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Titel15+1611

Fehler? »Das kriegen wir noch.«  (Kurt Pätzold)

Wenn mein Enkelsohn Maxim, ein pfiffiges Kerlchen, bei einer Klassenarbeit im Fach Deutsch bei seinem neben ihm sitzenden Kumpel abschreibt, dabei ertappt und zur Rede gestellt wird, könnte sich zwischen ihm und seiner Lehrerin folgendes Gespräch entwickeln: Er würde sich demütig zeigen und erklären, er habe, versonnen, wie ihn das Aufsatzthema stimmte, ganz zufällig auf das Heft und den Text seines Nachbarn gesehen, dann die Übersicht zwischen dem, was er sich selbst ausgedacht und bei seinem Banknachbarn gelesen habe, verloren, und so sei eben ... Und so weiter. Er bitte diesen Fehler zu entschuldigen. Das würde ihm die Pädagogin nicht abnehmen und ihm zunächst den Unterschied zwischen einem Betrugsversuch, in diesem Falle einem gescheiterten, und einem Fehler auseinandersetzen. Möglicherweise wäre der Vorfall Anlaß, der ganzen Klasse zu erklären, was Diebstahl geistigen Eigentums sei. Die Jungen und Mädchen hätten das verstanden, einer von ihnen sogar so gut, daß er doch noch würde wissen wollen, warum, wenn ein Abgeordneter oder Minister abschreibt, das dann aber doch Fehler heißt.

Der Bursche, einer von der selten gewordenen Sorte der Zeitungsleser, hatte tags zuvor in einem Blatt, das seiner aus Stuttgart gekommenen Tante als Reiselektüre gedient hatte, zuerst die knappe Notiz gelesen, daß ein niedersächsischer Kultusminister, derzeit auch Vorsitzender der Kultusministerkonferenz und Parteifreund der Frau Bundeskanzlerin, »mögliche handwerkliche Fehler« bei der Anfertigung seiner Dissertation einräumte: Er habe das geistige Eigentum anderer »nicht korrekt zitiert«. Irgendeine Täuschung liege nicht vor. Das »Handwerk« hatte der Mann übrigens an der Bundeswehrhochschule in Hamburg gelernt und den Titel eines Dr. rer. pol. an der Universität Potsdam erworben. Dort wird nun geprüft.

Ein paar Zeitungsseiten weiter war dann ausführlicher, weil es sich um einen Baden-Württemberger handelte, Folgendes berichtet worden. Einem Landtagsabgeordneten, einst persönlicher Referent des Ministerpräsidenten und bis zum Oberregierungsrat aufgestiegen, zudem auch Parteifreund der Kanzlerin, hatte die Universität Tübingen soeben den Doktortitel aberkannt. In der juristischen Dissertation war auf mindestens jeder vierten Seite ein Plagiat entdeckt worden. Wie reagierte dieser Erwischte? Mit der Erklärung, er stehe für sein »wissenschaftliches Fehlverhalten« ein und trage »die Verantwortung für die Fehler«, die er – nicht anders als sein Parteifreund in Niedersachsen – ohne eine Täuschungsabsicht begangen habe. Und verblüfft mögen die Waiblinger, die den Mann, als er noch Dr. jur. war, vor ein paar Monaten in dem Landtag entsandt hatten, nun die Geschichte gelesen haben, wie es zu derlei Fehlern kam: Er war bei der »langwierigen Arbeit«, die er sich zugemutet hatte, schlicht durcheinandergeraten und hatte sich in seinen Aufzeichnungen nicht mehr zurechtgefunden. Die exzerpierten »Fremdtexte« vermochte er von den seinen nicht mehr zu unterscheiden. Ein Verwechslung – auf jeder vierten Seite.

Daß es in diesem Lande Personen gibt, die ihr Ansehen und ihre politische Karriere fördern wollen, indem sie ihrem bürgerlichen oder adligen Namen einen Doktortitel beifügen, und die das auf unredliche Weise tun, macht schon keinen Skandal mehr. Daß sie aber, erwischt, die Dreistigkeit besitzen, sich wie der letzte Ladendieb herauszuschwindeln, macht den ersten Skandal dann doch. Den zweiten schafft die Hinnahme der Lügenmärchen durch die Kollegen Minister, Abgeordneten, Parteifreunde und Wähler. Den dritten aber die Akzeptanz solcher Erklärungen durch die einschlägigen Gremien von Universitäten. Denn eine bewußte Täuschung vermochten auch die Tübinger Hochschullehrer nicht zu erkennen. Grob fahrlässig sei schon verfahren worden. Also: das nächste Mal die Zettel mit den Exzerpten besser kennzeichnen, sortieren und getrennt aufbewahren, damit Verwechslungen ausgeschlossen werden.
Wie die Sache in Maxims Klasse zu Ende gegangen sein könnte? Es klingelte, und die Lehrerin entließ den Zeitungsleser und neugierig Fragenden und seine Mitschüler mit dem Bemerken in die Pause: »Den Unterschied im Sprachgebrauch des Wortes Fehler kriegen wir noch, wenn wir zum Thema Sprache der Politik kommen werden.«