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Titel1320

Aller Anfang ist schwer  (Klaus Nilius)

Das ist ein Buch, wie ich es liebe und wie es Ossietzky-Leserinnen und -Leser vielleicht auch lieben werden, möglicherweise besonders die Autorinnen und Autoren, geht es doch um nichts weniger als um ein Kernproblem unseres gemeinsamen Tuns: um den Anfang von etwas, um den ersten Satz.

 

Indem ich dies schreibe, habe ich schon die Hürde genommen und begonnen, die Leere des weißen Papiers zu füllen, Zeile um Zeile. Die Blockade vor dem ersten hingeschriebenen Satz ist durchbrochen, und ich kann vielleicht hoffen, dass es mir gelungen ist, diesen ersten Satz so zu formulieren, »dass der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will« (William Faulkner).

 

Sicherlich, mein erster Satz ist kein Gedanke von »olympischem Gewähr« (Gottfried Benn, »Verließ das Haus«). Aber er kam »vermeintlich aus dem Nichts und (setzt) etwas fest, das fortan da ist«. Schwarz auf weiß. Sie haben es gerade gelesen.

 

Das Buch von Peter-André Alt, das ich hier vorstelle, handelt durchweg von »olympischen« Gedanken. Und »von der Schwierigkeit, mit dem Erzählen zu beginnen«. Es geht um »erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten«.

Alt ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, die er von 2010 bis 2018 als Präsident leitete, und er ist aktuell Präsident der Hochschulrektorenkonferenz.

»Jemand musste Josef K. verleumdet haben.«

 

»Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche ist unglücklich auf ihre Art.«

 

»Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten reichen Epoche gehörte.«

 

»Heute vor dreihundertachtundvierzig Jahren sechs Monaten und neunzehn Tagen erwachten die Pariser unter dem Geläute aller Glocken …«

 

»Freitag, den 20. Juli 1714, um die Mittagsstunde, riss die schönste Brücke in ganz Peru und stürzte fünf Reisende hinunter in den Abgrund.«

 

»Ich war den ganzen Tag lang geritten, einen grauen und lautlosen, melancholischen Herbsttag lang – durch eine eigentümlich öde und traurige Gegend, auf die erdrückend schwer die Wolken herabhingen.«

 

»Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.«

 

»Immer fällt mir, wenn ich an Indianer denke, der Türke ein; dies hat, so sonderbar es erscheinen mag, doch seine Berechtigung.«

 

»Viele Jahre später sollte der Oberst Aureliano Buendía sich vor dem Erschießungskommando an jenen fernen Nachmittag erinnern, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen.«

 

»Wir liegen neun Kilometer hinter der Front.«

 

Eine Auswahl aus den im Buch zitierten »ersten Sätzen der Weltliteratur«. Und ich bin boshaft genug, um nicht zu schreiben, woher sie stammen. Einige Quellen sind aber sicherlich Selbstläufer. Alt untersucht, was die Romananfänge verraten, warum sie uns »überraschen oder überwältigen, schmeicheln, erschrecken, verlocken oder erregen«. Wie sie Spannung erzeugen oder Stimmung hervorrufen oder an entfernte Orte entführen, kurz gesagt, »wie sie uns auf die folgende Geschichte vorbereiten«.

 

249 Beispiele enthält der Essay, beginnend mit den Altvorderen Homer, Vergil, Ovid, auch einige meiner Lieblingsanfänge entdecke ich, zum Beispiel: »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.«

 

Was ich vermisse? Beispielsweise »Es fiel Regen in jener Nacht, ein feiner, wispernder Regen« (Cornelia Funke, »Tintenherz«). Und dann vor allem den folgenden Anfang, der inzwischen so bekannt ist, dass er 1980 in die 15. Ausgabe der ältesten und am weitesten verbreiteten englischsprachigen Zitatensammlung »Bartlett’s Familiar Quotations« aufgenommen wurde: »In a hole in the ground there lived a hobbit«, in der Übersetzung von Wolfgang Krege: »In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.« So beginnt »Der Hobbit«. Mit ihm führte J. R. R. Tolkien in die sagenhafte Welt aus Menschen, Elben, Zauberern, Orks und anderen Kreaturen ein, die Mittelerde bevölkern, den Schauplatz des Epos »Der Herr der Ringe«. Der Hobbit und damit auch der zitierte erste Satz wurden in 50 Sprachen übersetzt, von Albanisch bis Vietnamesisch. Weltliteratur par excellence.

 

So hat halt jeder seine persönlichen Favoriten. Das tut Peter-André Alts Abhandlung keinen Abbruch. Und wenn wir Ossietzky-Autorinnen und -Autoren durch ihre Lektüre uns noch mehr angespornt fühlen, mit gelungenen ersten Sätzen die Leserinnen und Leser noch neugieriger auf unsere Texte zu machen, tja, dann ist das doch fast so schön wie ein Satz von »olympischem Gewähr«.

 

 

Peter-André Alt: »›Jemand musste Josef K. verleumdet haben …‹ Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten«, C.H.Beck, 262 Seiten, 26,95