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Titel15+1612

Geburt einer Legende  (Walter Kaufmann)

»Die Gewehrmündung im Mund, drückte er ab und blies sich den Schädel weg. So war das!« sagte der Kubaner. Wir saßen im Kreis an einem Holztisch in der La-Flota Bar am Hafen von Havanna. Es war Nacht und laut in der Bar. Um uns herum wurde getrunken, gesungen und getanzt. Der Kubaner war kaum zu hören in dem Lärm. Er war ein kleiner, drahtiger Mann, und er sprach, als wäre er dabeigewesen, als der Schuß fiel. Damit auch ich ihn verstand, sprach er Englisch, wie auch die Frauen am Tisch – sie kannten die Sprache aus der Zeit der Amerikaner, der Zeit vor Fidel. »Ach, wie willst du das wissen«, sagte Erminda. »Du wiederholst doch bloß, was die im Radio reden.«

Sie war eine dralle Frau mit üppigem Busen und dunklen Augen und wirkte jünger jetzt, aufgebracht wie sie war.

»Richtig. Genau das kam im Radio«, bestätigte der Mann.

»Miami, was? Florida!«

»War eine Sondermeldung.«

Erminda lachte auf. »Lügen«, rief sie. »Der bringt sich nicht um. So einer nicht. Der nicht!«

»Kluge Sprüche von einer Nutte.« Der Mann sah vielsagend von der Frau zu mir. Ich rief nach dem Kellner und bestellte noch eine Runde. Der Kellner strich das Wechselgeld ein. Noch immer war die Musik so laut, daß ich mich vorbeugen mußte, um zu hören, was Erminda sagte. Ihr Zorn war verflogen. Ihr Ausdruck verklärte sich. »Der hat sich nicht erschossen«, sagte sie wieder. »Der war ein Mann durch und durch.«

»Meinst wohl, du hast mit ihm geschlafen«, fiel ihr der Kubaner ins Wort.

»Merde!« Ermindas Zorn loderte wieder auf. »Du redest wie ein Kretin! Der hat mich nicht angerührt, der brauchte mich nicht – der gab, ohne zu nehmen.«

»Tatsächlich!« Der Mann schnaubte. »Ich glaub fast, du kanntest ihn überhaupt nicht.«

»Das wagst du zu sagen!« Erminda kreischte. »Jeder weiß, daß ich zweimal auf Finca Vigia war – richtig drin in dem Haus, wo er wohnte. Er sprach mit mir wie ein Gott. Er war klug wie sonst keiner.«

»Sie waren auf Finca Vigia«, fragte ich. »Tatsächlich?«

»Das ist mir heilig«, sagte sie. »Davon erzähl ich nicht.«

Sie blickte durch die offene Tür nach draußen, wo ein blonder Seemann an der Laterne lehnte, den Arm um die Hüfte einer Schwarzen. »Nie hat er mich angerührt«, sagte sie. Dann schwieg sie. Nur ihre Lippen bewegten sich noch wie im Selbstgespräch.

»Vielleicht war es ein Unfall«, sagte plötzlich die Mulattin neben mir. Ich wandte mich zu ihr. Ein Lichtstrahl fing sich in dem Kreuz am Kettchen zwischen ihren Brüsten. »Oder der Wille Gottes.«

»Oder der Yankees!« warf die dritte Frau dazwischen. »Vielleicht haben ihn die Yankees umgebracht, weil er für Fidel war.«

»Ach was«, rief Erminda durch den Lärm. »Den hat keiner umgebracht. Und er selbst auch nicht. Er starb im Augenblick der Wahrheit Ja, das sage ich, im Augenblick der Wahrheit – wie die Helden seiner Bücher.« Ihre Hand zitterte, als sie ihr Glas hob. Sie setzte es wieder ab. »Es gab nichts mehr für ihn zu sagen. Er hatte alles gesagt.« Sie schloß die Augen, stützte das Kinn in die Hände. Es war, als hätte sie uns abgetan. Niemand sprach. Ich stand auf und verließ die Bar. In Gedanken beim Tod Ernest Hemingways machte ich mich auf den Weg zum Pier, wo der Frachter lag, auf dem ich angemustert hatte.

Geschrieben am 2.7.1961, dem Todestag von Ernest Hemingway, in Havanna, Kuba. Andere Begebenheiten aus der Seefahrtszeit des Autors finden sich in Walter Kaufmanns Autobiografie »Im Fluß der Zeit«, Dittrich Verlag, 293 S. 19,80 €.