicht möglich gewesen.« Seine brillante Autobiographie ist das Dokument eines geradezu heroischen mentalen Widerstands und zudem eine einzigartige Informationsquelle über die Lebens- und Haftbedingungen im Süden der USA. Der Zeitraum, den das Buch abdeckt, sind die fünf Jahrzehnte nach der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre und deren Erfolgen unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson.

 

Auch für eine große Mehrheit der weißen Amerikaner ist schwer zu verstehen, dass es in nahezu zwei Generationen keinerlei Fortschritt gegeben haben soll. Tatsächlich hatten auch sie gewisse Erwartungen an den Civil Rights Act von 1964 geknüpft. Nach der Sklavenbefreiung mehr als hundert Jahre zuvor war, wenn auch mit enormer Verspätung, der nächste Schritt getan. In der Folge schienen die sozialen Fortschritte spürbar, wenn auch nur an der Oberfläche: Schwarze traten als Stars in Fernsehserien auf, in vielen Sportarten dominierten sie ohnehin, und wichtiger: Viele Städte hatten schwarze Bürgermeister, wie etwa Atlanta, Los Angeles, Washington, einige wurden Hochschulpräsidenten selbst an Orten, an denen sich früher ausdrücklich nur die weiße Elite rekrutierte. Eine schwarze Mittelklasse schien sich zu bilden. Vor allem die liberale Elite an den privaten und staatlichen Universitäten gab sich optimistisch. Schwarze Studentinnen und Studenten wurden aufgenommen, wenngleich sich deren Zahl in Grenzen hielt. Jahrelang engagierte man sich in »affirmative action«-Programmen, die auch die Gleichberechtigung von Frauen aktiv vorantreiben sollten (und dies auch erreichten). Fast überall wurden Black-Studies-Programme eingerichtet, die allerdings, den Grenzen der Identitätspolitik entsprechend, keine übergreifende Wirkung zeigten. Doch für viele Liberale war damit einiges erreicht, der Fortschritt schien unaufhaltsam. Der Überwindung des Rassismus an den Hochschulen würde langfristig auch dessen Überwindung in der Gesamtgesellschaft folgen. Diese liberale Illusion hatte auch der Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King geteilt, dessen legendärer »Traum« in den Goldenen Jahren des ungebremsten Booms der Sechziger keineswegs utopisch, sondern durchaus realisierbar schien. Der wirtschaftliche Kuchen war groß genug für alle, warum sollten die Schwarzen ausgeschlossen sein?

 

Doch gleichzeitig waren die Beharrungskräfte nicht zu übersehen. Auch in den Achtzigern war die Segregation offensichtlich, bei Banketten an berühmten Universitäten des Südens (wie der Vanderbilt University) fand sich unter den geladenen Gästen meist kein Schwarzer, die Bedienenden waren alle schwarz. Und noch vor kurzem fielen manche Liberale aus allen Wolken, wenn sie, wie meine Kolleginnen und Kollegen in Los Angeles, von pausenlosen Übergriffen oder der weiten Verbreitung rassistischen Vokabulars auf ihrem eigenen Campus hörten. In den Mensen blieben die schwarzen Studentinnen und Studenten unter sich, ihre Isolierung war nicht zu übersehen. Für viele war der mentale Druck geradezu unerträglich, Selbstmorde waren keine Seltenheit. Außerhalb der Universitäten hatte sich für die große Mehrheit der schwarzen Bevölkerung nicht viel geändert. Die meisten Gesetze standen lediglich auf dem Papier – selbst der Zugang zu Wahlen musste und muss weiterhin erkämpft werden. Liberale ignorierten die harsche Realität der Ghettos und der ins Gigantische wachsenden Gefängnisse, in denen mehr schwarze Jugendliche landeten als an den Hochschulen. Die Wohnbedingungen und Schulverhältnisse hatten sich kaum geändert, weshalb es schwierig blieb, die Anzahl schwarzer Studenten zu steigern. Durch Programme wie Black Studies ließ sich die gegenseitige Fremdheit nicht überwinden. Eine gemeinsame Basis für politisch-ethische Prinzipien kam so nicht einmal im akademischen Bereich zustande.

 

Der Rassismus in den USA ist – wie anderswo auch – tief verankert. Es ist keineswegs nur eine Art Vorurteil, das man mit ein wenig Einsicht, durch Erziehung oder ein positives Umfeld überwinden kann. Da in den ökonomischen und sozialen Verhältnissen verwurzelt, ist er strukturell (nicht nur institutionell). Die Abschaffung der Sklaverei hat nicht dafür gesorgt, dass sich das Verhältnis der verschiedenen Schichten der Gesellschaften, namentlich das zwischen armen Weißen und armen, in die Freiheit entlassenen ehemaligen schwarzen Sklaven verändert hätte. Letztere konnten sich aufgrund schlechter Vorbedingungen allenfalls in den schlechtbezahlten Jobs halten. Weiße hatten dagegen bessere Chancen und konnten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und ihre soziale Dominanz stärken. So betrachtet, ist der Rassismus eine Art Blitzableiter für das Problem der Ungleichheit, unter dem auch die weißen Unterschichten litten und leiden. Entscheidend ist somit das Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen zueinander. Auf diese Zusammenhänge haben Theoretiker wie W. E. B. Du Bois, Max Weber und Sigmund Freud schon vor gut hundert Jahren hingewiesen. So spricht etwa Max Weber davon, dass die »soziale Ehre der Weißen« an der Deklassierung der Schwarzen hänge.

 

Wenn der Druck zu groß wird, kommt es zu regelrechten Erdbeben. In den USA entzündeten sich die sozialen Gegensätze an der Gewaltanwendung der Polizei. Fast immer vorwiegend weiß und an den »Law-and-Order«-Maximen opportunistischer Politiker orientiert, setzt sie Gewalt gegen eine Bevölkerungsschicht ein, die aufgrund ihres ökonomischen Status als labil und gleichzeitig, vor allem was die männliche Bevölkerung betrifft, aggressiv erscheint. Die Bewegung Black Lives Matter hat hier vor etwa fünf Jahren angesetzt und die unhaltbaren Zustände ins Blickfeld gerückt. Mittlerweile hat sie das ganze Land erfasst. Dabei ist höchst bemerkenswert, dass sich immer mehr Weiße, vor allem junge Weiße, solidarisieren, auch und gerade an den Hochschulen des Landes. Diese Solidarität könnte ein Anzeichen für einen neuen Basiskonsens sein, demzufolge weiße und schwarze Gruppen auf gemeinsam einer Neuausrichtung einer Institution wie der Polizei bestehen. Auch die Corona-Krise sowie die daraus folgende ökonomische Krise haben bewusstseinsverändernd gewirkt, denn überdurchschnittlich betroffen ist wieder einmal die schwarze Bevölkerung, die unter mieser Gesundheitsversorgung und schlechten Wohnbedingungen leidet und deren prekäre Jobs – wie diejenigen vieler Jugendlicher – als erste verschwinden. Über die Erfolgsaussichten der neuen Bewegung lässt sich nur spekulieren. Viel hängt davon ab, ob sich andere Organisationen anschließen und ob die zu erwartende Polarisierungstaktik der Regierung unterlaufen werden kann. Wirkliche Erfolge werden sich ohnehin nur langfristig einstellen. Doch so schwierig eine nachhaltige Überwindung des Rassismus ist: Erkennt man wenigstens die gesellschaftlichen Bedingungen für dessen fortwährende Existenz, ist ein erster Schritt zur Veränderung getan.