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Titel1418

Höchstrichterliches  (Harald Kretzschmar)

Kennen Sie den? Den einzigen Maler, der sich selbst auf den Index setzt? Der seine Frühwerke ins Verborgene verbannt, selbst wenn er sie einstmals einem befreundeten Studienkollegen geschenkt hat? Notariell beglaubigte Untersagungen des Zeigens einer gewissen Kunst stellen ein Novum dar. Kunst- und Justiz-Geschichte kreuzen sich, ohne sich in die Quere zu kommen. Schon ein Kunststück für sich. Geschaffen zur Abschirmung einer Verdrängung.

 

Wer verdrängt hier wen? Ein späterer Gerhard Richter will von einem früheren Gerhard Richter nichts mehr wissen. Für Nichtsahnende: Ja, es handelt sich um den höchstbezahlten zeitgenössischen Künstler. Nicht nur deutschlandweit. Nein, global, also exterritorial soll hier Kunst first class bewiesen werden. Im Kapitel »Verkehrte Welt« ein Sonderfall. Niemals durch wahre Leistung zu rechtfertigen. Was an G. R. mit unseren Augen erfassbar ist, davon zeigt eine mustergültig arrangierte Schau seiner Werke zurzeit im Museum Barberini Potsdam das absolut Beste. »Abstraktion« genannt, sehen wir etwas, das ich in meiner im neuen deutschland veröffentlichten Besprechung mit dem Satz quittierte: »Oja, all das zu entdecken, macht schon Spaß.« Dem habe ich spaßeshalber etwas hinzuzufügen.

 

Zunächst: Ganz bescheiden bemerkt, habe ich mit dem etwa gleichaltrigen, zeitgleich aus Dresden in die Kunstwelt startenden Künstler etwas gemeinsam: die 1950 leider verpatzte Aufnahmeprüfung an der Dresdner Kunstakademie. Die dabei gestellte Prüfungsaufgabe des genauen Zeichnens des Flechtwerks eines Korbes verfolgt uns zeitlebens bis heute. Ich habe das Programm längst zugunsten freier Umsetzung aufgegeben. G. R. dagegen ist inzwischen die Genaunehmerei in Person. Ich lache heute über seine Sucht, um jeden (hohen) Preis die getreueste Widerspiegelung dessen, was ist, zu praktizieren. Nämlich um den Preis, sich bis ins letzte abstrakte Bild einer fotografischen Vorlage auszuliefern.

 

Das Nächste ist etwas von der schwärzesten Sorte schwarzen Humors. Was einst ein ebenfalls gemeinsames Problem war, erfuhren wir erst viel später. Darüber sprach man nicht in Familie. Alle Teufel Dresdens konnten sich ins Fäustchen lachen. G. R.s Tante Marianne wurde als Geisteskranke 1938 zwangssterilisiert und 1945 zur Tötung freigegeben. Mein mit den Jahren immer debiler werdender Großonkel Paul wurde gemeinsam mit seinem Sohn Paul aus dem gleichen Grund 1944 auf dem Pirnaer Sonnenstein zum Tode befördert. Kleiner Unterschied: G. R.s späterer geliebter Schwiegervater, als hoher SS-Kader in der Chefetage der Dresdner Frauenklinik für die Sterilisation der Tante zuständig, ging nach 1945 in dieser Hinsicht straffrei in den sicheren Westen. Mein Onkel Franz, Neffe beziehungsweise Cousin der »getöteten« Pauls, als Chefarzt der Psychiatrie Arnsdorf bei Dresden Hauptgutachter im 1947 folgenden Euthanasie-Prozess, ging anschließend auch zur Aufklärung dieser Verbrechen in den Westen, um dort in dieser Weise weiter zu wirken.

 

Wenn G. R. die reale Welt zeitlebens ohne ein eigenes Wenn und Aber widerzuspiegeln antritt, nennt man das immer noch Realismus. Erst sozialistisch, dann kapitalistisch. Das später folgende Abstrakte konnte kaum ein dritter Weg sein. Als ich in den siebziger Jahren das erste Mal in Köln das berühmte Wallraf-Richartz-Museum besuchen durfte, ging ich die Treppen unter 48 überlebensgroßen Bildnissen ausschließlich berühmter Männer nach oben. G. R., seit 1961 Bundesbürger mit steilem Aufwärtstrend, hatte sie nach Passbildern für den Pavillon seines Staates in Venedig grau in grau nachgemalt. Für einen wie mich, der als Halbwüchsiger beim Versuch, ein Lexikonfoto abzumalen, bereits erkannte, dass diese Zeichnerei ins Leere läuft, ein Spießrutenlauf. Ich war gespannt gekommen, die andere Seite einer deutschen Kunst kennenzulernen. Und nun dieser vorgebliche Idealfall einer Porträtkunst. Mir begegnete das gigantische Gegenprogramm zum Eigenen. Lachhaft.

 

Das sollte sich noch weiten. Genaugenommen lediglich multiplizieren zur Quantität. »Atlas« nennt sich das, was quadratmeterweise 1997 die documenta X ziert. Da lauscht hingerissen die Crew der angereisten Journalisten der Stimme einer Interpretin, die als künstlerisches Ereignis anpreist, was das persönliche Archiv des Künstlers ist. Unbearbeitete Bildvorlagen halt, wie sie jeder hat. Akribisch von G. R. gesammelte, völlig unbearbeitete Kleinfotos. Ich melde eine Frage dazu an. Oje. Befremdete bis wütende Blicke strafen mich ab. Da versucht einer, den Meister in Zweifel zu ziehen – ein Sakrileg. In Kassel ein schierer Weltuntergang.

 

Yasmina Reza hat ein viel gespieltes Stück zu so etwas geschrieben: »Kunst«. Wir haben herzhaft darüber lachen können.

 

Seitdem ist der über alle Maßstäbe längst meilenweit hinausgewachsene Meister absolut unangefochten. Der Siegeszug der Richterei erreichte bald seine einst verlassene, dann geschnittene, nun wiederentdeckte Heimatstadt Dresden. Es fing wohltuend einfühlsam an. Eine noble Schenkung nach der Elbeflut. Doch nach dem uferlosen Hineinholen von Werken G. R.s in die Gemäldegalerie Neue Meister brachen alle ideologischen Dämme. Kult statt Kultur. Unmittelbar vor dem miserabel platzierten Topbild des Triptychons »Der Krieg« von Otto Dix inszenierte man provozierend den Lebens- und Schaffenslauf des G. R. Inzwischen werden seine vier »Birkenau«-Fotoadaptionen gegen das künstlerisch unermesslich tiefgreifendere Triptychon »Das Tausendjährige Reich« von Hans Grundig ausgespielt.

 

Da wird es hochgradig politisch. Die Damen des momentanen Establishments erlauben sich, nach Belieben auf- und abzuwerten. Jahrzehnte Dresdner malerischer Hochkultur, in der Hängung eingedampft aufs Minimale. Die eine Person des aktuell am höchsten Gewerteten auf drei Säle ausgedehnt. Wie soll ich da ernst bleiben? Mein Hohnlachen unterdrücken? Soll ich als Kunstkritiker das sich damit beleidigt fühlende Dresdner Publikum zurechtweisen? Vielleicht darf ich in aller gebotenen Heiterkeit die zurzeit in Potsdam gezeigten absolut abstrakten Bilder lobpreisen. Sie sind halt – vom Meister so beabsichtigt – bloß schön. Wie vieles sonst.