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Titel15+1611

Die Freizeitfiktion  (Clara Tölle)

Noch gibt es gewerkschaftlich ausgehandelte Tarifverträge, in denen festgelegt ist, für wieviel Stunden am Tag oder in der Woche und zu welchem Preis die Beschäftigten ihre Arbeitskraft dem Unternehmen verkaufen. Und wenn es flexibel zugehen soll, werden Arbeitszeitkonten eingerichtet, was schön klingt, so als könnten die ArbeitnehmerInnen selbst bestimmen, wann sie dem Betrieb zur Verfügung stehen und wann sie sich freie Zeiten nehmen wollen. Statistisch ausgewertet ergeben diese Vereinbarungen: Hierzulande bleibt auch bei Vollerwerbstätigkeit genug Zeitraum, um privaten Interessen nachzugehen, sich zu erholen, mit der Familie oder Freunden zusammenzusein. Aber wieder einmal vermitteln solche offiziellen Zahlen ein falsches Bild, die Arbeitsverträge geben keine Auskunft über die Realität des Arbeitslebens.

Sozialwissenschaftliche Studien mit Nahperspektive machen einen ganz anderen Trend sichtbar: Der außertarifliche Zugriff der Arbeitgeber auf die Zeit von abhängig Beschäftigten dehnt sich aus, »entgrenzte Arbeit« ist der Begriff dafür. Zunehmend wird erwartet, daß der einzelne Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin , wenn’s pressiert, Überstunden leisten, immer mehr auch ohne zusätzlichen Lohn. »Freiwillig geschieht das, unter dem Druck, daß man den Arbeitsplatz nicht verlieren und deswegen als »leistungsbereit« gelten will. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ist in vielen Branchen bedrängend, Teilzeitbeschäftigte oder Leiharbeiter suchen nach einer vollen oder gesicherten Stelle, die »Agenda«-Strategie wirkt sich aus. Gesundheitliche Schäden infolge überdehnter Arbeitszeiten werden nicht offengelegt, weil man nicht als verschlissen erscheinen will; persönliche Verpflichtungen oder Bindungen kommen zu kurz, weil die faktische Freizeit dafür nicht mehr reicht. Vor allem in Dienstleistungsbranchen, auch den technischen, breitet sich die Gewohnheit aus, Arbeitskräfte auch außerhalb der betrieblichen Zeiten in Anspruch zu nehmen. Verfügbarkeit rund um die Uhr wird verlangt, wofür gibt es denn das Handy.

Dumping ist die unternehmerische Leitlinie im Beschäftigungswunderland Bundesrepublik Deutschland – beim Lohn wie auch bei der zeitlichen Ausbeutung von Arbeitskraft. Unbezahlte Mehrarbeit bedeutet: mehr Mehrwert. Weibliche Arbeitskräfte sind von diesem Trend besonders betroffen. Es bleibt ihnen noch weniger Zeit für jene fürsorgerischen Tätigkeiten, die überwiegend immer noch als »Frauenarbeit« angesehen werden. »Freizeitengagement«, unbezahlt.