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Titel1418

Pünktlich wie die deutsche Bahn?  (Johann-Günther König)

Pünktlichkeit im Eisenbahnbetrieb bezeichnet die Übereinstimmung der fahrplanmäßigen Abfahrts- und Ankunftszeiten eines Zuges mit den tatsächlich erfolgten. Für die Deutsche Bahn AG gilt ein Zug als pünktlich, wenn er bis exakt fünf Minuten und 59 Sekunden nach der im Fahrplan vorgesehenen Zeit eintrifft beziehungsweise abfährt. Übrigens werden die Zeiten bahnintern in Zehntelminuten berechnet und diese im veröffentlichten Fahrplan stets abgerundet. Apropos Zeit: Viele Jahre später als etwa in Kroatien wurden am 1. April 1893 in Frankfurt am Main die Uhren 25 Minuten und 16 Sekunden vorgestellt und damit auch in Deutschland die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) eingeführt. Zwar hatten sich längst vor der Einführung der MEZ die deutschen Eisenbahnverwaltungen auf die sogenannte Eisenbahn-Standard-Zeit geeinigt, aber eben nicht auf eine einzige, sondern auf zehn. In Preußen galt die Berliner Zeit, in Sachsen mit einem Unterschied von vier Minuten die Leipziger, in Bayern die Münchner, in Württemberg die Stuttgarter, in Baden die Karlsruher Zeit und so weiter.

 

Die zunehmend komplexeren Abläufe der verspätet industrialisierten deutschen Gesellschaft gingen einher mit der Disziplinierung der Beschäftigten zu Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit und Ausdauer; sie erforderten nachgerade eine synchronisierte Uhrzeit. Durch sie wurde die Fahrplangestaltung der Eisenbahngesellschaften und zudem die organisatorische Verzahnung von Nah- und Fernverkehr schlagartig präziser, was wiederum Jung und Alt das pünktliche Erscheinen in Schulen, Fabriken, Büros und anderswo erleichterte. Die von stetig steigenden Fahrgastzahlen profitierende Eisenbahn brachte nun die Menschen nicht nur gewaltig in Fahrt; sie schuf zugleich, wie Ivan Illich trefflich zuspitzte, einen »neuen Menschentypus, der auf Schienen paßt und nach Fahrplänen läuft«. Und von dem wie selbstverständlich pünktliches Erscheinen erwartet wurde und in unseren hypermobilen Zeiten nach wie vor erwartet wird – bloß keine Verspätung bitte … Oder?

 

Seit 2011 veröffentlicht die Deutsche Bahn AG ihre »Pünktlichkeitsstatistik« im Internet. Die von ihr kommunizierten »Pünktlichkeitswerte« lauteten für das Gesamtjahr 2017: »78,5 Prozent für den Fernverkehr, 94,4 Prozent für den Nahverkehr und 94,1 Prozent für den Personenverkehr insgesamt«. Sie waren übrigens gegenüber dem Vorjahr leicht verschlechtert, weil sich zahlreiche »interne und externe Einflüsse« negativ ausgewirkt hatten – vor allem das »intensive Baugeschehen«, die »Brandanschläge im Rahmen des G20-Gipfels«, die »schweren Herbststürme« sowie »die Zahl der Störungen an Infrastruktur und Fahrzeugen«. Ganz zu schweigen von der sieben Wochen dauernden Sperrung des »Rheintal-Korridors bei Rastatt« wegen eines schiefgelaufenen Tunnelbaus. Die Strecke gehört zu einer der am stärksten frequentierten im deutschen Eisenbahnnetz.

 

