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Titel1411

Bemerkungen

Sterben inklusive
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Mai und in der Süddeutschen Zeitung online vom 29. Juni 2011 wurden Interviews mit Bundesverteidigungsminister de Maizière veröffentlicht, beide überschrieben mit demselben Minister-Zitat: »Töten und Sterben gehören dazu«. Man muß, sagt der für den Soldatentod zuständige Minister, »damit rechnen, daß das bei Soldaten dazugehört: Sterben und Töten«, und das auch in fremdem Land, denn »wegen der Rolle Deutschlands in der Welt kann es auch zu Einsätzen kommen, wo wir kein unmittelbares Interesse haben«. In der Leipziger Volkszeitung vom 2./3. Juli 2011 wurden Methoden aufgeführt, mit denen die Bundeswehr »für Freiwillige attraktiver« werden könnte. Von Töten und Sterben ist darin nichts enthalten. Wie man das Erschossenwerden attraktiv gestalten kann, weiß nämlich bei denen auch keiner.

Günter Krone


Gott mit uns
Margot Käßmann, auch als Ex-Bischöfin ein Publikumsmagnet, muß man nicht mögen. Aber es gibt recht unterschiedliche Gründe, an ihr keinen Gefallen zu finden. Einen davon propagiert die Internetzeitung idealisten.net: Die prominente Theologin betreibe einen »Frontalangriff auf den deutschen Einsatz am Hindukusch« und stelle »die Bundeswehr an den Pranger«.

Wie macht sie das?

Sie könne sich vorstellen, hat sie gesagt, mit den Taliban zusammen zu beten.

Offenbar kennt Käßmann den Unterschied zwischen Bibel und Koran nicht. Eben den klarzustellen, bemüht sich jedoch das religiös-publizistische Unternehmen »idea«, zu dem neben idealisten.net unter anderem auch ideaSpektrum gehört, das auflagenstärkste evangelische Wochenblatt. Die »idea«-Sorge, Margot Käßmann betreffend: Als »pseudo-christliche« Predigerin mache sie »antimilitaristisches Gedankengut salonfähig«. Vielleicht tun ihr da die idealisten zuviel der Unehre an, aber Wachsamkeit muß sein, damit kein Zweifel daran entsteht: Gott ist mit uns. Mit der Bundeswehr.
M. W.


Erzbischof überflüssig?
Der Vatikan hat der deutschen Hauptstadt einen neuen Erzbischof beschert, Rainer Maria Woelki, bisher im Schatten des Kölner Doms oder genauer: des dortigen Kardinals Meisner tätig. Berliner oder gar ostdeutsche Erfahrungen hat Woelki nicht, aber immerhin sind »ostpreußische Heimatvertriebene« als seine Eltern ausgewiesen. Akademische Würden erwarb sich der nun jäh nach ganz oben beförderte Würdenträger an der römischen Universität des kirchlichen Werkes »Opus Dei«, das jeder kirchenreformerischen Neigung unverdächtig ist.

Kurz vor der Ernennung Woelkis schrieb ein Leser in der Internetzeitung kreuz.net katholische nachrichten: »Wozu braucht diese schwule Berliner Laster- und Lustgesellschaft, demnächst mit grüner Lesbenbesetzung völlig verloren, überhaupt einen Bischof? Sparen ist angebracht, keine unnötigen Jobs besetzen!« Dieser Meinung ist Kardinal Meisner, der die kreuz.net-Betreiber kirchenamtlich zu Radikalinskis erklärte, durchaus nicht; er setzt Hoffnungen in Woelki, einen Mann mit Kampfesgeist und einer Ausbildung als Panzerartillerist.
Peter Söhren


Mordsgeschäft
Die Bundesrepublik Deutschland, jetzt bereits drittstärkster Waffenexporteur weltweit, kann im Ranking auf dem internationalen Militärmarkt einen eindrucksvollen Aufstieg melden: Die hiesigen Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei-Wegmann, assistiert von Rheinmetall, liefern Saudi-Arabien 200 »Leopard«-Panzer in der modernsten Variante, in Riad legt man Wert auf Spitzenqualität. Der Bundessicherheitsrat unter dem Vorsitz von Angela Merkel hat laut Spiegel online dem Geschäft zugestimmt.

