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Titel15+1612

Abgrund Europa  (Susanna Böhme-Kuby)

Tucholsky stellte 1926 aufgrund seiner Aufenthalte in Frankreich und Deutschland fest, daß es beiden Ländern nicht nur an gemeinsamen sozialen Grundlagen, sondern vor allem auch an gegenseitiger Kenntnis der jeweiligen nationalen Verhältnisse gebrach. Führt man sich den heutigen – mittels jahrzehntelanger Desinformation durch die großen Medien verursachten – Grad der Unkenntnis innerhalb der nationalen Gesellschaften Europas vor Augen muß man konstatieren, daß sich sehr wenig an diesem Zustand geändert hat und kaum ein gemeinsames politisches Bewußtsein dessen existiert, was Europa sein sollte und könnte. So sieht das Resultat von fast siebzig Jahren europäischen Aufbaus aus, mit atlantischer Abendlandideologie seit 1945 und wirtschaftlichen Verflechtungen bis hin zur Einheitswährung.

Als früher Anhänger der Idee einer Einigung Europas war Tucholsky skeptisch gegenüber einer Lösung, die nicht vom Geist des Internationalismus und einer entsprechenden ökonomischen Solidarität geprägt wäre. So mißtraute er in den zwanziger Jahren der Außenpolitik Stresemanns, in der er vor allem die Interessen des deutschen Großkapitals ausmachte, sowie auch dem sogenannten Geist von Locarno, der eine Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg begründen sollte: »... Es ist nicht wahr, daß freundliche Gespräche am Genfer See den Urgrund künftiger Kriege aus dem Wege räumen werden ..., diesen latenten Kriegszustand bekämpft man, indem man ... die Verursacher und die Ursachen dieser Wirtschaftsordnung beseitigt.« Tucholskys Forderung hat sich bis heute nicht erfüllt. »Diese Wirtschaftsordnung« wird – seit dem Ende der Sowjetunion – als alternativlos hingestellt, obwohl sich spätestens in der jüngsten Krise erwiesen hat, daß der Kapitalismus (heute in seiner neoliberalen Form) seinem einstigen Nachkriegsanspruch, nämlich den Wohlstand der Mehrheit schaffen und sichern zu können, längst nicht mehr nachkommt. Im Gegenteil: Unter dem Vorwand der »Schuldenkrise« findet ein Angriff auf die sozialen Errungenschaften der Nachkriegsphase statt, der vor allem die Länder der Peripherie Europas an den Rand des Abgrunds führt. Der Charakter dieses verschärften Klassenkampfes von oben wird verschleiert, die Verantwortlichkeit für die Krise auf die notleidenden Länder selbst und allenfalls auf böse Banker und Spekulanten abgeschoben, aber nicht einmal den letzteren legen unsere Volksvertreter das Handwerk.

Die demokratische Tünche, die man Europa nach 1945 aufgetragen hat, erweist sich als brüchig; rasch sind alte populistische Klischees reaktiviert: vom unzuverlässigen Italiener, vom betrügerischen Griechen, vom häßlichen Deutschen. Ein Aufenthalt in Deutschland vermittelte mir kürzlich das Ausmaß an Ignoranz und Vorurteilen – und nicht bei Bild-Lesern – hinsichtlich der Ursachen der »Krise« und der Auswirkungen der Sparmaßnahmen zu deren Bekämpfung in den peripheren Ländern Europas. Die ganze Begriffswelt von »Hausaufgaben«, die diese Länder – laut Angela Merkel – zu machen hätten, die man kurz als »PIGS/PIIGS« verunglimpft und denen man nachsagt, sie hätten »über ihre Verhältnisse« gelebt und müßten nun sparen und Auflagen erfüllen, um dann gespenstischen »Rettungsschirmen« unterstellt zu werden, für die deutsche Steuerzahler aufkommen müßten, erweist eine kaum zu unterbietende Primitivität. So hört man denn auch in Italien, Frau Merkel müsse es der deutschen Bevölkerung recht machen, die nicht für die Schulden der in der Sonne liegenden Griechen aufkommen wolle, welche ihrerseits 14 Monatsgehälter bezögen ... Daß Fiskalpakt und Rettungsschirme Griechenland, Spanien und morgen Italien ihrer Souveränität berauben und katastrophale koloniale Abhängigkeiten schaffen, führt zu einem explosiven Szenario: Finanzkrise, Sozialabbau, Zerstörung der Industrie, Zuspitzung sozialer und internationaler Spannungen.

Der italienische Ministerpräsident Mario Monti stimmte sein Land denn auch am 11. Juli in einer Rede vor Bankern auf »härteste Kriegsverhältnisse« ein, wohl schon um den Italienern – im Blick auf die nahenden Wahlen – jegliche Hoffnung auf eine politische und wirtschaftliche Alternative zu nehmen. Die ist auch nicht wirklich in Sicht, da die einstige Linke kopflos ist und Silvio Berlusconi noch einmal ante portas. Und auch auf europäischer Ebene gibt es keine Bereitschaft der Verantwortlichen, dem Niedergang des Kontinents Einhalt zu gebieten, sie debattieren bestenfalls über »mehr oder weniger« Europa, aber nicht über ein »anderes« Europa, für das es an Ideen und konkreten Vorschlägen nicht mangelt.