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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Wenn man selbst nicht spazieren gehen kann, muß man die Nachrichten oder gar die Bilder zu sich kommen lassen. Da geht manches, das meiste nicht gut. Abgefilmte Theater-Inszenierungen sind einiges wert, der Information halber, da man nicht überall sein kann. Aber das Bühnenerlebnis ersetzen sie nie. Theater blieb neben Film bestehen wie der Funk – doch alle haben eigene Ästhetiken entwickelt. Und auch das Fernsehen als Kiste, in die alles hineinpaßt, hat Theater nicht verdrängt. So mancher hat heute Angst um die Printmedien – um Bücher, Zeitschriften und Zeitungen. Unberechtigt ist das nicht, heranwachsende Generationen bevorzugen die digitalen Medien. Zur Information reicht das, für Erkenntnistiefe und Empfindungsreichtum kaum. Es wird ein möglicherweise sogar befruchtende Nebeneinander geben, geben müssen. Das betrifft auch unser Fach – das kritische. Da purzelt allerlei durch und aus dem Netz. Aber wie schnell ist diese Art verrauscht – am und auch im Ohr vorbei. Da gibt es jetzt sogar eine tägliche Nachtkritik. Man rühmt deren Geschwindigkeit, doch wozu?

Kunst allgemein und Bühnenkunst im besonderen waren noch nie ein Freund von Schnelligkeit – und wo sie Bindungen eingehen, sind diese danach. Man merkt deutlich, wie da unter bloßen Eindrücken geredet, mit der heißen Nadel gestrickt wird und Wertmaßstäbe verloren gehen. Geschmäcklerei! Da wird sogar gegengeredet von Beteiligten – o weh! Dieser Ge- und Mißbrauch geht sogar in die Musik hinein, und in Abgehört, wo CDs besprochen werden, vermeint man in Waldis Club zu sein, wo Fußball nicht gespielt, sondern darüber geredet wird, oder auch bei einer Werbefirma. Es geht sogar die Rede, daß sich Bühnen bereits selbst solche Kritiken oder Kritiker kaufen. Hier setze ich ein entschiedenes: Nein! Kunstkritik sollte sich so wenig wie möglich Marktgesetzen unterwerfen.

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Nun zu Einzelnachrichten, die mich im Berichtszeitraum bewegten. Darunter traurige wie der Tod Ivan Nagels. Das war ein Mann, vor dem ich mich gern verneige – vor dem Ungarn, der so gut deutsch sprach und in dieser Sprache gestaltete, dem verfolgten Juden, der seine eigene Kultur bis zum Talmud gut kannte, dem Theatermacher, unter dessen Leitung das Schauspielhaus Hamburg wieder gut war, dem Gelehrten und Bücherschreiber (etwa das große Mozart-Buch), dem nicht nur Theaterpersonen wie Castorf, der ihn als »letzten Intellektuellen« unter Theaterleuten bezeichnete, sondern dem auch die Dichterin Elfriede Jelinek gute Worte nachsagte: »Ein Fremder, der gekämpft hat, kein Fremder mehr sein zu müssen.« Indes trugen ihn mehrheitlich doch seine Theaterleute auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin zu Grabe. Nagel liegt nun direkt neben meinem hochverehrten Lehrer Hans Mayer.

Einem anderen Literatur- und Theatermann können wir wenigstens gratulieren, müssen keine Trauerworte sagen: Rolf Schneider wurde im April achtzig Jahre alt. Der DDR-kritische Autor war in der DDR geblieben, konnte ausreisen und schrieb – neben Prosa – vor allem zahlreiche, mitunter vielgespielte Theaterstücke und Hörspiele, von denen ich wenigstens einige nennen möchte: das an Gorki-Vorbildern geschulte »Godefroy« (1962), »Prozeß Richard Waverley« (Uraufführung 1963 im Deutschen Theater), worin er Story und Problem des Atombomben-Piloten von Hiroshima, des Air-Force-Majors Claude Robert Eatherly, in Form eines Prozeß-Stücks behandelt hat; »prozeß in nürnberg« (Uraufführung 1967 im DT) sowie das Fragment »Die Geschichte vom Moischele« (1970, leider nicht aufgeführt) in der Tradition des jüdischen Volksstücks. Als deutscher Dramatiker des 20. Jahrhunderts wird er kaum im Bühnen-Repertoire bleiben, doch in der Literatur- und Theatergeschichte Bestand haben.

