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Titel1417

Die »Endlösung« in Thessaloniki  (Rainer Butenschön)

Es ist Samstag, der 11. Juli 1942. Seit Sonnenaufgang stehen auf Befehl Generalleutnants Curt von Krenzki 9000 jüdische Männer auf dem Eleftherias-Platz (Freiheitsplatz) von Thessaloniki in Reih und Glied. Der Kommandeur der deutschen Besatzungstruppen in Nordgriechenland will die jüdische Bevölkerung der Stadt für unbezahlte zivile Arbeiten heranziehen. Die Männer sollen sich registrieren lassen, ihre Arbeitskarten bekommen. Entgegen ihrer religiösen Bräuche dürfen sie keinen Hut tragen. Als einige unter der Sonne zusammenbrechen, werden sie von den deutschen Soldaten, die den Platz umstellt haben, gedemütigt und misshandelt. Wehrmachtsangehörige fotografieren, wie sich Bulldoggen auf die Männer stürzen. Christliche Griechen gaffen von den Balkonen.

 

Das schaurige Spektakel vor 75 Jahren wird zur Ouvertüre der Vernichtung der Jüdischen Gemeinde von Thessaloniki. Danach handeln die Deutschen Schlag auf Schlag: Im Dezember 1942 zerstören sie den jüdischen Friedhof mitten in Thessaloniki, der mehr als 350.000 Gräber zählt; ab 1. März 1943 werden alle Juden in vier Ghettos und ein KZ nahe dem Bahnhof gepfercht, ab 15. März 1943 folgen die Deportationen in die Vernichtungslager. Mit mörderischer Effizienz schaffen es die Deutschen bis 1944/45, als sie aus Griechenland und schließlich Kreta abziehen müssen, 62.500 jüdische Griechen zu ermorden. Das sind 87 Prozent der jüdischen Einwohner des Landes, in Thessaloniki sind es sogar 96 Prozent. Dort erlischt im Spätsommer 1943 alles jüdische Leben, das die Stadt 2000 Jahre geprägt hatte.

 

Bis dahin galt die Metropole als eine der wichtigsten jüdischen Städte der Welt. Die ersten Juden (Romanioten) sollen bereits um 140 vor Christus nach Thessaloniki gekommen sein. Die Stadt blüht auf, als ab 1492 im Zuge der christlichen Reconquista in Spanien sich viele der dort vertriebenen sephardischen Juden in der Stadt ansiedeln. Das Osmanische Reich gewährt diesen Flüchtlingen den Schutz (und die Einschränkungen) des islamischen Rechtsgrundsatzes der Dhimma, der den jüdischen und anderen Religionsgemeinschaften Autonomie bei der Regelung ihrer inneren Angelegenheiten zugesteht. Im Jahr 1900 sind rund 80.000 der 173.000 Einwohner jüdischen Glaubens. Sie pflegen ein reges kulturelles Leben. Als die Stadt 1912 im Balkankrieg zu Griechenland kommt, gerät die Gemeinde unter Hellenisierungs- und sprachlichen Assimilierungsdruck. Das belastet die Beziehungen zwischen Juden und Christen – ein Unterschied zum übrigen Griechenland. Besonders die Zeitung Makedonia vergiftet in der Zwischenkriegszeit mit antisemitischer Propaganda die öffentliche Meinung in der Stadt. 1931 kommt es in einem Stadtteil zu einem Pogrom, tausende thessalonischer Juden wandern in die USA aus.

 

Als die Deutschen am 13. Juli 1942 und den Folgetagen die Zwangsarbeiter-Registrierung fortsetzen, werden die Juden besser behandelt, weil die christlichen Besitzer des Hauses, in das sich General Krenzki einquartiert hatte, gegen die Misshandlung ihrer Mitbürger protestierten – solcher Protest aber blieb in Thessaloniki eher die Ausnahme.

 

Nach ihrem Einmarsch in Griechenland 1941 schließen die Deutschen zunächst die jüdischen Zeitungsredaktionen, gründen die pronazistische Zeitung Nea Evropi (Neues Europa) Sie wiederbeleben die antisemitische republikanische Bewegung EEE, die in der Zeit der Diktatur von Ionannis Metaxa (1936-1941) verboten war, und sie stacheln örtliche Antisemiten an. Doch sie wenden die NS-Rassengesetze zunächst nicht an.

