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Titel1411

Wettangebot zum Mauerjubiläum  (Ralph Hartmann)

Der 50. Jahrestag des Mauerbaus rückt näher. Die Spannung steigt. Was werden sie sagen in ihren Jubiläumsansprachen – die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident, der Bundestagspräsident, die Eppelmanns und Gaucks und die anderen Haupt- und Staatsredner? Eigentlich ist doch alles gesagt, letztmals zum Großen Freiheitsfest am Brandenburger Tor am 9. November 2009 und natürlich vor zehn Jahren, zum 40. Jubiläum. Damals hatte sich Bundespräsident Johannes Rau via Fernsehen an das deutsche Volk gewandt: »Heute vor vierzig Jahren hat auf Befehl der Führung der DDR der Bau der Berliner Mauer begonnen. Die Mauer schnitt die Ostdeutschen vom Westteil Berlins ab und versperrte ihnen damit den letzten Ausweg aus der DDR. Das besiegelte für fast drei Jahrzehnte die Teilung Deutschlands ... Der Bau der Mauer war ein Verbrechen gegen das eigene Volk ... Diese mörderische Grenze mitten durch Berlin und mitten durch Deutschland war das Kainsmal eines Regimes, das Machterhalt und Ideologie über Menschenrecht und Menschenwürde gestellt hat.«

Niemand wird es überraschen, wenn diese Kernsätze aus der präsidialen Rede zum 50. Jubiläum in vielen Varianten wiederholt werden. Weitaus interessanter wird es aber sein, worüber nicht gesprochen wird. Auch das läßt sich freilich – zumindest teilweise – vorhersehen, worauf man jede Wette eingehen kann.

Wetten, daß die Redner nicht auf die historischen Zusammenhänge, die vielfältigen Faktoren eingehen werden, die zur deutschen Spaltung, zur Grenze auf deutschem Boden und schließlich zum 13. August 1961 führten. Deshalb werden sie nicht einmal ihren hochgeschätzten Altpräsidenten Richard von Weizsäcker zitieren, der schon 1983, zum 50. Jahrestag der faschistischen Machtergreifung, im Berliner Reichstagsgebäude feststellte: »Am 30. Januar 1933 brach die Weimarer Republik zusammen. In allernächster Nähe von diesem Platz, an dem wir versammelt sind, leuchtete am Abend des 30. Januar ein Fackelzug den Beginn der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft ein ... Sie hat unsägliches Leid über viele Millionen unschuldiger Menschen mit sich geführt ... Sie hat den Gang der Geschichte grundlegend verändert ... Wie ein mahnendes Monument steht dieser Reichstag an der Mauer, die bis auf den heutigen Tag Berlin, Deutschland und Europa teilt. Aber es gäbe diese Mauer nicht ohne den 30. Januar 1933.«

Wetten, daß die Jahrestagsredner auch darauf verzichten werden, an die Worte eines anderen, wenn auch kurzzeitigen Präsidenten, des Alterspräsidenten des 13. Deutschen Bundestages, Stefan Heym, zu erinnern. Dieser hatte in seinen 1986 veröffentlichten »Einführenden Bemerkungen eines Reiseführers vor einem Reststück der Mauer«, sich selbst als dritte Person in den Text einbringend, unter anderem geschrieben: »Wer waren die Baumeister, wer inspirierte, verursachte, veranlaßte die Errichtung eines so einzigartigen Werkes moderner Bautechnik? Der Schriftsteller Stefan Heym, der die Gelegenheit hatte, die Gründe des Mauerbaus von Amerika wie von Deutschland aus zu erforschen und auf dessen Gedanken meine Ausführungen hier und da Bezug nehmen, nennt in diesem Zusammenhang vornehmlich Adolf Hitler, Harry Truman, Konrad Adenauer und auf östlicher Seite Jossif Wissarionowitsch Stalin und den seit je an städtebaulichen Fragen interessierten Walter Ulbricht; er fügt jedoch hinzu, wie die Geschichte denn überhaupt nur in begrenztem Maße von Einzelpersonen gemacht werde, seien auch hier größere Kräfte im Spiel gewesen, denen die Genannten untertan waren. Vereinfacht gesagt, und damit Sie, meine Damen und Herren, sich ein Schema machen können: Ohne Hitler kein Krieg und ohne Krieg kein Vorrücken der Sowjetmacht bis in die Mitte von Deutschland; ohne Hitler also keine Teilung Deutschlands in ein östliches und westliches Besatzungsgebiet. Die Anfänge der Mauer liegen demnach in jener Nacht im Januar 1933, als auf der Wilhelmstraße in Berlin SA und SS fackeltragend an ihrem Führer vorbeimarschierten ...«

Wetten, daß sie es tunlichst vermeiden werden, die sogenannte innerdeutsche Grenze als das zu bezeichnen, was sie war: Grenze zwischen zwei souveränen Staaten und zugleich Trennlinie zwischen zwei einander feindlich gegenüberstehenden Militärpakten, die Hauptlinie der Konfrontation zwischen Warschauer Vertrag und NATO. Deshalb werden sie auch darauf verzichten, darauf hinzuweisen, daß sich die Streitkräfte beider hochgerüsteten Militärallianzen nirgendwo auf der Welt so konzentriert gegenüberstanden wie auf dem Boden beider deutschen Staaten: Östlich von Elbe und Werra standen sechs Divisionen der Nationalen Volksarmee mit 110.000 und 20 Divisionen der Sowjetarmee mit 350.000 Mann, westlich zwölf Divisionen der Bundeswehr mit 300.000 Mann sowie acht Divisionen der Streitkräfte der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Nicht eingerechnet sind hierbei die im strategischen Umfeld stationierten Luftflotten, Raketenarsenale und Nuklearwaffen, mit denen der westliche dem östlichen Militärpakt um ein Mehrfaches überlegen war.

