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Titel1414

Vom BAIZ ins BAIZ  (Wolfgang Helfritsch)

erstreckte sich in Berlin am 23. Februar des Jahres 2014 p. Chr. [n.] und des Jahres 11 nach der Gründung des Originals eine wundersame Menschenkette, die nach üblicher behördlicher Unterschätzung aus mindestens 600 engagierten Personen bestand. Sie verband den alten Standort der »Kultur- und Schankwirtschaft« an der alten Ecke Tor-/Christinenstraße auf einer runden 1000-Meter-Strecke mit dem neuen an der Ecke Schönhauser Allee/Wörtherstraße und diente zugleich der kostenersparenden Umlagerung allen handtransportablen Inventars.

Was war geschehen? Vom Jahre 2003 bis zu jenem historischen Februartag präsentierte sich Matthias‘ Etablissement BAIZ, gerade noch am Plattfuße des Prenzlauer Gebirges gelegen, im Gründungsgemäuer. Dann folgte einer der üblichen Verdrängungsprozesse auf hastigen Zugewinn orientierter Vermietungs-Haie. Betreiber und Nutzer versuchten zunächst, den Coup durch Unterschriftensammlungen und Anträge an die Bezirksverordnetenversammlung abzuschmettern. Da jedoch moralisches Recht und juristische Regulative oft ebenso wenig zu vereinbaren sind wie Wasser und Feuer oder Krieg und Frieden, war den wechselnden Eigentümergruppen auf diese Weise nicht beizukommen. Da war es ein schwacher Trost, daß einer der Hauptbedränger des populären Kulturschuppens inzwischen selbst wegen eklatanter Verwicklungen ins Schrottimmobiliengeschäft in noch stabileres Mauerwerk umziehen mußte, aber Schadenfreude ist nun mal nicht das Ding der Crew um Matthias.

Und mit einem hatte das Team jedenfalls nicht gerechnet: Mit soviel Nutzerwiderstand, mit soviel Ermunterung und soviel Solidarität. Sie reichte von dem Aktionsbündnis »Wir bleiben alle« bis zur körperlichen und finanzkräftigen Unterstützung durch Kiezanwohner, Querdenker, angestammte Gäste, Neugierige und Freunde, und selbst weniger Betuchte liehen sich beherzt ein Hämmerchen für ihr Sparschwein aus.

Das Resultat: Es konnte ein neues Kulturdomizil nördlich des Senefelderplatzes erworben werden. Das hatte Erfahrungen mit Vielfalt, denn es beherbergte einst einen Obst- und Gemüseladen, bevor es von sieben oder acht gastronomischen Betreibern zugrunde gewirtschaftet wurde und aus trüben Fenstern Ausschau nach neuen Wagemutigen hielt.

Der Mut wurde honoriert, zu den Dauer- und Gelegenheitsgästen zählen heute Studenten, Architekten und Arbeitslose, und dem BAIZ-Aufruf »Heraus zum 2. Mai, dem internationalen Kampf- und Feiertag der Arbeitslosen«, folgten auch Angehörige anderer Profess- und Konfessionen.

Die »Kultur- und Schankwirtschaft« hat es wie das Karfiolgeschäft von einst auf Vielfalt angelegt. Profis und Amateure, Schauspieler, Musiker und Sprachartisten, Avantgardisten, Optimisten, Philosophen, Besserwisser und Träumer lassen hier ihre Lust oder ihren Frust ab oder hören einfach nur zu. Freunde des lauten Fußballs und des stummen Films kommen auf erschwingliche Kosten und trainieren im BAIZ-Worträtsel ihr Engagement und ihren Gehirnschmalz.

Der Kiez rückt näher zusammen, Netzwerke entstehen durch neue Begegnungen, die NSA erhält ein erweitertes Abhörfeld für Daten, und die kolossale BND-Hochburg auf dem ehemaligen Komplex des »Stadions der Weltjugend« kann beweisen, daß sie ihre ständige Kostenexplosionen wert ist.

Apropos Daten: Inhaber und Betreiber Matthias – nach dem Familiennamen habe ich ihn aus Datenschutzgründen nicht gefragt – ist DDR-Inventar, fiel aber durch seine von der Norm abweichenden Wortmeldungen und durch seine ungewöhnliche Pferdeschwanzfrisur so auf, daß er es zwar nicht zum Abitur, aber zum Facharbeiter für Datenverarbeitung brachte. Neue Wendefälle des Lebens verschlugen ihn später in die Gastronomie, die er seit nunmehr einem Vierteljahrhundert mit Engagement, Übersicht und Bauernschläue im Kiez betreibt.

Dafür spricht übrigens auch der Deckname BAIZ, den der Besitzer norddeutsch mit »Spelunke« übersetzt, vgl. auch »Baize«, lt. Brockhaus »Handbuch des Wissens in 4 Bänden« von 1923, Erster Band, S. 185, als »Jagdbetrieb« interpretiert.

Daß beides nur entfernt mit der Wirklichkeit zu tun hat, dürfte nach einem Besuch des Etablissements oder spätestens durch diesen bescheidenen Beitrag hinlänglich bewiesen sein.