 

Längst haben die »Judenexperten« des Nazi-Regimes ein detailliertes Bild vom griechischen Judentum, da deutsche Diplomaten seit 1938 darüber Berichte ins Reich schicken. Auch folgt der Wehrmacht sofort ein Sonderkommando des Einsatzstabes des Nazi-Chefideologen Alfred Rosenberg. Der hat seit 1940 von Hitler den Auftrag, alle wissenschaftlichen Unterlagen und Archive zum Judentum einzuziehen und zu sammeln. Aus Synagogen, Vereinen, Schulen, Banken, Kliniken, Redaktionen, Buchhandlungen und mehr als 60 Privatwohnungen werden Archive, Schmuck, Manuskripte, Inkunabeln und kostbare Sammlungen mit Rabbinerurteilen gestohlen.

 

Hauptmann Max Merten, Chef der deutschen Militärverwaltung in Thessaloniki, versucht die Jüdische Gemeinde immer wieder in Sicherheit zu wiegen. Dieses falsche Gefühl wird verstärkt, als im Frühjahr 1942 General Georgios Tsolakoglou als Ministerpräsident der griechischen Marionettenregierung die Stadt besucht und erklärt, die Juden hätten nichts zu befürchten.

 

Doch bereits nach kurzer Zeit der Schufterei im Straßenbau, auf Flugplätzen, in Bergwerken und Sümpfen sind etliche der ausgehobenen jüdischen Arbeiter ernsthaft erkrankt. Als erste Todesfälle für Unruhe in der Jüdischen Gemeinde sorgen, reagiert Merten scheinbar verständnisvoll – auch mit Blick auf den eigenen Vorteil. Im Oktober 1942 schließt er mit dem von ihm als Vorsteher der Jüdischen Gemeinde eingesetzten Buchhalter Sabi Saltiel, einem Quisling, einen Vertrag: Danach werden 3000 neue Männer für die Zwangsarbeit rekrutiert, gleichzeitig werden 7500 Männer befreit gegen Zahlung der hohen Summe von mindestens 750 Millionen Drachmen: »Es ist keine Überraschung«, schreibt die griechische Historikerin Rena Molho, »dass die Lösegelder bis heute nicht gefunden wurden.« Bis vor kurzem habe sich Deutschland Rückzahlungsforderungen der Jüdischen Gemeinde mit der Behauptung verweigert, das Geld sei auf einem Konto der Bank of Salonika geblieben – einer jüdischen Bank, die von den Deutschen 1941 konfisziert worden war: »2005 schließlich entdeckte Evangelos Chekimoglou die Schecks, die die Jüdische Gemeinde Merten gegeben hatte, der sie offensichtlich eingelöst hat.« (Quellenangabe siehe unten)

 

Merten ist zusammen mit Adolf Eichmanns SS-Männern Dieter Wisliceny und Alois Brunner einer der Hauptverantwortlichen für die Organisierung der Ermordung der Juden von Thessaloniki und der ab März 1943 dann flächendeckenden Plünderung ihrer Reichtümer und Habseligkeiten. Doch am 8. September 1948 wird er laut Entnazifizierungsbescheid als »entlastet« eingestuft. Anfang 1952 wird der frühere NS-Militärverwaltungsrat im Bundesjustizministerium angestellt. In seinem Lebenslauf gibt er sich als Retter von 13.000 Juden aus. Ohne Angaben von Gründen wird Merten am 27. September 1952 nach einem Gespräch mit seinem Abteilungsleiter aus dem Ministerium entlassen: Zuvor hatte am 20. September 1952 eine griechische Delegation eine Liste mit 21 Personen in Bonn überreicht, die beschuldigt wurden, an den Deportationen in Thessaloniki beteiligt gewesen zu sein. Unter Ziffer 4 findet sich ein »Dr. Mertin [sic!]«, heißt es in der »Akte Rosenburg«, der 2016 veröffentlichten Studie über »das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit«.

 

1957 wird Merten in Athen festgenommen, wo er zugunsten eines angeklagten Deutschen aussagen wollte. Nach fast zweijähriger U-Haft wird er zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Merten wusste nicht, dass Athen kurz zuvor einen Fahndungsstopp nach NS-Kriegsverbrechern wieder aufgehoben hatte, da die Regierung in Bonn Zusagen in dieser Frage gebrochen und griechische Hoffnungen auf Reparationen enttäuscht hatte. Für die Freilassung von Merten macht die Bundesregierung sofort mächtig Druck in Athen: Acht Monate nach seiner Verurteilung wird der Kriegsverbrecher im November 1959 nach Deutschland überstellt, wo er nach wenigen Tagen aus der Haft entlassen wird. Heute gibt es wieder eine kleine Jüdische Gemeinde in Thessaloniki. Sie fordert Entschädigungen – bis heute vergeblich.

 

 

Literaturtipp: Rena Molho: »Der Holocaust der griechischen Juden. Studien zur Geschichte und Erinnerung«, übersetzt von Lulu Bail, Verlag J. H. W. Dietz Nach., 263 Seiten, 24,90 €