Die Einwilligung ist erforderlich, weil die Bundesrepublik laut Selbstverpflichtung schwere Waffen ins Ausland nur verkauft, wenn die Kunden für eine demokratische Verwendung derselben gut sind – und wer wollte beim saudischen Regime daran zweifeln? Der sogenannte arabische Frühling wird dessen Interesse am Import von Kampfpanzern bestärkt haben. Das Modell »Leopard« hat sich beim Einsatz im Kosovo und in Afghanistan bewährt, die Herstellerfirmen bewerben es mit dem Argument, es sei die ideale Waffe für den »asymmetrischen Kampf«, für den Gebrauch gegen Demonstranten, fürs Wegräumen von Barrikaden. Mit dem »Leopard« seien den Taliban »harte Lektionen« erteilt worden, »bombensicher« bewege er sich durch das Terrain von Aufständischen.

Schon zu Zeiten der Kanzlerschaft Helmut Kohls wünschten sich die in Saudi-Arabien Regierenden die Lieferung schwerer deutscher Kampfpanzer; der Deal kam damals aus Rücksicht auf Israel nicht zustande. Inzwischen ist die israelische Waffentechnik so weiterentwickelt, daß sie den »Leopard« nicht mehr fürchten muß.
Der jetzige deutsche Militärminister hat übrigens ein familiäres Verhältnis zu dieser Waffe: Sein Vater war als Generalinspekteur des Heeres daran beteiligt, daß der »Leopard« in Produktion ging.
Arno Klönne


Grüner Donnerstag
So ganz einfach war es für die Parteispitze der Grünen nicht, ihrer Basis das Gefühl zu vermitteln, Angela Merkels neue Energiepolitik sei ein Triumph für die Antiatombewegung. Auch auf dem Sonderparteitag, der die Zustimmung zum Leitgesetz der schwarz-gelben Regierungskoalition abzusegnen hatte, gab es einigen Widerspruch. Um diesen wegzuräumen, rief Jürgen Trittin aus: »Laßt uns diesen Parteitag zum grünen Donnerstag machen!«

Mit seinem Werben um Gefolgschaftstreue hatte Trittin Erfolg, aber was mag er sich bei seinem Wortspiel gedacht habe, das die Liturgie der christlichen Kar-Woche zu Hilfe nahm?

Der »Gründonnerstag« ist nach aus dem Mittelalter überliefertem christlichen Verständnis alles andere als ein Datum des Triumphs: Das letzte Abendmahl mit den Jüngern, ein Abschied; Judas »verrät« Jesus, bringt ihn in die Fänge der jüdischen und römischen Justiz; Petrus verleugnet Jesus; der Leidensweg beginnt. In der katholischen Liturgie setzt im Gottesdienst am Gründonnerstag nach dem Gloria die Orgel aus, der Schmuck wird aus der Kirche geräumt, die Kerzen werden gelöscht. Wie kam dieser Tag zu der Bezeichnung »grün«?

Dafür bieten die Religions- und Kulturhistoriker zwei Erklärungen an: Naturreligiöse Überlieferungen könnten eine Rolle gespielt haben, »Kräuterglauben« sozusagen; eher aber sei anzunehmen, daß sich »Grün« hier aus dem altdeutschen »Greinen« herleite, das für Trauern und Weinen steht. In der Tat galt christlich-traditionell der Gründonnerstag als ein Datum für Betrübliches und Buße.

Der »grüne Donnerstag«: Wer hat nun wen verraten? Gibt es demnächst Grund zur Reue, kommt es zum Greinen? Oder ist der »Gründonnerstag«, dem liturgischen Modell folgend, nur das Vorspiel für die österliche »Auferstehung«, dann in Gestalt einer schwarz-grünen Bundesregierung?
Marja Winken


Wahlrechtsqualen
Großzügig hatte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber drei Jahre Zeit gelassen, das Bundestagswahlrecht grundgesetzkonform zu machen. Am allerletzten Tag der Frist hat die schwarz-gelbe Koalition es geschafft, zur Ersten Lesung eine Minimalmanipulation einzubringen, die, sollte sie Gesetz werden, wohl bald erneut das Gericht beschäftigen wird. Ein modifiziertes Berechnungsverfahren für die Aufteilung der sogenannten Reststimmen soll lediglich eine Absurdität beseitigen, die verstehbar zu erklären noch keinem Journalisten gelungen ist: das »negative Stimmgewicht«, also die Sonderbarkeit, daß eine Partei, die viele »Überhangmandate« errungen hat, bei der Mandatszuteilung besser dastünde, wenn sie etwas weniger Zweitstimmen erhalten hätte.