Die von der DB AG im Rahmen der Pünktlichkeitsentwicklung publizierten Pünktlichkeitswerte liegen im Fernverkehrsbereich im langjährigen Mittel bei achtzig Prozent, was aber »umgerechnet« nicht heißt, dass jeder fünfte Fernzug verspätet war und ist. Denn die Zahlen des Staatskonzerns verraten konkret nur den Anteil pünktlicher Halte hinsichtlich aller Unterwegs- und Endhalte. Anders formuliert: Ein IC von Leipzig nach Norddeich, der auf vielen Unterwegshalten im Rahmen der »Toleranz« von 5:59 Minuten pünktlich fährt, erhöht das statistische Pünktlichkeitsniveau selbst dann, wenn er ab Bremen mit 15 Minuten Verspätung und nur noch einigen Unterwegshalten gen Norddeich weiterfährt und dort fahrplangemäß sogar 25 Minuten zu spät ankommt. Eine Fährverbindung kann dann schon einmal ins Wasser gefallen sein … Anders und präzise formuliert: 2017 wurden im Jahresdurchschnitt 78,5 Prozent aller Halte von den DB-Fernzügen gemäß Fahrplan beziehungsweise nicht später als mit 5:59 Minuten Verspätung erreicht. Damit wurde das vom Management avisierte Quotenziel von 81 Prozent deutlich verfehlt. Würde die Deutsche Bahn statt aller Halte nur die Zugverspätung am Endbahnhof heranziehen, sähe die Statistik noch weniger vorteilhaft aus.

 

Verspätungen sind aufgrund der spezifischen Komplexität des Bahnbetriebs hierzulande beim Fahrkartenkauf inbegriffen. Pendler und Reisende, die sich eine fast absolute Pünktlichkeit erhoffen, sollten mit einem Umzug nach Japan liebäugeln, denn dort sind die Bahnen hinsichtlich Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Sauberkeit vorbildlich. Der hervorragend gewartete Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen hat eine durchschnittliche Verspätung von deutlich unter einer Minute. Was Wunder. Er verkehrt auf einem fast durchweg eingezäunten Gleisnetz, auf dem zudem kein Nah- und Güterverkehr stattfindet. Von solch vorteilhaften Bedingungen kann für die ICE-Züge hierzulande keine Rede sein, weshalb sie auch nie und nimmer absolut verspätungsfrei unterwegs sein können. Deutschland hat eines der dichtesten Eisenbahnnetze der Welt. Es befindet sich im Besitz der Netz-Tochter der Deutschen Bahn AG. Die Eisenbahnstrecken selbst fungieren als Kanten, deren Aufeinandertreffen kleine und große Bahnknoten bildet. Im Netz der DB AG gibt es 36 komplexe große Knoten und Großknotenbereiche, von denen bis zu dreizehn Strecken abgehen. Etwa München, Frankfurt, Köln, Hamburg und Leipzig. Verkehrssystemen ist zwar das nicht-lineare Verhalten eigen, bei geringer Grundlast kurzzeitige Belastungsspitzen oder Störungen durch technische Probleme oder Unfälle bewältigen zu können. Befinden sie sich jedoch an der Grenze der Belastbarkeit, bewirken bereits kleine Störungen den Zusammenbruch ihrer Funktionsfähigkeit.

 

Nun sind die meisten Haupteisenbahnstrecken in Deutschland fast vollständig ausgelastet. Eben deshalb sorgt bereits eine kurze Stellwerksstörung in einem großen Knoten für die dominoeffektartige Verspätung aller von ihm ausgehenden Zuglinien. Von einer fahrplanmäßigen Fahrt der teils bis zu fast tausend Kilometer langen Linien kann dann nur noch geträumt werden. Zum Schutz gegen die Unzuverlässigkeit des Bahnsystems wären Kapazitätsreserven notwendig, an denen es jedoch mangelt. Erschwerend hinzu kommt der überwiegend übliche Mischverkehr von Güter-, Nah- und Fernverkehrszügen. Wobei übrigens der schnellere Zug bei Vorkommnissen zumeist Vorfahrt hat, wie auf den Schienenpersonennahverkehr setzende Pendler nur zu leidgeprüft wissen. Laut der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (söp) beziehen sich immerhin mehr als die Hälfte der Bahnbeschwerden auf verspätete oder komplett ausgefallene Züge (die nicht in die Statistik eingehen). Wie lautete nicht gleich ein Werbespruch der Bundesbahn Ende der 1950er Jahre – »Pünktlich wie die Eisenbahn sagten unsere Urväter und stellten ihre Uhren nach vorbeifahrenden Zügen«. Fragt sich nur, wie viel pünktlicher die Züge heute sein könnten, und zumal, ob sie früher tatsächlich pünktlich waren. Dazu in meinem Buch mehr.

 

 

Von Johann-Günther König erscheint am 26. Juli: »Pünktlich wie die deutsche Bahn? Eine kulturgeschichtliche Reise bis in die Gegenwart«, zu Klampen! Verlag, 240 Seiten, 22 €