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Titel1320

Graue Hinternentblößer über der grünen Stadt  (Bettina Müller)

Lässt der Besucher am Freiburger Münster seine Blicke nach oben schweifen, so könnte er durchaus annehmen, dass er sich in Sodom und Gomorrha befindet und nicht in der selbsternannten »Green City« im Schwarzwald. Dort oben lauern sie und das ziemlich erhaben: eine Armada von in Stein gemeißelten (Phantasie-)Tieren und Menschen in manchmal unvorteilhaften Posen. Es sind mitunter furchteinflößende Gestalten, die waagerecht und keck an den Außenbauwerken hervorragen. Trotz aller unterschiedlicher Drastik in der Darstellung und Formensprache haben sie eins gemeinsam: Als Wasserspeier sind sie Teil eines ausgeklügelten Entwässerungssystems, um das altehrwürdige Gemäuer der von circa 1200 bis 1513 entstandenen Stadtpfarrkirche von Freiburg im Breisgau vor schädlichem Regenwasser zu schützen. Über die Entstehung der mitunter derben Darstellungen in schwindelerregender Höhe – berühmt ist zum Beispiel der »Hinternentblößer« mit zwei Köpfen – streiten sich die Fachleute bis heute, weil die Steinmetze des Mittelalters kaum etwas Schriftliches hinterlassen haben. So rätselt der Besucher über viele der schauerlichen Wesen, fragt sich, warum der eine steinerne Mensch da oben skelettiert ist und sich verzweifelt an den Schädel fasst, der andere eine Grimasse schneidet oder der da hinten wiederum gleich zwei Köpfe hat. Er fragt sich weiterhin, warum sich das Wasser manchmal wie Unrat aus den Mäulern der Fabelwesen auf die Köpfe der Menschen zu ergießen scheint. Was war da los im Mittelalter? Was auch immer die Steinmetze zu ihren Kreaturen bewegt haben mag, sei es nun, um mit ihnen Geister abzuwehren, zu mahnen, zu verspotten oder den Freiburgern ihre augenscheinlich äußerst zahlreichen Laster vorzuhalten, die Ergebnisse ihrer Schaffensprozesse wachen noch heute in mehr oder weniger gutem oder rekonstruiertem Zustand in luftiger Höhe. Durch ihre Position haben sie uneingeschränkte Autorität über die Stadt, der vor 900 Jahren von Herzog Konrad I. von Zähringen und seinem Bruder Berthold III. das Stadt- und Marktrecht verliehen wurde.

 

Eigentlich müsste man in diesem Jahr noch einen neuen feixenden Wasserspeier namens »Corona« fest am Münster anschrauben, denn er/sie/es, man weiß auch das nicht so genau, ist schließlich schuld, dass das allein schon von der Jahreszahl her beeindruckende Jubiläum nicht so ausgiebig wie geplant gefeiert werden kann. Die gotischen Wasserspeier, unter anderem Kollegen der englischen »gargoyles«, wachen seit Jahrhunderten über die viertgrößte Stadt Baden-Württembergs, die mit zu den wärmsten und sonnenverwöhntesten Gegenden Deutschlands gehört. Als Bewohner anderer deutscher Bundesländer kann man es beim Wetterbericht der ARD-Tagesschau schon manchmal nicht mehr hören, wenn für Freiburg mal wieder ein sonniger und warmer Tag angekündigt wird, während an dem Ort, wo man selber gerade ist, permanent die Eisheiligen vor der Tür herumlungern.

 

Träumt man nun des Nachts von diesen steinernen Gestalten oder sieht sie vielleicht sogar des Tags leibhaftig herumspuken, empfiehlt sich ein zügiger Besuch der Freiburger Parapsychologischen Beratungsstelle, die in Deutschland einzigartig sein dürfte. Dort werden Menschen beraten – mittlerweile gegen Gebühr, weil die Förderung seitens des zuständigen Ministeriums eingestellt worden ist –, die »ungewöhnliche, paranormale, okkulte oder unerklärliche Erfahrungen gemacht« haben und die nun Hilfestellung für den Umgang mit verstörenden paranormalen Erfahrungen, zu denen sicher auch Wasserspeier aus dem Jenseits zählen, benötigen. Derweil sehen die eher beratungsresistenten Wasserspeier von oben – nicht ungnädig – auf eine Stadt mit knapp 230.000 Einwohnern, die sich vor allem Ökologie groß auf die Fahne geschrieben hat. Es ist daher auch kein Zufall, dass in Freiburg das Öko-Institut e. V. ansässig ist, das 1977 aus der Anti-Atomkraftbewegung hervorgegangen und mittlerweile in Europa führend auf dem Gebiet der Nachhaltigkeitsforschung ist.

 

Durch das angenehme Klima und das Ambiente der Stadt mit seinen vielen Grünflächen herrscht tatsächlich oft die viel beschworene mediterrane Atmosphäre, die den Besucher entspannt durch die mittelalterlichen Stadttore wandeln lässt, durch die Gassen der Altstadt oder über den herrlichen Freiburger Wochenmarkt am Münster. Vorsicht ist jedoch nachts angeraten und zwar nicht wegen der ominösen Wasserspeier. Die Freiburger Bächle, künstlich angelegte und vom Fluss Dreisam gespeiste Wasserläufe, die die Altstadt wie ein Netz durchziehen, sollte man besser nüchtern überqueren, was sich nach übermäßigem Genuss der typischen Schwarzwälder Bierspezialität Tannenzäpfle oder nach einem Besuch des idyllischen Haus-Biergartens der Ganter-Brauerei, der mittlerweile bei schönem Wetter wieder öffnet, durchaus als etwas schwierig gestalten kann. Ganz Neugierige, die schon immer mal wissen wollten, wie ihr Leibgetränk eigentlich hergestellt wird, können zu coronafreien Zeiten eine Führung durch die Ganter-Brauerei in der Schwarzwaldstraße buchen, um so die vielfältigen Geheimnisse der Braukunst zu eruieren.

 

Stilecht sollte man in die »Green City« Freiburg mit der Deutschen Bahn anreisen. Autofahrer, die nun empört aufschreien, kann man ruhigen Gewissens auf das Netz der Freiburger Straßenbahn (StraBa) verweisen, mit der man etliche Highlights der Stadt bequem erreichen kann und sie auf eine etwas andere Art und Weise kennenlernt. Die StraBa quert zum Beispiel einen der schönsten Plätze Freiburgs, Oberlinden, mit seinem Roten Bären aus dem Jahr 1120, der sich rühmt, der älteste Gasthof Deutschlands zu sein. Abseits der Touristenpfade erreicht man mit ihr Stadtteile wie Zähringen oder Günterstal, wo die Schauinslandbahn den Touristen an den Hausberg der Freiburger bringt. Zurück am Bahnhof nach der StraBa-Tour herrscht zunächst wieder Verwirrung beim armen Touristen, nachdem der ja schon mit den rätselhaften Wasserspeiern Bekanntschaft gemacht hat. Wieso sieht die Kirche hinter dem Bahnhof aus wie der Limburger Dom? Schließlich steht der doch in Hessen. Tatsächlich wurde die Herz-Jesu-Kirche in den Jahren 1892 bis 1897 stilistisch stark am imposanten hessischen Vorbild angelehnt geplant, auch um dem damals neuen Stadtteil Stühlinger, wo sich die Kirche befindet, Prestige zu verleihen. Aufatmen, Erleichterung, alles richtig gemacht: Man ist in Freiburg.