Zu echter Wahlgerechtigkeit hat der politische Wille nicht gereicht. Das hätte bedeutet, die Überhangmandate entweder ganz abzuschaffen oder aber durch zusätzliche Sitze für die übrigen Parteien so vollständig zu kompensieren, daß keine Partei mehr Mandate erhalten kann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis prozentual zustehen.

Gar nicht erst nachgedacht wurde über die Frage, ob das Direktmandat noch zeitgemäß ist. Längst hat die Veränderung der Parteienlandschaft dazu geführt, daß schon ein knappes Drittel der abgegebenen Stimmen bequem für ein Direktmandat ausreichen kann. Von angemessener Repräsentation des örtlichen Wählerwillens kann aber nur bei absoluter Mehrheit die Rede sein; dafür wären Stichwahlen anzusetzen.

Noch besser wäre, sich einzugestehen, daß die Ortsbindung der Parlamentsvertretung ein Relikt der Feudalzeit ist. In einem modernen Nationalparlament haben die Abgeordneten nicht die Interessen von München-Nord, Mannheim II oder Duisburg I einzubringen, sondern politische Grundorientierungen zu vertreten. Ein kräftiges Element von Persönlichkeitswahl ließe sich viel überzeugender dadurch realisieren, daß der Wähler auch bei Bundestagswahlen – wie vielfach bei Landtags- oder Kommunalwahlen – die Liste verändern, also dem dort ungünstig plazierten Politiker seines Vertrauens zum Mandat verhelfen könnte.
Hans Krieger


Wie Kriegsgefangene redeten
Unser Wissen von der Mentalität der deutschen Wehrmacht müsse auf »eine völlig neue Grundlage« gestellt werden – diesen Anspruch erheben Autoren eines Buches, das zwar auf einer bisher kaum ausgewerteten Geschichtsquelle fußt, Umstürzendes aber nicht zu vermitteln weiß. Sie zitieren und kommentieren abgehörte Gespräche in Kriegsgefangenschaft geratener deutscher Soldaten. Rezensenten schrieben: Was da aufgezeichnet sei, wirke schockierend. Man fragt sich, was die bisher über den Krieg und seine Wahrnehmung durch die Krieger gelesen haben.

Daß die britische Armee Kriegsgefangene nicht nur verhört, sondern auch abgehört hat und daß darüber Papiere existieren, weiß man schon länger. Deren Umfang jedoch hat Sönke Neitzel erst in London und dann in Washington ermittelt, mit einer Gruppe von Fachleuten hat er sich dann darangemacht, die nahezu 150.000 Seiten Papier zu durchmustern. Zur Mitarbeit wurde zudem der Sozialpsychologe Harald Welzer gewonnen. Zu den Fragen des Historikers, was Soldaten von ihren Erfahrungen im Kriege berichtet und was sie über dessen Fort- und Ausgang gedacht haben, kamen folglich weitere hinzu: Warum haben sie das Gesehene und Getane so wahrgenommen, wie sie es damals äußerten? Und was ließ sie darüber in der Weise reden, die man hier protokolliert findet?

Zum Verständnis ihrer Äußerungen war viel aufzuklären: Wer sprach da jeweils? Name, Dienstgrad, soziale Herkunft, Bildung, Beruf, Mitgliedschaft in Naziorganisationen, Organisiertheit in Friedenszeiten, militärischer Werdegang und so weiter. Namentlich die US-amerikanischen Akten hätten in Verbindung mit Verhörprotokollen wohl mehr hergeben können, als hier zu lesen ist. Es ist auch fraglich, ob die Redenden wußten oder vermuteten, daß ihre Gespräche abgehört wurden. Schließlich bezeugt viel Notiertes nur Gelaber, Angeberei, Großtun und mag von der Wahrheit mehr oder weniger weit entfernt oder gar erfunden sein.

Die Autoren haben das für ihr Unternehmen Ausgesonderte unter der Generalüberschrift »Kämpfen, Töten und Sterben« in mehr als zwanzig Abschnitte gegliedert: von »Abschießen« bis »Mitschießen«, von »Spaß« bis »Ideologie«, von »Gerüchte« bis »Sex«. Unter diesen Aspekten fallen fehlende auf, so etwa Leben vor dem Kriege und Vorstellungen über kommende Friedenszeiten. Gleiches gilt für Erörterungen über Kriegsursachen und Kriegsschuld. Wo Gesprächsfetzen unter den Gesichtspunkten »Sieges-« und »Führerglaube« zusammengefaßt sind, zeigt sich, daß die Stimmungen und Meinungen von denen in der Heimat, wo die Beobachter des Sicherheitsdienstes sie erfaßten, wenig abweichen. Mitunter differiert nur der Zeitpunkt, an dem ein Eindruck oder ein Urteil gewonnen wurde. Die Besatzungen der Unterseeboote, die ihre Erfahrungen mit der überlegenen britischen Flotte gemacht hatten, sahen früher als andere, daß dieser Krieg nicht gewonnen werden würde.