Oper ist zwar nicht mein eigentliches Feld, doch sind Grenzen oft fließend, von den Genres her gesehen, von den Akteuren. So eine ist die Diva Marta Eggerth, die ebenfalls im April Geburtstag hatte, den 100., den sie im Exil- und späteren Heimatort New York verbracht hat. Ihr wichtigstes Metier war die Operette, auf der Bühne wie im Film; einige Titel: »Trara um Liebe« (1931), »Kaiserwalzer« (1932), »Die Blue von Hawaii« (1933, letzter Auftritt in Berlin), »Die Czardasfürstin« (1934), »Das Land des Lächelns« (1952), »Frühling in Berlin« (1957). Sie unterrichtete, trat 1998 in der Serie Tatort als sie selbst auf.
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Da wir just in diesem Genre sind, mache ich einen Gang zum Heimathafen Neukölln und zwar zu einer Revue. Das Libretto ist vom Dramatiker Georg Kaiser und heißt »Zwei Krawatten« (1929), mit der nunmehr erheblich verrockten Musik von Mischa Spoliansky, mit einer Showband. Vor Jahrzehnten wurde das Stück im Berliner Deutschen Theater (DT) mit Jubelerfolg gespielt. Der Magnet hieß damals Dieter Mann, den man noch nie vorher in einer Frack-Rolle gesehen hatte; doch er konnte ihn vollendet tragen, hier als Kellner Jean. Noch früher hieß der Magnet Marlene Dietrich. Nun spielen Bärbel Bolle (früher DT) die amerikanische Millionärin und Vlad Chiriac, inszeniert hat Andreas Herz. Der Kellner kennt die feine Welt, er bedient sie und träumt nun von einer solchen besseren Welt für sich, es treibt ihn bis in die USA. Das Ganze endet ziemlich traurig, aber ernsthaft: Das »bessere Leben« ist das einer Menschwerdung, zu einem besseren Menschenbild hinter der kapitalistischen Fassade, die in dieser Darstellung ziemlich rau als Berliner Realität getroffen ist. Im Grunde war das schon mehr als Revue, schon kritisches Zeittheater mit freilich ziemlich grobem Gestus.
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Was gibt es noch Neues, was man nicht nur über Spaziergänge erfährt? Zunächst Bauverschiebungen, und wir meinen damit nicht nur den Flughafen im Südosten der Hauptstadt. Viel näher steht uns der Neubau der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Seit 15 Jahren plant und plant man, aber das für die Chausseestraße vorgesehene Gebäude (endlich den Bühnen nahe und nicht den Weiden in Oberschön) ist noch immer nur Papier. Da ist Geld gestrichen worden (Kostensteigerungen von 1,8 Millionen – wie bescheiden angesichts der vielen sonstigen Prestige-Objekte!), und der Regierende, der selbst gern ins Theater geht und das Projekt sogar einmal zur Chefsache erklärt hatte, schweigt. Die Studenten haben protestiert, ein Flugblatt liegt vor mir. Nun soll die Hochschule wohl doch gebaut werden – ohne Mensa.