Wetten, daß es die Redner auch bei diesem Jubiläum versäumen werden, auf ein paar nebensächliche Kleinigkeiten hinzuweisen, zum Beispiel darauf, daß die Abriegelung der Grenze und der Bau der Mauer nicht im SED-Politbüro, sondern auf einer Beratung der Parteiführer der Staaten des Warschauer Vertrages beschlossen worden war und die militärische Absicherung in der Verantwortung des Oberkommandierenden der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, Marschall Konew, lag, der für alle seine Truppen die Alarmstufe 1 ausgerufen hatte.

Folgerichtig werden sie auch darauf verzichten, den schönen Eintrag des ehemaligen KPdSU-Generalsekretärs und ihres heutigen Lieblingsrussen Michail Sergejewitsch Gorbatschow in das Mauer-Gästebuch in Erinnerung zu rufen: »Am Brandenburger Tor kann man sich anschaulich davon überzeugen, wieviel Kraft und wahren Heldenmut der Schutz des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden vor den Anschlägen des Klassenfeindes erfordert. Die Rechnung der Feinde des Sozialismus wird nicht aufgehen. Das Unterpfand dessen sind das unerschütterliche Bündnis zwischen der DDR und der UdSSR sowie das enge Zusammenwirken der Bruderländer im Rahmen des Warschauer Vertrages. Ewiges Andenken an die Grenzsoldaten, die ihr Leben für die sozialistische DDR gegeben haben!«

Wetten, daß auch das verdienstvolle Wirken niederer Chargen, des DDR-Botschafters Karl Kormes und des Ministerialdirigenten im BRD-Innenministerium Günther Pagel, zum Jubiläum der Grenzbefestigungsanlagen nicht gewürdigt werden wird. Sie waren die Leiter der gemäß Grundlagenvertrag vom Dezember 1972 eingesetzten Grenzkommission, die dafür sorgte, daß eine gemeinsame Arbeitsgruppe bis zum April 1976 die 1.392 Kilometer lange Grenze von der Lübecker Bucht bis nach Hof in Bayern vermaß, dokumentierte und mit 17.236 Grenzsteinen oder -pfählen markierte. So wird denn auch unerwähnt bleiben, wie sachlich und kompromißbereit die Geodäten sowie die Angehörigen der DDR-Grenztruppen, des Bundesgrenzschutzes und der Bayerischen Grenzpolizei zusammenarbeiteten, und zwar strikt gleichberechtigt.

Wetten läßt sich schließlich darauf, daß sie keinesfalls die beachtliche, allerdings nur zeitweilige Stabilisierung der DDR erwähnen werden, der nach der Schließung der Grenze nicht mehr wie Jahre zuvor schwerer Schaden zugefügt werden konnte, unter anderem durch die schmerzliche Abwanderung vieler, zu großen Teilen auch abgeworbener Facharbeiter, Ingenieure, Wissenschaftler und Ärzte, durch Währungsspekulanten, Grenzgänger, die im Westen arbeiteten und im Osten soziale Vorteile nutzten, durch massenhaften Auf- und Wiederverkauf rarer technischer Konsumgüter und subventionierter Lebensmittel und nicht zuletzt durch das unkontrollierbare Wirken einer Vielzahl von Spionage- und Sabotagezentren in Westberlin, das bekanntlich von dessen damaligem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter als die »billigste Atombombe« gepriesen wurde.

Rein zufällig werden sie auch vergessen, an die unbestreitbare Tatsache zu erinnern, daß die Mauer, so scheußlich sie war, den politischen und territorialen status quo in Europa fixierte und wesentlich dazu beitrug, schrittweise die von Bonn über die DDR verhängte diplomatische Blockade zu durchbrechen und den Weg zum europäischen Vertragswerk zu öffnen. So ist auch nicht zu erwarten, daß die Einschätzung des als »Architekt der Bonner Ostpolitik« vielgerühmten Egon Bahr in die Reden Eingang findet: »Diese Scheißmauer ist unter anderem Ausgangspunkt dessen, was später Ost- und Entspannungspolitik genannt wurde.«

All das, was die Jahrestagsredner verschweigen werden, ändert nichts daran, daß die Errichtung der Mauer keine Ruhmestat des Sozialismus, sondern eine Notmaßnahme zur Rettung der DDR und letztlich des Friedens war, denn selbst in Washington und in den NATO-Stäben bestand kein Zweifel daran, daß die Weltkriegssieger- und Großmacht Sowjetunion in dieser Phase der scharfen Blockkonfrontation einen Verlust des deutschen »Vorpostens« in Europa unter keinen Umständen hinnehmen und die Entwicklung außer Kontrolle geraten würde. Aber wenn die historischen Zusammenhänge ausgeblendet und entscheidende Tatsachen verschwiegen werden, dann bleibt das Gedenken an menschliches Leid und Maueropfer ein heuchlerisches Ritual, mit dem das ungerechte Gesellschaftssystem der Bundesrepublik glorifiziert und der Dämonisierung der DDR neue Nahrung gegeben werden soll. Daß darin das Hauptziel aller Veranstaltungen, des ganzen Brimboriums um das Mauerjubiläum besteht, darauf kann man jede Wette eingehen.