Den Haupttext des Bandes machen nicht die Niederschriften der abgehörten Gespräche aus, sondern deren Erläuterungen. Die sind zu einem Teil im Stil von Universitätsvorlesungen über Psychologie verfaßt, zu einem anderen lassen sie glauben, die Autoren hätten vorausgesetzt, daß sie es mit psychologischen Totalanalphabeten zu tun haben, mit Menschen, die irgendwelcher Beobachtungen an sich selbst oder an ihren Mitmenschen unfähig wären. Das ist aufdringlich, ärgerlich und ermüdend.
Kurt Pätzold
Sönke Neitzel/Harald Welzer: »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben«, S. Fischer, 521 Seiten, 22,95 €


Walter Kaufmanns Lektüre
Wie immer auch diese weltweite Fallada-Renaissance zu erklären ist, diese neuerliche Resonanz auf seinen zuerst in den 1940er Jahren erschienenen Roman »Jeder stirbt für sich allein«, ein Phänomen bleibt es allemal. Bei der Fülle der Handlungsstränge und der großen Anzahl unterschiedlichster Handlungsträger mutet es wie ein Wunder an, daß sich der Autor den Roman in nur vier Wochen abgerungen hat – mehr als achthundert Manuskriptseiten! Es bliebe eine enorme Leistung, hätte er so viele Jahre wie Wochen drauf verwendet. Allein schon Falladas Einfühlungsvermögen in die Psyche zweier einfacher Menschen, eines Werkmeisters und seiner Frau, die sich nach dem Verlust ihres Sohnes im Krieg zum Widerstand gegen Hitler durchringen, gehört zum Wesentlichsten dieser Leistung. Ihren Mut zum tödlichen Risiko in feindlichster Umwelt behauptet er nicht bloß, sondern er stellt die beiden Widerständler in ihrer kleinen Berliner Arbeiterwohnung – Anna Quangel bei der Nadelarbeit und Otto Quangel über Postkarten gebeugt, auf die er in ungelenker Schrift seine Appelle gegen den Krieg schreibt – so dar, daß man diesen Mut wahrhaft bewundert. Über zweihundert handgeschriebene Postkarten fertigt Otto Quangel in zwei Jahren an, und die beiden verteilen sie alle quer durch Berlin. Doch die meisten gelangen aus den Händen der verängstigten Finder prompt zur Gestapo. Genau und fesselnd beschreibt Fallada die wütenden Reaktionen in der Behörde des Schreckens bis hin zur Verhaftung der Quangels. Große Literatur ist dabei entstanden, besonders im letzten Romanteil, der sich zu einem Hohelied auf den Widerstandswillen und auf die Liebe eines Mannes und einer Frau gestaltet, die auch wegen dieser Liebe bis zum Ende ihres Lebens ungebrochen bleiben.

Im Kontrast zu der Feigheit und dem Denunziantentum breiter Bevölkerungsschichten läßt Fallada im Umfeld der beiden Quangels Menschen auftauchen, die sich nicht beugen und wie die Quangels den Nazis die Stirn bieten. Es sind allzu wenige, doch immerhin gab es sie, und Fallada hat sie so bildhaft gemacht, so nacherlebbar, daß sie dem Leser unvergeßlich bleiben.
W. K.
Hans Fallada: »Jeder stirbt für sich allein«, Aufbau Verlag, 704 S., 19,95 €