Die Staatsoper wird nach neuesten Verlautbarungen erst im Herbst 1015 öffnen, und da erreichen die Kosten ganz andere Dimensionen. 242 Millionen Gesamtkosten, davon 200 Millionen vom Bund. Schlauerweise hat man einen Reservefonds über 18 Millionen angelegt, aus dem nun schon bescheidene sechs entnommen werden müssen. Der Grund: In 17 Meter Tiefe sind Holzfundamente in Gestalt von Kiefernpfählen entdeckt worden. Konnte man das nicht schon früher wissen? Wie man da ein Spitzenensemble halten kann, ist mir trotz Schillertheater-Ersatz ein Rätsel! Unser großer Generalmusikdirektor machte jüngst in einem Presse-Interview einen gelassenen Eindruck ob dieses Zustandes.
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Wie die Staatsoper nun unweit vom Reuterplatz arbeitet, hat den Spaziergänger trotz seines langen Rückweges doch einmal interessiert. An einem sehr von ihm geschätzten Werk: »Lulu« nach Frank Wedekind »Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora«: als Oper von Alban Berg. Ich machte mir die Mühe des Weges um des selten gespielten, auch immer wieder etwas veränderten Werkes willen, weil mich beschäftigt, was unsere bedeutenden Schauspielregisseure so machen. Auch Andrea Breth inszeniert nun Oper. Und Daniel Barenboim dirigiert, die neue Sopran-Entdeckung Mojca Erdmann singt die anstrengende Titelpartie. Bergs Dramaturgie ist nicht einfach, Breth hat sie noch schwerer gemacht: Zu dem instrumentalen Zwischenspiel hatte Berg einen Film gefordert, worin gezeigt werden sollte, wie Lulu nach dem Mord verhaftet und dann wieder befreit wird. In Breths Inszenierung karrt Jack the Ripper etliche tote Lulus weg. Das erscheint mir sehr vergröbert. Auch die Kreislauf-Metapher der ewig gleichen Mörder-Männer hat sie nicht abwandeln können, eher plump verdeutlicht – die gleichen Männer haben alle gleich grauschwarze Mäntel. Und die vervielfachten Lulus tragen alle die fast gleichen Kleidchen in der Art von Luxuskindern. Nun sollte man nicht vergessen, daß diese Oper ursprünglich ein Fragment war und erst durch den Wiener Friedrich Cerha 1979 mit einem nachgestalteten dritten Akt ein Finale bekommen hat. Aber darin fehlt auch wieder etwas, wurde weggelassen: der Prolog des Tierbändigers, das Paris-Bild, und schließlich hat David Robert Coleman einiges für im Jazz vorkommende Instrumente (gedämpfte Trompeten, Marimbaphon) umkomponiert. Wozu soll das gut sein? »Lulu« ist dramaturgisch schwächer, mithin langweiliger geworden. Allmählich geht das schönste Erbe in einer barbarischen Welt dahin. Selbst, wenn es schon »modern« ist! Wenn große Kunstwerke nachahmender Mittelmäßigkeit ausgesetzt werden. Niemand wird einen Autor oder Komponisten daran hindern, einen neuen Ödipus oder eine neue Lulu hervorzubringen. Aber älteren Meisterwerken ständig neue Flicken anzusetzen oder Organe zu entnehmen – was soll das bringen? Regisseure sind eben keine Dichter oder Tonsetzer. Shakespeare, die deutschen Klassiker oder Brecht waren als Doppelgenies Ausnahmen, und selbst die waren vorsichtig. Die sängerischen Leistungen mit der oben beschriebenen Erdmann lagen in gutem Mittelmaß, ausgenommen die ausgezeichnete und noble Deborah Polaski als Gräfin Geschwitz – freilich auch die interessanteste Rollenfigur!
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Zweimal war ich noch kurz in der Komischen Oper, einst in Felsensteins und Kupfers Zeiten eine der aufregenden Musiktheater-Bühnen des humanen Erdkreises! Dann der Abfall in und unter den Durchschnitt! Nun mal wieder im ungeliebten »Freischütz« und dem Geniestreich des jungen Mozart »Die Entführung aus dem Serail«. Webers Schaueroper – langehin als deutsche Nationaloper gefeiert – ist ein Gruselstück. Nimmt man sie so ernst wie der Katalane Calixto Bieito, dann ist sie freilich ein sehr deutsches Stück im negativen Sinn, denn diese grauenvolle Handlung um Männerwahn (Probeschießen), Frauen-Ohnmacht (Gesang vom Jungfernkranz) und Waldorgien, die sich Friedrich Kind ausgedacht hatte, nimmt gar vieles an Deutschem in Geschichte und Geschick vorweg. Das war recht realistisches Musiktheater an einem Ort, von dem diese Erneuerung der Opern-Regie einst ausgegangen, doch zeitweilig nicht mehr beherrscht worden ist. Rebecca Ringst als Szenografin ließ einen Wald wachsen und zerstörend wirken, und Patrick Lange tat das Seine in der Musik, so daß nichts niedlich oder rührend wirken konnte. Da konnte man schon den Weg der Musik zu Wagner hören. Und die Sänger brachten das als Ensemble über die Rampe – Max war ein hilfloser Mensch, Kaspar ein böser Täter, und Ina Kringelborn sang eine herzzerreißende, lebensbedrohte Agathe. Nach dieser Deutung hatte auch ich wieder ein halbwegs gutes Verhältnis zu diesem Werk!

Das Frauenthema scheint Calixto Bieito besonders zu bewegen, und so legte er dem Mozartschen »Singspiel in drei Aufzügen – Die Entführung aus dem Serail« fast die gleichen Bandagen an. Nun hat dieses Haus seit Felsenstein eine gute Hand bei Mozart, genauer: bei dessen szenischer Neuerung. Bieito verlegte die Handlung in ein Bordell, spannte die Beziehungen der Figuren aufs brutalste an und erregte damit auch viel Unmut im Publikum. Ganz gewiß stellten Christoph Friedrich Bretzner und Wolfgang Amadeus Mozart mehr Mißverhältnisse in Geschlechterbeziehungen dar als Harmonie, trotz der versöhnlichen Schlüsse. Doch blieb die Balance; die hat nun der Regisseur zerstört. Mozarts Musik enthält doch auch Schönheit und Versöhnung, und die sind hin. Kunstwerke klagen nicht nur an, sondern setzen auch Gegenentwürfe. Einen Kunstfortschritt in Richtung Opernarbeit sehe ich in dieser Produktion nicht. Bei solchen Entgleisungen sollte sich die musikalische Seite des Ensembles stärker machen, auch die Gegenseite von Destruktion zu zeigen. Beim Salzburger Großmeister liegt es doch in der Partitur!
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Ein weiteres Frauenthema kam mit dem Gastspiel des Petersburger Eifman-Balletts auf die Bühne des Schiller-Theaters: »Anna Karenina« nach Lew Tolstoi Ich kann mich kurzfassen: Auch eine berühmte Truppe unter einem Spitzenchoreografen wie Boris Eifman kann sich vergreifen. Von Stoffen derartiger Größe der Weltliteratur sollte man im Ballett die Füße lassen. »Anna Karenina« ist keine bloße Beischlaf- oder Dreiecks-Story, doch nur das kam von der Bühne herunter – langweilig, trotz dreier guter Tänzer, freilich ohne Malakhow.