Die Rückkehr der »Anderen«
Die Kunst-Biennale in Venedig steht in diesem Jahr unter dem Motto »Illumi/nazioni«. Der Pavillon Polens bietet in israelisch-polnischer Zusammenarbeit (Kuratoren: Galit Eilat und Sebastian Cichocki) eine politische Provokation: »... and Europe will be stunned« (… und Europa wird sich wundern). Unter diesem Titel in großer Leuchtschrift zeigt die heute in Holland lebende Israelin Yael Bartana ihre ideologisch und ästhetisch vielschichtige Videotrilogie: »Nightmares« (2007), »Wall and Tower« (2009) und »Assassination« (2011), die den Zuschauer zunächst durch ihre komplexe Symbolik verstört. Er erfährt von einem »Jewish Renaissance Movement in Poland«, das 3,3 Millionen Juden zumindest symbolisch in Polen ansiedeln möchte, dem Land, aus dem Bartanas Großeltern stammten. Sie selbst – in einem Kibbutz aufgewachsen und in der Armee gedrillt – wurde sich bei Aufenthalten in New York und Europa der widersprüchlichen Situation ihres Landes Israel bewußt. Militärrituale und Angstpotentiale im täglichen Leben sind Themen ihrer frühen Arbeiten.

In Venedig will sie offenbar nicht nur das belastete jüdisch-polnische Verhältnis mittels einer experimentellen Form »kollektiver Psychotherapie« für Juden und Polen (Deutsche sind ausgeblendet) in den Vordergrund stellen, sondern die »nationalen Dämonen« bewußt machen, die besonders in Europa die kulturelle Integration aller jeweils »Anderen« behindern; eine solche Integration erscheint aber in einer sich rasch und radikal wandelnden Welt als unabdingbar. Bartana hinterfragt mit Mitteln der Kunst (denn die bieten mehr Freiheit als die der Politik) mögliche Reaktionen auf die »unerwartete Rückkehr des lange verschwundenen Nachbarn« nach Polen und stellt damit indirekt auch den Monopolanspruch Israels als jüdische Heimstatt in Frage, korrespondierend mit der nachlassenden Integrationskraft des Zionismus und der massiven Auswanderungswelle junger Israelis vor allem im letzten Jahrzehnt. Und sie fordert damit Europa heraus, das die Juden seit dem 2. Weltkrieg aus der eigenen Gegenwart ausgeblendet hat. Doch es geht nicht allein um Juden. Den dritten ihrer Dokumentation vortäuschenden Spielfilme, in dem der polnische Anführer des »JRMiP« ermordet ist und zu Grabe getragen wird, widmet sie dem im Mai 2011 in Jenin ermordeten Juliano Mer-Khamis, Gründer des Freedom Theatre, einem der wichtigsten Kulturschaffenden, der in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes unermüdlich und beispielhaft für eine Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern wirkte – eine wahre Lichtgestalt.

Das begleitende dicke »Cookbook for Political Imagination« ist mehr als ein Katalog und enthält künstlerische und politische Vorschläge von mehr als 40 Autoren. Der in London und Berlin lebende israelische Künstler Avi Pitchon schreibt dort erläuternd zu Bartanas »narrativer Utopie«: »Die Trennung der Juden von Europa ist nicht nur ein historischer Fakt, der in der Vergangenheit liegt, sondern kommt einem mythischen Erdbeben gleich ...« In der Politik ist das offensichtlich, sie ähnelt einer giftigen Vorhölle, in der man erstickt. Aber die Kunst kann wieder eine Verbindung herstellen. (…) Nur in der Kunst bleibt die Vergangenheit dynamisch, nur Kunst kann aus einer Entfernung wirksam werden, ein Raum-Zeit-Kontinuum entwickeln und mythische Orte miteinander verbinden, die durch Traumata getrennt zu sein scheinen. (…) Kunst umgreift die Realität und offenbart deren mythische Kontinuität« (aus dem Englischen übersetzt von S.B.-K.).Im Frühjahr 2012 soll das Projekt auch auf einem »Kongreß des Jewish Rennaissance Movement in Poland« im Rahmen der 7. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst in der Auguststraße vorgestellt werden.
Susanna Böhme-Kuby


Charlene und Heidi
Am 1. Juli dieses Jahres haben zwei gleichermaßen bedeutsame Ereignisse stattgefunden, von denen jedes Tausende Menschen in seinen Bann gezogen hat. Charlene Wittstock hat den Fürsten Albert von Monaco geheiratet. Die Bilder dieser Hochzeit sind um die Welt gegangen, und viele Menschen haben an dem Fest teilgenommen, indem sie sich vor dem Fürstenschloß drängten. Nicht weniger Menschen wurden von Heidi angezogen. Auch deren Bilder gingen um die Welt. Viele Menschen kamen, zum Teil von weit angereist, nach Leipzig, um Heidi zu sehen, die an diesem Tage zum ersten Mal im Zoo der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Heidi – das schielende Opossum.
Günter Krone

Am 6. 8. erscheint Ossietzky 15-16/11